Gravity sucht einen Weg hinein in das Dunkel
oder: Wie die Performance "Into The Dark" ihren Anfang sucht
Eine Idee sucht sich ihren Körper und findet zwei Sehende und einen Blinden, die ihr dabei behilflich sind. Eine Idee dekliniert sich nicht mehr allein in Worten durch, spielt sich hinein in mehrere Körper, bringt sie zu Ausdruck und lässt sie darin mit einander kommunizieren: bringt sie zum tanzen.
Ein ganzer Ozean und seine Bewohner in eine Hand getanzt auf Fingern und genau den Moment gewählt, wo das Wasser die dargestellten Bewegungen wieder in sich verschlingt und sie in ihm verschwinden. Rachael Dichter lässt die Küste der Bay Area in die Hand des Blinden sich bergen, um getupfte Fische von derselben Hand wieder in einer anderen Bewegung ihrer Hand einzuholen. Sherwood Chen schaut in die Landschaft, sieht die Wolken vorüberziehen und übersetzt dieses gesehene Bild in eine Choreografie seiner Finger auf der Hand des Blinden. In Fingern auf Hand skizierte Bilder von der bildlosen Wahrnehmung des Blinden erfahren als Körperbilder in Bewegung, eine Einstimmung auf das getanzte Bild in seiner Bildlosigkeit.
Die Arbeit der drei im Raum: Sie übersehen die "Beine des Elefanten", rennen gegen sie, finden sich im Trapez ihrer Form wieder und lassen sich an ihren Füßen zu ganz anderen Formen aufbrechen. Raum hat ein Bild, das Sehende davor schützt, gegen seine Wände zu stoßen. Blinde stoßen gegen sie, müssen gegen sie stoßen, um den Raum zu verstehen. In ihren Bewegungen kommt der Raum in sie hinein. Indem Raum bildlos in die Blinden hinein kommt, verliert er sein Bild, ist nur noch Körper der Blinden.
Zuerst waren da vier Säulen, die auf Kopfhöhe mit Yogamatten umwickelt wurden, um die auf den Boden Kissen oder Decken gelegt wurden. Nein, zuerst knallt der Blinder mit der Stirn gegen eine der Holzsäulen und eine Sehende knallt mit dem Fuß gegen die Säule dahinter: Schutz und zugleich Orientierung, nicht nur für den Blinden, auch für all die Sehenden, die sich im Dunkeln erst einmal nicht zurecht finden können, auf die der Blinde mit seinem Stock stößt, nach denen er seinen ausgestreckten Radararm hinstreckt, zu denen er hinfühlt. Dann sind da Kabelstränge, die, auf dem Boden befestigt, von den Säulen wegführen in andere Teile des Raumes, die die Säulen umgehbar machen. Eine taktile Raumstruktur entsteht und gräbt sich in das Körpergedächtnis des Blinden ein: von welchem Punkt des vormals unbekannten und für ihn unsichtbaren Raumes der Blinde nun auch immer in den Raum tritt, er findet auf dem Boden Linien und Flächen wieder, die ihn immer hinein in den Raum, in die zentrale, mit Matten ausgelegte Fläche, zwischen den vier Säulen führen. Der Blinde erhält so eine Beweglichkeit, die es ihm erlaubt, sich einfach drauf los zu bewegen, mit den beiden sehenden Performer*innen zu agieren, mit ihnen in einen körperlichen Dialog zu treten: der Blinde beginnt zu tanzen. Die Erspürung der Bewegung durch die Bewegung der anderen Tänzer*innen. Nicht nur als Pose werden sie ertastet, ihre Bewegung nicht allein durch die Hand erfasst und nicht nur allein in Worten beschreibbar. Eingefasst zwischen den beiden Tänzer*innen bewegt sich der Blinde, indem er die Bewegung der anderen wird. Der Körper des Blinden ist ganz der Körper der sehenden Tänzer*innen. Er wird von der Bewegung durchdrungen während ihre Körper ihn rahmen, ihn formen.
Noch vor aller eigentlichen Performancearbeit, ermöglicht die Körperarbeit von Jess Curtis und Gravity dem Blinden ein bildloses Körpergefühl zu entwickeln, von einem taktil in allen Bewegungen erfassbaren Raum aus, sich und die anderen zu erfahren, ohne in einem jeden Moment zu wissen, wer da gerade berührt oder berührt wird und wo all dies gerade geschieht. Es entsteht ein Bewegungsraum, der tatsächlich kein Bild mehr braucht, um sich in ihm sicher bewegen zu können. Es entsteht ein Raum ohne Aussehen. Ein Raum mit vielen verschiedenen Gesichtern, die sich alle in den Körper des Blinden eingeschrieben haben, um mit ihm zu sprechen, ihn anzusprechen, mit ihm zu spielen.
Was ist Dunkel, was Licht. Zwei Fragen, deren Beantwortung im Gespräch zwischen den Performer*innen so vorbereitet wird, dass der Raum selbst und seine ertastbare Struktur körperliche Antworten ohne ein Bild ermöglicht. Alle sollen im Dunkel ihr Außenbild verlieren, um im Inneren Bilder zu entwickeln, die wie Sonare arbeiten können. „Macht die Arme zu einem Radar“, so Jess Curtis an die Performer*innen. Der Blinde tastet sich mit seinem Stock zwischen den "Beinen des Elefanten" hindurch, die ausgelegten Yogamatten zur Orientierung zwischen ihnen genauso nutzend wie die auf dem Boden verlegten Kabellinien, wie die unterschiedlichen Akustiken des Raumes, die die von den Füßen erspürbare Grundstruktur miteinander verbindet, die Fragen der Füße mit allen Sinnen beantwortend. Ertastetes Glas bestätigt die vorher zu hörende glatte Struktur, ertastete Rauheit von Holz erklärt den akustischen Schatten, der an einem anderen Ort des Raumes vorüberhuscht. In ihren ganz eigenen Gerüchen kommunizieren die anderen Performer*innen mit dem Blinden und wenn ihn eine Hand berührt, erspürt er nur die Intensität und Richtung der vorübergleitenden Person, allein die zur Hand gehörende Körpergröße: alles aber Merkmale des Bildlosen, auf die er sich in der choreografierten Bewegung einlassen kann.
Der ganze Raum bestätigt sich ihm noch in der Bewegung als eine bildlos nicht differenzierbare Monochromie: eine Wahrnehmung durch seinen Körper als Offenheit, die es ihm ermöglicht Wort und Bild noch einmal anders zu denken. Vom Raum sprechen heißt von nun an von seiner ertanzten Erfahrung zu sprechen, deren Ineinander von Wahrnehmung und Wahrgenommenem im Raum so ineinander übergehen, dass der statische Raum nicht mehr ohne die Bewegung des Körpers denkbar ist. Der Raum will nur als ertanzter Raum verstehbar erscheinen. Vielleicht liegt hierin der Beginn der Bewegung des Körpers als Übersetzung des Raumes in eine Körpersprache des Wissens um Begehbarkeit.
Zwei Bilder solle der Blinde im Kopf entwickeln, so Jess Curtis: ein Wissen um eben diesen Raum und ein Wissen um das ästhetische Bild der Bewegung in diesem Raum. Ein ästhetisches Bild also, das eben nicht ein visuelles Bild meint, sondern ein inneres Körperbild, das jetzt nach außen "gesehen" wird. Spüren und Fühlen nach außen sich hin zu anderen tastend: selbst zur Imagination der eigenen Bewegung werden, eine bewusste Beobachtung der eigenen Schönheit für die anderen aufbereitend.
Die Dunkelheit stülpt sich durch das innere Dunkel in die Sichtbarkeit der anderen hinein. Den Anfang eröffnet das Wort, das Fragmente der Erfahrung verbindet. Dialog ist das Moment, das Bruchstücke zueinander bringt, ohne ihnen die Illusion zu lassen, Ganzheit erwirken zu können. Dialog ist das Fundament der Imagination die Fragmente als Fragmente bestehen lassen kann.
Gravity auf Ponderosa heißt für den Blinden, noch blinder zu werden, um noch genauer sehen zu können. Gravity auf Ponderosa heißt, in einer Performance das Dunkel auch für Sehende so aufzubereiten, dass es auch für sie ein Punkt der Bildlosigkeit werden kann, von dem aus sich ihr Sehen noch einmal ganz anders entwickeln wird. Gravity auf Ponderosa heißt für den Blinden, den Prozess seiner Raumwerdung noch weiter treiben zu können.