Gerald Pirner, Abstraktion I, 2021 © Gerald Pirner

Getanzte Aufforderung zur Utopielosigkeit

Zu YESTER:NOW von Moritz Ostruschnjak am Gasteig in München, begleitet von einer Audiodeskription von Simone Detig und einem Audiodeskriptions-Workshop von Jess Curtis und dem Autor

In seiner berühmt gewordenen Erinnerung an eine Madelaine lässt Marcelle Proust seinen Helden Marcelle durch ein Stück Kuchen in Verbindung mit Lindenblütentee das Bild seiner Vergangenheit aufsteigen, ein sinnliches Erlebnis also, das unwillkürlich ein vergangenes erlebtes Bild im Protagonisten hervorruft. Die Körpersinne rufen also Bilder im Kopf eines Menschen hervor, die vorher von den Augen gesehen wurden. Was aber, wenn Gesehenes beschrieben wird, um in der Beschreibung in blinden wie sehenden Körpern Bewegung und Tanz leibhaft werden zu lassen, sich einfleischen zu lassen.

Der vorliegende Text geht vom Gedächtnis als abgelegte Bruchstücke im Körper aus, die im Körper sich festsetzen, um in ihrem Aufrufen eine ganze Reihe von Bildern und Bildkomplexen zusammenzubringen. Das gesehene Bild, das visuelle wie das von Erblindeten erinnerte Bild, wäre also nur ein Marker, hinter dem sich eine ganze Reihe von inneren Bildern verstecken, die ein Bild aber auch fühlbar und spürbar machen. Der Anfang von YESTER:NOW zeigte so das Erstehen von vermeintlichen Ganzheiten im Kopf der Zuschauer*innen und durch die Audiodeskription der Zuhörer*innen auf, zeigte aber auch ihre Fragilität, aber auch ihre Spielbarkeit und Tanzbarkeit. Dem Raum wird so seine Sinnlichkeit zurückgegeben, er wird im Tanz zu etwas Spürbarem, etwas Hörbarem, etwas Fühlbarem und Riechbarem, das weit über sein Bild und das der Bewegung hinausgeht.

Gedächtnis wird zuallererst nicht als Reflektion des Geistes sondern eher als eine des Körpers gesehen, und gesehen als ein unwillkürlicher Akt, der der Erinnerung eine Bildhaftigkeit zuspricht. Den Körper und sein Gedächtnis als etwas sehen, das angesprochen werden kann und sogar angesprochen werden muss, könnte als Grundgedanke von Moritz Ostruschnjak und seiner Arbeit YESTER:NOW gesehen werden. Was aber spricht den Körper mehr an, als seine Bewegung, Bewegung, die Bilder hervorruft.

Dass durch Sprache von Erblindeten wie von Sehenden Bilder des Erlebten hervorgerufen werden können, könnte als erstes Zeichen der Nähe der inneren Bilder von Erblindeten wie der visuellen Bildern von Sehenden gesehen werden. Es könnte darin aber auch die Möglichkeit gesehen werden, dass in einer Beschreibung eines Bildes oder einer Bewegung blinde wie sehende Körper angesprochen werden können, die in ihrem Austausch über das Erlebte sich nicht nur von Beschreibungen als Dienstleistung für Blinde leiten lassen, die ihre unterschiedlichen Weisen der Wahrnehmung hinterfragen, Sehende, die bereit sind, Sehgewohnheiten in Frage zu stellen, um durch den Tanz noch zu ganz anderen Bildern kommen zu können, Bilder, die der ganze Körper sieht, die von allen Sinnen gesehen werden könnten. Moritz Ostruschnjak eröffnet mit YESTER:NOW eine Perspektive nicht nur Bilder zu tanzen, sondern im Tanz das Gedächtnis als Körpergedächtnis neu zu denken.

Gedächtnis kann aber auch als etwas verstanden werden, das von Geräusch und als Abkömmling von Geräusch, von Musik ausgeht, das wie auf Befehl angeschaltet wird, das in ein ästhetisches Konzept eingebunden ist, und all diese Momente für eine künstlerische Arbeit nutzt. Marcel Prousts unwillkürliche Erinnerung würde nun willkürlich eingesetzt werden und das geradezu auf Pfiff, auf An-Pfiff sozusagen.

Die Zugänglichmachung von Inhalten, die Blinden nicht unmittelbar zugänglich sind, ist eine Selbstverständlichkeit. Die Audiodeskription sollte allerdings über eine Dienstleistung für Blinde und Sehbehinderte hinausgehen, sollte einen Beitrag leisten für die Infragestellung von Wahrnehmungsgewohnheiten und nicht nur von Sehgewohnheiten von Sehenden. Das Sehen aus dem Blickwinkel der Blinden neu entwickeln, um dadurch zu einer Körperwerdung des Sehens zu gelangen, die Erfahrung der Blinden nutzend, die durch den Verlust der Augen dazu gezwungen sind, den ganzen Körper zum Auge zu machen: nicht nur innere Bilder durch andere Sinne hervorgerufen bekommen, sondern dieses andere Sehen nutzen, um vom Spüren und Fühlen her ein neues Sehen zu entwickeln, ein Blindes Sehen sozusagen. Die Audiodeskription würde so zu einer neuen Sicht beitragen können, die auch für Sehende einen Mehrwert bedeuten würde, eine Art körperliches Schauen als Alternative zur bloßen Bilderflut, einen meditativen Aspekt des Sehens als aus dem Körper und all seinen Sinnen entspringende Sicht.

Moritz Ostruschnjak könnte für ein solches ganz anderes Sehen aus einer Kritik der Bilder heraus hierfür mit YESTER:NOW eine Choreografie für den Neuanfang der ganz anderen Sicht aus der Notwendigkeit der Erblindung heraus geliefert haben.

Körperzerfall aus der Bildlosigkeit

Ein schriller Pfiff und Gekrabbel im vollkommen leeren Zuschauer*innenraum des Gasteig zu hören. Die Stimme der Simone Detig aus dem Kopfhörer, die das Auftauchen von Körperteilen beschreibt: „…ein Kopf, ein Arm, ein anderer Kopf ganz anderswo, dann ein Bein, ein Arm“ und der Blick wartet, sucht nach solchen Parzellierungen und mit ihm der Blinde mit dem Ohr an der Stimme.

Die Geräusche von Füßen und Händen und dass auch Hände als Gekrabbel im Spiel sind, es sich also nicht allein um Getrappel handelt, hört der Blinde am Unterschied, wie die Körperteile auf den Boden gesetzt werden. Das Bild, das die Deskriptorin liefert wird vom blinden Ohr also bereits aufgebrochen oder imaginär ergänzt, die erscheinenden Köpfe erhalten Körperteile, werden zu Kopffüßlern, zu Handfüßlerinnen.

In Synthesizerakkordabfolgen, die stark an die Musik von Wendy Carlos in A Clockwork Orange von Stanley Kubrick erinnern und nach Paukenschlägen zu einem brachialen Gekreische eines Shouters einer Death Metal Combo werden, dessen Stimme allerdings sich nicht in mystischem Kehlkopfdunkel suhlt, die vom ersten Geräusch aus ihrer Kehle nichts anderes als gegenwärtig hautnahe Gewalttätigkeit spiegelt, treten Köpfe oder Körperteile aus den Stuhlreihen des Gasteig kurz auf, um sofort wieder zu verschwinden, so kurz, dass der Blinde, der die Audiodeskription von Simone Detig hört, den Eindruck hat, akustisch mit den Bestandteilen eines Splatterfilmes beworfen zu werden.

Erneut ein Pfiff und der Zuschauer*innenraum wird von Körperteilen mehr und mehr in Beschlag genommen, erscheint im Kopf des Blinden wie von einer Armee von Körperteilen besetzt, obschon er weiß, dass es sich bei den Tänzer*innen von Moritz Ostruschnjak lediglich um sechs Tänzer*innen handelt: Dhélé Agbetou, Guido Badalamenti, Daniel Conant, Quindell Orton, Roberto Provenzano, Magdalena Agata Wójcik

Bei der Haptic-Access-Tour begingen Blinde und Sehbehinderte den Raum unter Leitung von Simone Detig und dem Autor, erstiegen die Stufen des Konzertsaales mit seinem stoffbezogenen Gestühl, um auf Brüstungen hingewiesen zu werden, die den Saal strukturieren, ihn unterteilen und die in der Performance überstiegen werden, hinter denen die Tänzer*innen Teile ihrer Körper verbergen, hinter denen sie sich verstecken, die sie überspringen, auf denen sie balancieren, die sie als Sockel nutzen, um auf ihnen zu Statuen zu werden. Der Raum wird in seinen Trennungen und Aufteilungen, Strukturierungen getanzt und dabei überschritten. Die Austauschbarkeit von Inhalten und Bildern wird analog zur Tanzbarkeit zu etwas, was verändert werden kann: die Strukturmomente werden aufgelöst, die Brüstungen übertanzt, gegen Wände wird gestoßen, ihre trennende Funktion hervorgehoben aber auch überschritten.

In der letzten Aufführung vor seiner längeren Schließung wegen Renovierungsarbeiten wird von 6 Tänzer*innen der Gasteig tatsächlich in Gänze besetzt und seine inneren Raumaufteilungen in Tanz überwunden, ein körperliches Bild der Aufhebung nicht nur von Raumbegrenzungen, ein Bild das auch im Titel auf eine Gleichzeitigkeit von Geschehen und Geschichte verweist, aber auch auf die Durchlässigkeit von Denken und Gedanken, auf die Austauschbarkeit von ideologischen Kategorien und Kriterien unter der Macht von Gewalt.

Da tauchen Parolen auf, Logos und Labels, da werden moralische Bewertungen zu reinen Statements, zu Konstatierungen wie: „Wir sind die Guten!“ und das, nachdem auf Video Flugschauen der Air Force, der US-Luftwaffe am Himmel ihre in blau rot weiß gefärbten Kondensstreifen hinterlassen und ein asiatisch aussehender Mann mit zwei Revolvern sich auf eine Demonstration seiner Fertigkeiten als Revolverheld vorzubereiten scheint.

Immer wieder Pfiffe, in deren Verlauf das Getrippel sich zu Bewegungsabläufen zusammensetzt, um erneut Bilder hervorzubringen, hörbar eine Veränderung der akustischen Szene abbildend, die hörbar das Entstehen von Bewegungsabläufen demonstriert. Der Blinde hört dem Geräusch zu, wie es sich ereignet, um sich weiter zu formen, wie es sich zu seiner Abfolge sammelt, auf eine ganz andere Weise in einem Bild zu sich zurückkommend, in ihm sich als Abfolge hervorbringend, zu seinem Ursprung, dem ersten Eindruck im Bild als Inschrift des Gehörten zurückkommend, um im Gedächtnis Zeugnis eines Geschehens abzulegen, das von einem Bild ausgeht und in seinem Echo in den Geräuschen des Raumes sich körperlich ausfüllt, beschrieben in seinem Körper sich verkörpernd.

Das Getrippel wird zu einer schnellen Folge von Schritten, auch das Geräusch der Schritte verändert sich, die Sohlen der Schuhe, die nach der Gummisohle der Turnschuhe klingen, auf die von den Tänzer*innen bei der Haptic-Access-Tour hingewiesen wurde, und wenn das Geräusch vorgestellt ist, kann es in einer Choreografie auch von Blinden im Zusammenhang verstanden werden, in mehreren Varianten von Stepptänzen oder gesteppten Bewegungsabläufen, die sich unterscheiden in der Art in der die Gummisohlen aufsetzen. Streifen über Stoff und dann die Gummisohle, die den Schritt abbremst, ihn um einen Bruchteil verlängert, ihn formt oder im Ohr des Blinden wie geformt erscheinen lässt, schräg aufgesetzt oder flach, gestampft oder auf Zehenspitzen, fersenbetont oder geschlichen.

Worte der Audiodeskription, die das Gehörte zusammenfassen, über das, das Gehörte selbst aber immer hinausgeht, um es in Frage zu stellen, ihm zu widersprechen, wie der Begriff immer vom Bezeichneten überstiegen wird. Aus der Sprache und der Höreindrücke der Performance, angereichert durch die Stimme der Simone Detig, die sicher wie ein Handlauf durch die akustische Kulisse führt, einen Gegenraum bietend, in welchem der Blinde seine Bilder anreichert, in welchem sie ansetzen Fleisch werden zu können, immer aber auch zugleich irritiert vom gesprochenen Wort, das in den gehörten Geräuschen nie ganz seine Erfüllung finden kann, denen es sich annähert, um von ihm aus sich mit dem Geräusch im Körpergedächtnis einem vorläufigen inneren Bild zu ergeben, dem die folgenden Geräusche bereits widersprechen, wo sie von der Audiodeskription zugeordnet werden: ein dialektischer Prozess, der sich immer weiter vorantreibt, ohne zu einer endgültigen Synthese gelangen zu können.

Durch die Audiodeskription wird die Veränderung der Geräusche sichtbar, können die Bewegungsgeräusche bestimmten Tänzer*innen zugeschrieben werden. Das Fehlen eines Bildes lässt im Blinden keine Synthese zu einem Ganzen aufkommen, lässt die Ereignisse in ihrer Sinnlichkeit nebeneinander stehen, lässt sie ohne gesprochenes Wort syntheselos wie voneinander gelöste Erscheinungen als fragmentierte Körperäußerungen nebeneinander aufkommen. Mit einem für Außengeräusche offenen Kopfhörer kommen im Ohr der Blinden beide Welten - die Welt der Beschreibung und des Tanzes und seiner Geräusche - so zusammen, dass sie sich zugleich gegenseitig ergänzen, erklären und widersprechen, da das Gehörte eben immer ein Prozess ist, ein Tanzprozess ist, der immer nur einen Riss in die Welt hinein öffnet, um ein fragiles, kurzzeitig spürbares Bild aufscheinen zu lassen. In der Audiodeskription sammeln sich die derart bildlos verstreuten sinnlichen Ereignisse, um im Gesprochenen ein inneres blindes Bild zu finden.

Langsam klingt die Musik in einer weichen harmonischen Klangabfolge aus und auch die Bewegungen kommen zum Stillstand, hörbar schnaufend die Tänzer*innen.

Gesammelt etwa in der Mitte, durchgehen je zwei Tänzerinnen parallel in unterschiedlichen Reihen die Stühle, um am Ende gegen die Absperrungen zu prallen. Das Licht das den ganzen und vollkommen leeren Raum ausleuchtet, wird dunkler, um sich auf der Mitte zu konzentrieren. Von rechts links und wieder zurück rennen die Tänzer*innen parallel durch die Reihen, springen an den Wänden hoch.

Während in einer Art Vorspiel die Grenzen übersprungen wurden, nachdem sich Körperteile überhaupt erst zu Körpern zusammengefunden hatten, um Bewegung eines Körpers werden zu können, finden sich die Tänzer*innen nun in den Regeln des Gestühls und der Brüstungen wieder ein und akzeptieren sie. Sie straucheln dabei noch, rudern mit den Armen wie um Gleichgewicht bemüht und beginnen ihre Kleider auszuziehen. Manche gehen auf allen Vieren und alles löst sich langsam auf.

Während das Licht wieder heller wird und die Tänzerinnen sich anziehen, bewegen sie sich hinunter auf die unterste Ebene, um auf dem Podest, der eigentlichen Bühne zusammenzukommen. Sie beginnen jetzt zum ersten Mal zu interagieren, tanzen zu zweit, zu dritt, bilden Gruppen, um sie wieder zu verlassen und andere Kleingruppen wieder zu bilden. Dem Blinden scheint aus dem Gehörten als wäre es nun die Form, die zu Bewegungen zusammenführt, kleine Posen werden schnell gewechselt, präzise Arbeit der Beine, Wechsel etwa zwischen Marschieren, Steppen und Lässigkeit, so eine Besprechung der Generalprobe für die Audiodeskription am Vortag bei einem Workshop von Jess Curtis mit Simone Detig, den Workshop-Teilnehmer*innen, dem Autor dieses Textes und seiner Assistentin.

Für die Assistentin hatten diese Bewegungen etwas Militärisches an sich aber auch etwas Roboterhaftes, was auch Jess Curtis aufgriff, um die Bewegungen als schnell und präzise, aber auch als eckig zu bezeichnen, was Simone Detig in den Begriff des Abgehackten zusammenfasste. Jess Curtis sah in ihnen etwas Isoliertes und Partikuläres, was dem Blinden in der Audiodeskription auch eben als in den zerteilten Körpern so und wie anfänglich beschrieben erscheinen wollte. Jess Curtis ergänzte aber auch, dass der Begriff des Mechanischen etwas Steifes implizierte und die Tänzer*innen hätten überhaupt nichts Steifes an sich. Die Assistentin spricht von einer Bewegungsflut.

Tanz der Bilder zu ihren Rückseiten hin

Der Unterschied zwischen der ersten Szene im Gegensatz zur zweiten wäre, so Simone Detig, dass die zweite Szene choreografiert ist, tatsächlich getanzt ist. Die Bewegungen werden präzise, werden synchron im Gegensatz zur ersten Szene, wo eher gekrabbelt und gesprungen wird. Später findet diese choreografierte Bewegungsflut in den ineinander übergehenden Bildern des Videos ihre Entsprechung.

Die Bilder der Videos werden aber durch Plakate angekündigt, die im Übergang zur dritten Szene hereingebracht und hochgehalten werden, bevor einer der Tänzer, Dhélé Agbetou, ein roboterhaftes Solo hinlegt. Die Tänzer*innen ziehen sich in das Zuschauer*innengestühl zurück und Dhélé Agbetou bleibt, und bleibt mit einem vollkommen entseelten Ausdruck zurück. Er bewegt sich ganz kleinteilig und präzise dabei. Während er tanzt, poppen im Zuschauer*innenraum einzelne Schilder auf, hinter denen die anderen Tänzer*innen verschwinden. In einem Hip Hop Rhythmus drehen sie sich dann aber auch um, zeigen die Rückseite der Plakate oder lassen sie umgekehrt erscheinen, immer im Rhythmus, immer akzentuiert, immer akzentuierend, Zeichen zeigend oder Parolen, Slogans. Symbole wie „Das Eiserne Kreuz“, oder andere Logos, etwa der Post, des Arbeitsamts, von Tesla, der On-Button, das Apothekerzeichen, das Zeichen von Twitter tauchen auf und sind immer handgemalt und sollen so an Demoplakate und Transparente erinnern.

Als Schablonen von Ideologien erscheinen zudem auf dem Video vermehrt Porträts von Politiker*innen oder einem Politikermörder, Reagan, Nixon, Lee Harvey Oswald, Adenauer, Willie Brand, Honecker und im Gedächtnis bleibt etwa „Fuck the poor“.

„Fuck the poor“ erinnert an den Dead Kennedys Song Kill the Poor, und Dead Kennedys tauchen später auch mit einem anderen jüngeren Song auf, untermalt die Darstellung von Zynismus durch die sarkastische Kritik eines Politpunksongs eines Jello Biafra.

Das politisch Herausfordernde der Performance ist vor allem, dass keine Grenzen präzise gezogen werden, dass nicht gesagt wird, hier genau steht die Performance und das oder das empfiehlt sie als Lösung der gesellschaftlichen Probleme. Der militärisch-industrielle Komplex, wie er über die Leninistischen Vorstellungen der RAF einst analysiert worden war, greift nicht mehr. Die gesamte von diesem Komplex kontrollierte Gesellschaft, die alte Fabrikgesellschaft, erscheint in einem vollkommen umstrukturierten Gesicht, erscheint als Gesellschaft neuen Typs, neuen Bildes und das Diktat des Bildes in dieser Gesellschaft lässt Moritz Ostruschnjak tatsächlich als Durchdringung des ganzen Körpers durch das Bild ertanzen, das das Problem der Macht in einer ganz anderen Fragestellung aufwirft. Macht durchdringt uns alle und die Logos, die Symbole, die da in YESTER:NOW auftauchen, lassen die Durchdringung der ganzen Gesellschaft erkennen.

Daniel Conant kommt auf die Bühne mit einem Schild mit dem Powerbutton vor dem Kopf und sieht aus, wie ein Schild mit Beinen. Er beginnt mit einem ganz schnellen Stepptanz, kniet sich hin und verschwindet hinter dem Schild, das er irgendwann wendet und auf dessen Rückseite ein Hitlersmily zu sehen ist. Durch wenige Eingriffe in das Icon wird eine vollkommen andere Aussage hervorgerufen. Der Tanz ist jetzt weich, sich wiegend zusammen mit dem Schild, eine zärtliche Nähe vielleicht und den Begriff des Schildes als Schutz wörtlich nehmend: Hitler zum Kuscheln sozusagen. Auch das Wort Plakat ist dem gegenüber wörtlich durchaus als plakative Verlautbarung, als Parole, als Werbung und alles in einem zu verstehen. Die Musik unterstreicht eine kitschige Stimmung an dieser Stelle, hier Elvis Presley mit Are You Lonesome Tonight?. Der Tänzer wiegt sich mit dem Schild und spricht dadurch zum Schild als ob er ihm gerade eine Liebeserklärung machte.

Auf den Knien drückt er sich mit der Hand selbst seinen Kopf und seine Brust hinunter zum Boden, eine Geste der bewussten Handlung, es ist eine Art Wiederaneignung der Handlung und der Handlungsmacht, eine Aneignung, die beim eigenen Körper beginnen muss, bevor sie die Ziele ihres Angriffes in einem wie auch immer gearteten Außen sehen kann. Es ist hier aber auch die Emanzipation vom Diktat der Musik und des Bildes. Kunst wird hier im Tanz zu einer politischen Philosophie, die von Michel Foucault und Gilles Deleuze genauso beeinflusst zu sein scheint, wie von Guy Debord.

Ein Novum der Audiodeskription war hier, dass Moritz Ostruschnjaks Performance zum Praktikum des Workshops von Jess Curtis genutzt wurde und sich so für einen Blinden ein Bild aus vielen Augen ergeben konnte, ein Luxus gleichermaßen, der sich in Diskussionen über die Sicht mehrerer Augen, etwa um den Begriff Skipping entspannte und darüber, ob das Gehopse nun kindisch gemeint gewesen sei, der Choreograf bestand darauf und stellte es in Kontrast zu den sehr virtuosen Bewegungsabläufen, mit denen sich das Skipping in dieser Sequenz hier immer wieder abwechselte.

Für die Haptic-Access-Tour, die vor der Performance für Blinde und Sehbehinderte stattfinden sollte, wurde besprochen, dass man die Geräusche demonstrieren könne wie auch einen Tänzer um diverse Abfolgen von Posen bitten könne, die Blinden legten dann ihre Hand auf seinen Rücken, um die Arbeit der Muskeln zu erspüren, den Körper auf dem Weg zur Pose zum inneren Bild zu fühlen.

Schnelle Abfolge von Posen präzise ausgeführt, Teile von Begrüßungsgesten, teilweise aus der Drag-Szene und gerade in dieser Präzision nicht beschreibbar, die Audiodeskription an ihre Grenzen bringend, was sich später in einer schnellen Abfolge von teils ikonischen Bildern von Porträts von Politikern, von Thatcher, Reagan, Adenauer bis hin zu Baerbock und das ist nur eine kleine Auswahl, steigern wird.

Stimmen losgelöst von ihren Bildern, losgelöst die Audiospur von Bildern des Gesichts, korrespondierend mit dem Beginn der Performance, wo Körperteile ihre ganzen Körper zu suchen schienen und später ihre Bewegungen, die Formen wie der Ort, der Konzertsaal sie ihnen rahmen sollten.

Energetisch turbulentes Treiben, exaltiert und doch schnell und präzise, immer wieder ein in seiner Motivation für den Blinden nicht einsehbares Klatschen, in der Bewegungsqualität Militärisches, Roboterhaftes, etwas zugleich Athletisches, sehr Sportliches aufweisend.

Moritz Ostruschnjak trennt im Tanz das Bild von der Projektionsfläche Körper, lässt den Unterschied von Körper und Bild aufscheinen, indem er den Körper als seinen Träger tanzen lässt und Bild ist hier nicht allein als Plakat zu verstehen, nicht allein als Logo oder Icon, Getanztes selbst erwirkt sich die lebendige Form des Bildes, stellt die Starrheit des Bildes in Frage und birgt in sich hierin bereits ein utopisches Potential.

Diese Deutung aber kann nur einem Blinden in den Sinn kommen, der das Stück von einer Audiodeskription besprochen hört, der obendrein in den Genuss eines Workshops gelangt ist, wo die Audiodeskription als Kollektivprodukt erarbeitet wurde, das Simone Detig live vortrug.

Das Ertanzen der Bilder macht die Performance aber auch zu etwas, das erst verkörpert werden muss, das wir nicht nur übergestülpt bekommen, gegen das es sich auch wehren lässt, gerade weil es vielfach austauschbar erscheint. Die Vieldeutigkeit der Bilder bis hin zur Bilderflut wird bewusst zur Überforderung, zur Unmöglichkeit einer Verarbeitung, die zu ihrer Reflektion zur bewussten Handlung der Reflektion geradezu zwingt.

Struktur eines Raumes ertanzt Bilder hervorbringend, die das Raumbild verstören. Das Bild wird in seiner Funktion als Trennung von der Welt aufgezeigt, Bild und Raum sind zwei vollkommen unterschiedliche Essentialitäten, zwischen denen Moritz Ostruschnjak seine Performance ansiedelt.

Gerald Pirner, Abstraktion II, 2021 © Gerald Pirner