Gerald Pirner, Über das Dunkel, 2022 © Gerald Pirner

Nights and days in San Francisco

Ein Bericht zur Arbeit an der Performance "Into The Dark"

Dunkelheit als zentrale Aufgabe einer Performance sollte nicht allein dem finsteren Grund unserer Ängste nachgehen, obschon Dunkelheit als metaphysische Erfahrung sich immer wieder in der Erarbeitung der Performance aufdrängen wird. In Into The Dark wird diese Frage dadurch auch eine differenzierte Gestalt annehmen, indem die Performer*innen ihre ganz persönlichen Fragen und Antworten zu Dunkelheit wiedergeben.

Gravity mit Jess Curtis schaffen es, die Performance zu einer performativen Erfahrung werden zu lassen, die den Prozess ihrer Erarbeitung fortwährend präsent hält. In einem absoluten Dunkel, in das hinein zu Beginn der Aufführung geführt werden muss, werden alle Zuschauer*innen einzeln hineingeführt.

Ein Raum erwartet das Publikum. Ein Raum wird zum ersten Performer des Abends, in welchem sich niemand mehr ohne fremde Hilfe bewegen kann.

Ein Raum wird in der Dunkelheit nackt, weil kein Bild ihn mehr verhüllt.

Ein Raum kann nur verlassen werden, wenn man ein Bild von ihm hat, das einen Weg aus ihm hinaus weist.

Bildlos ist der Raum nicht mehr so einfach zu verlassen.

Der Raum muss als Ganzes ertastet werden, wird so aber überhaupt erst zu einer körperlichen Erfahrung, die nur ohne Bild vom Raum sich dem Raum öffnet.

Nicht nur aber werden hier die einzelnen Personen mit dieser Erfahrung konfrontiert. Sie werden mit einem Kollektiv konfrontiert, das mit der Performance beginnt sich als ein Gesamt zu spüren, zu fühlen, sich zu hören, aufeinander zu hören. Die Dunkelheit bringt die einzelnen Personen dazu, sich im Verlauf der Performance mehr und mehr als Kollektiv zu empfinden.

Die einzelnen Personen werden sich ihrer Vereinzelung erst im bildlosen Raum bewusst. Nicht zu sehen heißt, die anderen nicht zu sehen.

Nicht zu sehen heißt die anderen Personen mit anderen Sinnen erfahren zu müssen, und erfahren heißt ganz hautnah eine gemeinsame Situation erfahren, die auch ein gemeinsames Empfinden hervorruft.

Unterstützt von einem Bodenleitsystem aus Seilen betritt ein blinder Performer den so in vollkommener Dunkelheit gehaltenen Raum, um das Publikum mit Geräuschen zu konfrontieren, die es nicht unmittelbar erkennt. Selten sieht das Publikum bei Into The Dark sich selbst und das Geschehen. Gravity führt es durch Poesie aus Bewegung, Geräusch, Gesang und Stimme.

In einem einmaligen Prozess der Erarbeitung dieser Performance, setzt Gravity neue Maßstäbe in der Zusammenarbeit von blinden, sehbehinderten und sehenden Performer*innen: Die gemeinsame Erfahrung von Dunkelheit wird von allen Performer*innen als Bildlosigkeit erfahren, die so dem Publikum erst vermittelt wird. Gravity wird zu einem blind sich bewegenden Gesamtkörper.

Dunkelheit ist für den blinden Performer eine ganz alltägliche Erfahrung der visuellen Bildlosigkeit. Plötzlich aller visuellen Bilder beraubt, werden zu Beginn auch die sehenden Performer*innen zu einer vollkommen neuartigen Orientierung gezwungen, die sich ebenfalls an dem Leitsystem orientieren muss, die sich auf Hören und Spüren besinnen muss, um im Raum nicht verloren zu gehen. So wird bereits der Beginn des Stückes, das Hineinführen des Publikums zu seinen Plätzen zu einer Schulung des Vertrauens und einer gegenseitigen Haltung von Respekt und Rücksichtnahme, die die Grundstimmung des ganzen Abends abgeben wird. Dergestalt entwickelt sich eine ganz besondere Beziehung zwischen Performer*innen und Publikum.

Das Licht, zurückerobert vom blinden Performer in der fotografischen Technik des Lightpaintings führt zu einer ganz eigenen Vorstellung von Berührung, die die Beziehung von Wort, Körper und Tasten in der Ausleuchtung einer Körperskulptur verdichtet.

Im Cane-Duett des blinden Performers und der sehbehinderten Performerin, machen diese die Geräusche ihrer Stöcke und ihrer Bewegungen hörbar, während sie sich annähern sich abstoßen und gegenseitig über die Bühne jagen. Diese Abfolge von Geräuschen muss das sehende Publikum in seinem Innern zu eigenen Bildern machen. Unterstützt werden diese Bilder von einer Audiodeskriptorin, die das Geschehen beschreibt.

Aus der performativen Bewegung heraus stellt sich die Frage, woher kommen unsere Bilder, unsere äußeren und unsere inneren Bilder und wie sind sie ineinander verwoben, wie stützen sie sich womöglich gegenseitig. Ist unser Sehnerv tatsächlich das Zentrum unserer Sehfähigkeit, die weit über den Sehnerv hinausgeht.

In zwei Dreiecken von denen die eine von einer sehbehinderten Performerin geführt wird, der zwei sehende Tänzerinnen folgen, und die andere von einem blinden Performer, dem wiederum zwei Performer folgen, werden blinde Bewegungen von sehenden Performer*innen gefolgt, die wiederum von der sehbehinderten und blinden Performer*in gespürt werden. Der blinde Performer tanzt und spürt wie seine Bewegungen die Bewegungen der sehenden Performer hinter ihm tragen.

Spüren und gespürt werden bringen ein Dreieck von Bewegungen hervor, das von einer gegenseitigen Kraft zusammengehalten wird.

Gerald Pirner, Portrait Rachael, 2022 © Gerald Pirner