Gerald Pirner, Selbstportrait XI (Alexanderplatz im Winter), 2020 © Gerald Pirner

Mauerfall und Wiederholung

Erblindung in Zeiten des Mauerfalls

Solange er sah, stieß er immer wieder an diese Mauer. Sie machte aus Kreuzberg ein Dorf mit einer ganz eigenen Lebensphilosophie und einer rebellischen Lebenshaltung über die radikale Politszene hinaus. Dort erlebte er die massenhafte Enteignung von Wohnraum, dort erlebte er eine Politisierung des Alltags bis in eine Mikrostruktur hinein, deren Gedankengebäude vom Merve Verlag und dem Rhizom Kollektiv mit ihrer Kneipe in Schöneberg, vom Buchladen Schwarze Risse in Kreuzberg von Kneipen wie dem Slainte in der O-Straße oder dem Schlemihl in Kreuzberg 61 und nicht zuletzt vom Spektrum, dem späteren EX ausstrahlten.

Man ging gegen den Militärputsch in der Türkei auf die Straße, unterstützte den Hungerstreik der IRA, man sympathisierte mit der Guerilla, las Texte der RAF, des 2.Juni oder der Revolutionären Zellen/Roten Zora.

Man unterstützte die Genossen und Genossinnen im Knast, worin die Fans der RAF, die Antiimps immer herausragten. Die Autonomen ließen da ziemlich schnell nach, „denen fehlt es an Disziplin“ witzelte der Fanclub der RAF.

Der Weg zum Ort

Eine Grenze erfahren, die nicht mehr existiert, für einen Erblindeten ist es wie eine Phantasmagorie, deren Entschleierung nicht minder phantasmagorisch auf ihn wirkt. Eine kleine Straße in Kreuzberg nähe Oranienplatz, zu beiden Seiten der Straße vielleicht vier oder fünf Häuser, bis der Schritt von einer Mauer zurückgeworfen wird wie ein akustisches Spiegelbild, das den Näherkommenden sich selbst akustisch entgegenkommen lässt.

Eine andere Kreuzberger Straße: Leuschner Damm, von der Mauer begleitet wie von einem Polizeispalier, eine Straße der Längsseite nach aufgeschnitten, noch einmal eine andere Erfahrung der Teilung, wörtlich sie im Gehen an der Straße erfahren, ein Gehsteig, der, die

Straße gerade einen Meter breit teilt, die damit noch breiter ist als die mittlerweile nicht mehr befahrbare Straße.

Erinnerung an die Kindheit in einem berühmten Chor, mit dem der Autor als Sopran nach Berlin geflogen war, ein Konzert in Ostberlin geplant. Friedrichstraße, die Jungs machen Faxen, wie sie es immer tun und fallen so wenig auf wie Kinder bei solchen Gelegenheiten mit absurden Formalitäten es tun und die Absurditäten, für die Kinder ein Gespür haben, auf die sie mit Scherzen antworten: Der andere werde gleich erschossen, wenn er nicht seine Klappe halte.

In einem Gemeindesaal illegal und die Choristen sollten sagen, sie seien eine Schule auf DDR Besuch, da das Chorkonzert nicht angemeldet war und damit auch nicht von der Obrigkeit genehmigt.

Zwischen 1989 und 1990 sollte der Autor dieser Zeilen endgültig erblinden. Das Ende der Mauer war für ihn das Ende seiner visuellen Sicht auf Berlin, einer Stadt, von der er zehn Jahre lang einzig den Westteil gesehen hatte.

Als Teil einer kleinen Gruppe von Blinden, Sehbehinderten und Sehenden war er unter der Leitung der Historikerin Katrin Passens und dem Historiker Manfred Wichmann an der Erarbeitung der Ausstellung Sprechende Bilder der Gedenkstätte Berliner Mauer beteiligt, lernte auf diese Weise einen Teil der Stadt durch Kollegen und Kolleginnen kennen, von dem er bislang nicht sonderlich viel wusste. Die Audiodeskription der ausgestellten Fotos wurde von Anke Nikolai erstellt.

Was der Sehende sieht, das muss auf die eine oder andere Weise zum Blinden sprechen. Was ihn nicht anspricht verschwindet vor seinem Verschwinden im begriffslosen Dunst. Das was in Geräuschen Gerüchen in Erspürtem und Ertastetem zu ihm spricht hat ein vollkommen anderes Gesicht, wenn es von einem Erblindeten zu einem bildlosen Bild vormals gesehen worden war, wenn es bildlos wieder gesehen werden kann. Die Stadt ist dann zu einem beträchtlichen Teil Erinnerung, ohne dass der Blinde in seinen inneren Bildern bemerkte, dass sie eine vollkommen andere Stadt geworden ist: Blindheit löst in gewisser Weise Zeitlosigkeit aus, oder, wie eine Freundin des Autors damals zu ihm sagte: „Das tolle bei dir ist, dass ich bei dir immer jung bleibe.“

Die Bildbeschreibung ist an diesem Punkt weniger eine Korrektur der Wirklichkeit, eher bricht sich das innere Bild des Erinnerten, öffnet zwischen den beiden Bilderfahrungen, der erinnerten des Gelebten und der der Beschreibung eines Bildes in der Gegenwart einen Raum, der vom neuen nicht verdeckt wird, den der erinnerte auch nicht verteidigen muss. Eher ist es eine Bereitschaft sich beiden Wirklichkeiten gegenüber offen zuhalten, sie sich übereinander legen zu lassen, ohne dass es zunächst zu Verschiebungen kommen müsste. Wirklichkeit ist für den Blinden der Raum in verschiedenen Zeiten, gelebt legen sie sich im Körper zu einem mehrdimensionalen Raum übereinander und das Imaginäre hält all die gelebten, erzählten, beschriebenen Räume zu einander offen und durchlässig.

Die Sicht des im Jahr 1989/90 Erblindeten erinnert aber nur die eine Seite der Mauer, die gemütliche, die Mauer, die aus Kreuzberg ein Dorf machte, die Mauer, die im Westen gerade einen ganz spezifischen Freiraum ermöglicht hatte.

Auf der anderen Seite ist das Ungesehene aber auch das, was auch gar nicht erlebt wurde, was dennoch auf eine gewisse Weise gespürt werden kann, und hier beginnt ein grundlegender Unterschied in der Bildbeschreibung: das einst Gesehene des Blinden ist in Körperlichkeit ausgefüllt, ist ein Teil des Körpergedächtnisses, das sich erspürt wiederfindet. Das Gelebte, das Erfahrene aber setzt sich im Beschriebenen fort, übernimmt Teile, Adäquationen aus gelebten Bildern und setzt blind andere Bilder aus Fragmenten wieder zu neuen Bildern im Kopf zusammen, macht so auch die nicht gesehenen Situationen erlebbar, lässt sie sich verkörpern.

Da ist also einerseits die im Bild diesseits der Mauer gespürte Stadt, deren Verkörperung im blinden Wessi etwas durch Bildbeschreibung anderes erfährt, das das erinnerte Bild geradezu aufbricht, ohne es zu verändern. Die Mauer wird so zu einer Trennwand der Wahrnehmungsregister, zu einem Hervorkommen des Unbekannten aus der Region des vollkommen Anderen.

Ein gutes Beispiel war dem Erblindeten, als bei der Ausstellungseröffnung Inken Jakob, eine blind geborene Frau aus der DDR bei der Beschreibung des Bildes Grenzsoldaten machen Pause nahe der Streelitzer Straße davon sprach, sie empfinde das Bild ganz körperlich, empfinde es geradezu fleischlich, die Erinnerung stiege lebendig wieder in ihr auf. Was den westdeutschen Erblindeten an diesem Satz begeisterte war die Art der Bildsicht, ohne dass er selbst den Ort im Ostteil der Stadt jemals gesehen hatte.

Biertrinkend machen Arbeiter einer Baustelle Pause, nur dass die Arbeiter hier mit Gewehren bewaffnet sind. Während Inken Jakob körperlich die Situation aus ihrem Leben spürt etwas erspürend, was ihr Leben ausmachte, ohne tatsächlich bei der Bausituation dabei gewesen zu sein, spürt der Erblindete aus dem Westen ein Gefühl in sich hochkommen, das mit der Gefahr zu tun hat, die von den Gewehren ausgeht und die bei einer Baustelle eher Unverständnis hervorruft, es sei denn, die Waffen richteten sich potentiell gegen die Arbeiter als Bewaffnung von Wachpersonal, aber die sind hier ja gerade die, die die Gewehre mit sich führen.

Was soll also hier geschützt werden, was verteidigt, was verhindert. Allein Ort und Zeit der Aufnahme erklären das Bild, entlarven die Soldaten als die hier arbeitenden und erklären noch obendrein das Pausenbier, das sich die Errichter der Mauer hier gönnen.

Der Wessi, der von der anderen Seite der Mauer aus der Bildbeschreibung zuhört, die hier gerade errichtet wird, sieht hier den Ursprung seines zukünftigen Lebens im eingemauerten Biotop Westberlin entstehen, während die Frau aus dem Ostteil der Stadt körperlich ihre Unfreiheit im Bau der Mauer im Erstehen begriffen spürt.

Das Körpergefühl der beiden Blinden ist von ihrer Geschichte aus ein vollkommen anderes und der Westdeutsche erspürt sich die Brutalität aus diversen Gegebenheiten, sieht die Seite der Mauer, die ihm vor dreißig Jahren in seiner von der Mauer geschützten Lebendigkeit der Westberliner Subkultur verborgen geblieben war. Die Mauer war dort die Ermöglichung von Experimenten anderen Wohnens, Lebens, von Aneignung von Wohnraum, von Lebensmitteln wie auch von Strom und Wasser und Gas, und die Umsetzung eines kollektiven Kampfes für ein noch ganz anderes, noch nicht einmal geahntes Leben.

Und hierin - ganz deutlich werdend - ist der ungesehene Moment für die Sehenden so bildlos wie für die Blinden: zu inneren Bildern wird es beiden, erlebbar in der Erzählung, der Rückseite von Bildern, von denen die sprechen, die das Erzählte gelebt haben.

Bilder sind Einschnitte, werden in Worten zu Raum, in denen sich bildlos aufhalten lässt, indem der/die Blinde dieser Raum wird, den Raum verkörpernd, zugleich gekleidet ins Bild der Situation, rau genug, dass eine Erzählung sich daran zu halten vermag. Das Leibhaftige der Erinnerung wird auch von der Blinden ganz körperlich empfunden, wird aber von einer gespürt, die die damalige Zeit erlebte, obschon sie bei der abgebildeten Situation selbst nicht dabei war, nicht hatte dabei sein können.

Aber ist es tatsächlich das Zeichen, ist es nicht eher das Beschreiben des Zeichens durch andere Zeichen, das natürlich eine ganz andere Reaktion im Geist des Erblindeten auslöst als im Geist der Sehenden und womöglich noch einmal eine ganz andere im Geist einer Geburtsblinden.

Auch die Beschreibung des Bildes als Zeichen ist natürlich nichts andres als eine Zeichenfolge, die hier allerdings den Zusammenhang von Bild und Wort auf eine ganz spezifische Weise darstellt, indem sie wie eine Übersetzung, wie ein Über-Setzen die Trennung zwischen beiden Wahrnehmungsregistern zu überspringen scheint.

Aber: Erst in der Diskussion unter Wessis, Ossis und unter Berücksichtigung der historischen Fakten des Mauerbaus ersteht ein kollektives Bild der diversen Situationen der diversen sprechenden Bilder. Das Bild allein sagt zu wenig, wenn es allein sprechen soll. Erst in Verbindung mit einem (auf-)klärenden Text wird dabei ein körperliches Bild, ein wirkliches historisches Bild, das spürbar ist, weil es ein kollektiv erarbeitetes Bild ist und um ein solches muss es sich handeln, will man die Bilder der Ausstellung in der Bernauer Straße verstehen. Bildbeschreibungen sind hier absolut notwendig, sind aber nicht ausreichend um das Bild tatsächlich erfahrend spüren zu können. Die hier zu hörenden sprechenden Bilder sind eine hervorragende Mischung aus Bildbeschreibung und historischem Kontext, die spürbare innere Bilder im Körper des blinden Wessis hervorbringen, die sich an seiner eigenen "Sicht" des gelebten Westens der Achtzigerjahre brechen und an ihnen auf eine ganz eigene Weise reicher werden.

In einem nochmal ganz anderen Projekt, das sich mit Bildbeschreibungen beschäftigt, erfahren der erblindete Autor und die geburtsblinde Inken Jakob eine genau solcher Art unterschiedliche Wahrnehmung von Bildbeschreibung, sehen sich aber auch als sich sehr stark ergänzende und notwendige Teile der Bewertung von Bildbeschreibungen, die beide Wahrnehmungen von Blinden und Erblindeten berücksichtigt und mit den natürlich genauso notwendigen Expertisen von Sehenden sich kurzzuschließen weiß.

Ein vielleicht illusionäres, vielleicht ein U-Topisches Ansinnen für Bildbeschreibungen historischer Bilder, trüge es doch die Aufgabe einer Bildbeschreibung weit über das ihr im Ursprung zugedachte hinaus, schaltete bewusst das ein, was eigentlich ausgeschaltet werden sollte: das Gefühl, das Subjektive, das zum Paradox eines objektiven Gespür sich wandelte.

Bildbeschreibung wäre damit einerseits und zu allererst die Aufgabe der Erstellung eines Rahmens übertragen. Das Bild als etwas wie ein umgrenzter Raum. Ein Rahmen als das eigentliche Bild, den die Erzählung dann mit zu-Bildern-werdenden Worten zu füllen sich anschicken müsste. Das Bild ist der Auslöser einer Unzahl von Bildern: Bildern der Erinnerung, der Erfahrung, Bilder die gesehen, gespürt wurden, Bildern, von denen gehört wurde noch bevor sie zu Bildern überhaupt erstarren konnten.

Der Mauerbau brachte natürlich auch geradezu ikonische Bilder hervor, allen voran der Sprung des Grenzpolizisten Conrad Schumann über den Stacheldraht. Das Ikonische ist dann aber gerade das, was in einer religiösen Bedeutung etwas an Ereignis im Bild wieder verbirgt.

Andererseits ersteht damit aber auch das Problem der Wirklichkeit, das mit dem Poststrukturalismus seit den Sechzigern massiv in Frage gestellt wurde, hier sei vor allem an den französischen Philosophen Jean Baudrillard erinnert, der von der Agonie des Realen spricht. Von dieser Agonie des Realen hätte im Ostteil der Stadt wohl schwerlich jemand sprechen wollen, es sei denn in einer sarkastisch gegen die Herrschenden gerichteten Weise. Das Denken des Posthistoire als dem, das Zeichen entkörpernden, Icon Turn geht von einem Zeichen aus, das von vorneherein die Verbindung zwischen körperlichem, gehörtem Wort und dem Bild durchtrennt zu haben scheint. Das stimmt freilich nicht ganz, wir suchen hier nur die Konsequenz eines Blinden im Denken nachzukonstruieren, einer Denkrichtung, der der Erblindete damals selbst sehr nahe sich fühlte, und dieses Wort Fühlen ist doch hier bereits verräterisch genug, um uns auf die Rückseite des Zeichens kommen zu lassen.

Das Zeichen, das war noch in den Achtzigern die Mauer, deren andere Seite nicht zu erspüren war, es sei denn, man hätte sich kitschigen Spekulationen hingeben wollen.

Ikonische Bilder erfahren in der gemeinsamen Wiederaneignung ihres diskutierten Inhaltes eine notwendige Entsakralisierung, die zum wirklichen Kern zurückführte, das Bild als einfaches Dokument anerkennend, dessen Mechanismen im Gespräch überwindend, zudem die kunsthistorischen Momente des Bildes berücksichtigend, sie in der Analyse, sie aber auch in das Bild des Bildes miteinbeziehend.

Gerald Pirner, Selbstportrait XII (Alexanderplatz im Winter), 2020 © Gerald Pirner

Bild und Bildbeschreibung

Das Bild fokussiert Geschehen zu erzählbarer Geschichte. Das Bild ist essentieller Bestandteil des Wortes. Im menschlichen Sprechen ist Sehen eine Conditio sine qua non, eine Grundvoraussetzung für die Herausbildung von Begriffen. Wenn ein Blinder oder wie im Fall des Autors ein Er-blindeter von Bildern spricht, geht er natürlich weit über Visualität hinaus. Er spricht von inneren Bildern, die von Erzähltem, von Beschriebenem aufgerufen werden und dabei geht es nicht allein um Erlebtes, von Erlebtem Eingefärbtes, es geht auch um die visuell und verbal mögliche Fortpflanzbarkeit von Geschichte in Gedächtnissen von Körpern, in denen Empfindungen sich wiederfinden und verknüpfend sich überlagern können um aus der Beschreibung ein Nachempfinden von Situationen aus Bild und Wort stützen zu können.

Dennoch: um ein Bild zu verstehen muss es zu erst erspürt werden. Objektivierende Beschreibungen wie: „Oben links ist eine Linie zu sehen, die sich nach rechts unten bewegt, um sich kurz vor Bildende zu verzweigen…“, trocknet alles Verständnis aus, führt in die Wüste eines mathematisch gestützten Leerlaufes, der peinlich genau das Abgebildete zwar wiedergeben würde, das aber kein Blinder verstehen würde.

Der allererste Ursprung aber ist etwas ganz anderes, es ist eine Art Befall, eine Art sprunghafter Ansteckung, ein Moment des verletzenden Schocks, durch dessen Hereinbrechen eine Flut anderer Bilder in ihn hereinbricht, die die Verletzung vielleicht wieder verdecken sollen. Solcher Art des Bilderfassens hat nichts mit einer Bildbeschreibung zu tun, es ist eher der Versuch die Rezeption als Schock oder wenigstens als Betroffenheit nachvollziehbar zu machen, eine bekennende Subjektivität, die die sowieso nicht mögliche Objektivität in einem Sprung übergeht. Es ist eher der Versuch den Bildeinsturz geschehen zu lassen, die von ihm ausgelösten inneren Bilder unter seinem Einfluss wirken zu lassen, bewusst die Dominanz des Bildeinbruches, seine Dominanz ihn wiedergewinnen zu lassen, das heißt die Empfindungen, die durch die anderen Sinne ausgelöst werden, zu dulden und sie anerkennend bei dem Bild stehen zu lassen, sie in es hineinwirken zu lassen.

Wenn der blinde Autor vom Fall der Mauer spricht, spricht er von einer Zeit, die er zwar in Berlin, aber im Westteil erlebt hat. Bilder werden ihm also bei der Gedenkstätte Berliner Mauer beschrieben, deren Bild sich also immer mit ganz anderem Fleisch seines Inneren erfüllt, als dies bei damaligen Bewohnern der DDR sich erfüllen durfte. Er wäre also ein gutes Beispiel für all das, was er hier zu entwickeln gesucht hatte. Das innere Bild des Wessis muss sich von Inken Jakob aus dem Osten in der Diskussion anstecken lassen, sein Fleisch muss sich entflammen lassen, Beschreibungen rein figürlicher Art, Szenenbeschreibungen sind hierfür nicht ausreichend, der Hörer der Sprechenden Bilder muss in einer Passion für eine Zeit entflammen, für die Spannung einer Zeit, nicht allein für bezogene politische Stellungnahmen, er muss in der Bildbeschreibung die andere Seite des Bildes erspüren.

Das Bild als Erinnerungsmarker, das Bild als sehr vielfältig als sehr antagonistische Interpretierbarkeit. In der Bildbeschreibung werden Momente des Gesehenen aufgerufen, denen nachgespürt werden kann, die im Spüren an das im Bild, im Erinnerungsmarker des Bildes angelegt sind. Indem dem Beschriebenen nachgespürt wird, entfaltet sich im Körper des Erblindeten ein inneres Bild, das im Gespräch mit den Expert*innen der Zeit und des Ortes zu einem Bild sogar des Realismus des Nichtpräsenten sich auswachsen lässt.

Wie das visuelle Bild als Regulierung der inneren Bilder von Sehenden wie Blinden gesehen werden kann, wie etwas, das die Bilder der Empfindung des Schmerzes, Bilder, die andere Sinne hervorriefen, kann das visuelle Bild auch Bilder in Erblindeten oder Menschen, die nicht Zeugen waren hervorrufen, aber nicht allein durch eine sogenannte objektive Bildbeschreibung, eher durch das Bemühen, das Dargestellte nachspürbar zu gestalten.

Zu einer Leibhaftigkeit kommen müssen, die in ihrem Zentrum zu einer Empathie beiträgt, die aber immer nur von vorher bereits entwickelten Bildern ausgehen kann, die das Bild dabei nur wieder aufrufen kann, Bild und Bildbeschreibung als immer vor allem als Wiedererinnerung zu sehen, Wiederholung und zugleich immer offen für Lernprozesse.

Das Sehen eines Bildes setzt Bildung voraus. Bildung ist eine Erziehung zur Öffnung des Bildes, zu einer höchstmöglichen Offenheit hin zu einem empathisch zu verstehenden Bild.

Bilder sehen muss erlernt werden, allein schon, um sich der Bilderflut des Heute erwehren zu können.

Die Bildbeschreibung ist die Beschreibung nicht allein für Bildlose, sie ist die Beschreibung eines anderen Zuganges zum Bild überhaupt. Die Beschreibung eines Bildes ist die Aufschlüsselung eines Bildes durch das Wort, legt die Worte dem Bild zu Grunde, gründet das Bild dadurch vollkommen neu.

Das Bild gründet einen Rahmen, den die Beschreibung als Erzählung ausschöpft, sich wie ein Hineingehen in das Bild selbst erfüllt.

Das Bild liefert in seinen Details Momente, aus denen heraus überhaupt erst etwas wie eine Verkörperung einer Situation geschehen kann.

Subjektive Bilderfahrung und kollektive Diskussion

Zurück zu Grenzsoldaten machen Pause beim Mauerbau. Da ist etwa der Aufbau der Mauer, der als Arbeit mit Brotzeit als gelebter Alltag im Bild dargestellt wird, eine gelebte Harmlosigkeit, die jäh aber dadurch aufgerissen wird, dass einer der Bauarbeiter ein Gewehr geschultert hat und vielleicht erst an diesem Gewehr zu erkennen ist, dass es sich bei den vermeintlichen Bauarbeitern um Soldaten handelt, die mit Bier fast wie Feiernde erscheinen, obwohl das Bier nur als Teil der Brotzeit gesehen werden darf.

Dieses Bild wiederum war es, von dem Inken Jakob sagte, sie erlebe das Bild geradezu körperlich. Und ist eine solche Art des Sehens eines Bildes nicht eine wunderbare Einlösung eines Sehens von Bildern überhaupt, das empathische Sehen, das ein Bild hervorrufen sollte. Das Sehen eines Bildes als historische Zeugenschaft, als etwas, worin sich Menschen wiedererkennen, ihre Situation dieser Zeit erkennen und erinnern, die die abgebildete Situation selbst gar nicht erlebt haben, die die Szenerie nicht gesehen haben konnten, nicht nur weil sie damals bereits blind waren, die von aller Beobachtung des Mauerbaues ausgeschlossen waren, dessen Zeugen nur die waren, die ihn vollzogen hatten. Diese Szene konnte nur von einem aufgenommen werden, der am Mauerbau aktiv beteiligt war, dessen Folgen aber von einer, die hinter der Mauer dreißig Jahre später, als ihre Situation der Einmauerung von ihr selbst empfunden werden musste.

Nun stellt dieses Bild keine Alltäglichkeit dar, sie stellt aber eine grundlegende Veränderung des Alltags einer Stadt dar, dessen Auswirkung jahrzehntelang von ihr bestimmt werden sollte. Sie stellt Alltag als in mehrerlei Hinsicht geteilten dar, den Alltag derer, die den Alltag der großen Masse begrenzen würden und dies als ihren zukünftigen und privilegierten Alltag sehen durften, auf den es sich bei der Produktionspause auch schon mal anstoßen ließ.

Es stellt sich aber die Frage nach dem was ein Bild aufruft. Vollkommen unterschieden das Erlebte und mit Erfahrungen unterschiedlich ausgefüllt, stellt es die Frage nach vom Bild ausgelösten Begriff und dem es tragenden Wort.

Sprechende Bilder sind ein wunderbares Beispiel für die Notwendigkeit, Bilder laut und gemeinsam beschreiben zu müssen, um sie kollektiv sich noch einmal gemeinsam aneignen zu können. Jedes Bild hat die unterschiedlichsten Interpretationsweisen und Sichten hinter sich und manch eine schließt andere aus, je nach Begriff und Vorstellung von Macht, von Gewalt und von Gesellschaft der ihm unterlegt ist, je nach Diskurs, der von ihm ausgelöst wird, der unterstellt wird. Theoretisch. Aber tatsächlich zeigt dieses Bild eine Wirklichkeit, die einen unauflösbaren Antagonismus aufzeigt, den die Mauer wie kein anderes Gebäude in Berlin darstellt. Sie zwingt nicht nur zur Erinnerung, sie zwingt zu Denken und Handlung. Aber tut sie das tatsächlich? Bild kommt von bilden, was gesehen wird ist niemals authentisch und exklusiv zu sehen. Die Sicht gerade auf dieses Bild ist vollkommen anders gebildet je nachdem, auf welcher Seite der Mauer mensch steht und zu welcher Zeit man ihren Ort begeht. Vollkommen unterschiedlich ist auch die Sicht, von welchem "Sein", von welcher Lebensrealität aus, auf dieses Bild geschaut wird.

Damit aber wird die Bildbeschreibung zu einer Notwendigkeit, die nicht nur Blinden und Sehbehinderten zugedacht werden muss. Sie wäre die Voraussetzung für die Herausbildung von Bildern in Gruppen gesehen, von kollektiver Sicht auf Bilder, im Gespräch erarbeitet, die sich Bilder als gemeinsames Produkt gemeinsam aneignen. Gerade weil das Bild niemals nur eine Wahrheit in sich birgt, weil ein jedes Bild eine Vielzahl von Wahrheiten in sich vereinigt und eine Diskussion über ein jedes Bild unabdingbar macht.

Aber, und von einer ganz anderen Seite her, von den Überlegungen des Philosophen Martin Heidegger aus, der in Zusammenhang mit Wahrheit von einer „Lichtung“ gesprochen hatte. Die Konnotation des Lichtes soll uns hier weniger interessieren, vielmehr scheint mir als Erblindetem der Begriff eines Raumes brauchbar, der im Begriff der Lichtung als von einem anderen Raum eingegrenzten Raum erkennbar wäre. Das Bild öffnete diesen Raum, in welchem sich ein Diskurs zu bewegen hätte, ihn im Gespräch ausfüllend. Verbindend ist die Atmosphäre der Lichtung als einer kollektiv spürbaren Atmosphäre, die vor aller Bewertung sich ganz körperlich erwirken würde. Das Bild sähe der Autor als Eröffnung eines Erzählraumes, der immer das Kollektiv benötigte, das allein ihn auszufüllen vermöchte.

Die Position der Betrachter*innen, immer wieder eine erhöhte Position der Aussichtsplattformen, die allein von ihrer immer höher als das Betrachtete Distanz aber vor allem eine gewisse Erhabenheit dem Betrachteten gegenüber schaffen, die Position eines Blickes in einen Menschenzoo, eine Distanz der Abgehobenheit, eine Außenposition der Beobachtung, die mit der beobachteten Welt nichts zu tun hat. Die Selbstsicherheit des Systemgewinnlers spiegelt sich hier bereits als ein ideologisches Vor-Urteil wieder, setzt sich auch in der Ausstellung insofern fort, als fast alle Bilder durch die Westkamera geschossen wurden, wenn sie nicht von den Machern der Grenze und ihren Bewachern geschossen wurden.

Indem aber die Mauer, die Grenzanlagen überhaupt das zentrale Objekt, man könnte fast sagen, das Subjekt der Aufnahmen sind, relativiert sich die Westsicht insofern, als diese Position als der einzig mögliche Standpunkt des Fotografierens überhaupt sich zeigt und in der Darstellung auch als solcher ausgewiesen wird. Über die Mauer und ihren Bau lässt sich nur „von außen“ sprechen. Alles was an Alltag in Ost und West sonst zu sehen ist und darüberhinaus möglich oder denkbar wäre, zeigt und zeigte eine Ähnlichkeit beider Teile der Stadt, die Ideolog*innen aller Couleur nicht ins Propagandasüppchen passte.

Aber nähern wir uns noch einmal der Mauer vom Westen her, um die andere Seite genauer auszuleuchten.

Eine Mauer kommt entgegen

Bildlos einem Gegenstand sich nähern heißt seinem Hören und Spüren sich zu überlassen, heißt beobachten, wie eine breite beobachtete Fläche sich Schritt um Schritt in Höhe des Schreitenden zusammenzieht, um den Sich-Nähernden kurz vor Auftreffen auf der Wand, kurz vor seinem Aufprall zu umfangen, und wie aus einem Inneren heraus konzentriert ihm sein akustisches Spiegelbild, sein knapp reflektiertes Echo entgegentreten zu lassen. Ein kurzer Moment, in welchem der Gehende sich deutlich hörbar gegenübersteht, bevor er auf die Mauer treffen würde. Sein Spiegelbild tritt dabei aus einer ihn umgebenden Art akustischem Gewölk klar heraus, tritt aus etwas heraus, das ihn akustisch kurz vorher noch umgeben hatte und das er doch nur selbst vor der Mauer gewesen war, bevor ihn sein eigenes Mauerecho umfing, ihn kurz mit der Reflektion der Mauer durch seinen Körper hatte verschmelzen lassen, ihn mit seinem eigenen akustischen Bild vor dem Aufprall scharf warnend.

Nach oben hin bricht das Gehörte normalerweise an einer abgeschlossenen Mauer einfach ab, reißt das gehörte Echo weg, um es imaginär auf der anderen Seite abstürzen zu lassen. Normalerweise.

Hier nun aber läuft es geradezu zärtlich aus, als ob es das Geräusch über die Mauer als Wand hinüberhieve, von einer Welt jenseits sprechend, die zugleich unfassbar vom Gehörten leicht wiederherabtropfen würde, wenn der Erblindete unter ihr, der Mauer und ihrem röhrenartigen Abschluss stehen bliebe: unter allen Mauern der Welt würde der Erblindete diese Mauer wiedererkennen, würde sie an diesem Hören wiedererkennen, ohne sie noch einmal wiedersehen zu müssen.

Er streckt vorsichtig die Hand aus und berührt mit der Fingerspitze den rauen Beton, berührt einen Riss, eine Stelle, wo etwas aus der Mauer herausgeplatzt ist. Er berührt etwas, das er jeder Zeit wieder in fast alle Richtungen, fast alle bis auf die, die die Mauer versperrt, verlassen könnte.

Das Gesehene in seinem Bild fokussiert in einem Begriff, an welchem die Eindrücke der anderen Sinne einfach abperlen wie Gischt von der auf Strand laufenden Welle. Ohne das Bild der Mauer, ohne das Wissen um sie, das die Geräusche, die Spürungen einordnete in einen Begriff, das Bild mit dem Begriff zugleich gleichsetzte, begänne andererseits eine Art der Mystifizierung, von der nur Abstand gewonnen werden könnte, wenn ganz hart beim Phänomen und seinen Erscheinungen geblieben würde und auch dann nicht allein dadurch: erst die historische und politische Einschätzung dieser Mauer macht die Verhinderung der Bewegung verstehbar.

Das ist nicht allein ein Problem, das durch die Bildlosigkeit aufgeworfen wird, das ist vor allem ein Problem, das aus einem Westegozentrismus erwächst, der hedonistisch das Biotop genießt ohne, ja ohne was? Die Moral hülfe hier nur bedingt weiter.

Ein Genuss und der Autor ist geneigt, dies als einen blinden Genuss zu formulieren: erst der Wegfall des Bildes lässt den bildlos lebenden Blinden in eine Welt der erspürten Phänomene eintauchen, ohne sich nicht sofort vom bildgestützten Begriff herausreißen lassen zu müssen.

Mit der Erblindung kam die ganz andere Erfahrung der Mauer und kam zugleich ihr Ende, ihr Verschwinden in ein Nirgends der inneren Bilder des Blinden. Die Erinnerung weist hier einen Riss auf, läuft über Straßen die sich vollkommen anders anhören als zu Zeiten, als er sie noch gesehen hatte. Die Wahrnehmungseindrücke der anderen Sinne haben kein Äquivalent im Bild, auch nicht im inneren Bild, sie treiben haltlos im Gedächtnis und behelfen sich notdürftig mit Beschreibungen der veränderten Stadtlandschaft, die der Nachfrage des Erblindeten bedarf, um zu einem neuen inneren Bild des Nicht-Mehr-Vorhandenseins zu kommen.

Der Schnitt durch die Straße am Leuschner Damm, die Mauer, die spurlos abgetragen wurde, ließ einen Kanal frei werden, der vor über hundert Jahren von Arbeitslosen gegraben und dann teilweise wieder zugeschüttet worden war. Ein Teich ist da, in den ein spielendes Mädchen fällt und sofort von der Mutter herausgezogen wird, ein Geschehen beobachtet von Sehenden, erhört von einem Blinden.

Wie aber funktioniert das Gedächtnis, was erspürt es sich von einem einstigen Ort, der topografisch derselbe ist, der aber einen vollkommen anderen Nimbus hat, eine von der Geschichte hervorgebrachte andere Atmosphäre: spürbar, hörbar, für Sehende sichtbar. Aber noch etwas anderes war da und war vielleicht nur sichtbar oder spürbar da, weil es vorher nicht da war. Das Gefühl, dass da etwas irgendwie nicht stimmt, von dem der Erblindete aber würde nicht sagen können, was es ist.

Der Ort war für den Blinden in mehrerlei Hinsicht aufgebrochen, eine Erfahrung am Teich bei einem Aperol Spritz, im Hintergrund ein weinendes Mädchen, das gerade von seiner Mutter aus dem Wasser gefischt worden war, in das es hineingestürzt war.

Wo die Mauer fällt haben die Bilder keinen Grund wie keinen Rahmen mehr, der sie an diesem speziellen Ort hält, losgelöst flottieren sie in Kopf und Körper, stoßen an Bilder aus Beschreibungen, deren Rahmen sie verstört, die sie verstören. Die Gefahr der Mystifizierung kommt auf, gerade weil die andere Seite nicht gelebt worden war. Die andere Seite der ach so freien Westbilder die Ostseite, die aber genauso ihre Bilder der spezifischen Subkultur kannte: welch explosive Mischung hätten beide wohl ergeben können.

Das fehlende Bild wird durch die Erzählung von Geschehnissen nicht ausgefüllt, es bleibt ein merkwürdiger, ja fast irrationaler Riss.

Was geschieht mit der Erinnerung eines Blinden, der an ein Gebäude kommt, das sein Gedächtnis noch kennt, das jetzt abgerissen ist und dieser Riss sein Körpergedächtnis entstellt, da nur die Imagination die Stadtlandschaft an dieser Stelle erneut zum Bild macht, das es für ihn nie gibt und gegeben hat.

Wo einst die Mauer war, die aktuell jetzt noch erinnert wird, tritt dem Blinden eine vollkommen andere Stadtlandschaft entgegen und dieses Entgegen ist wörtlich insofern zu nehmen, als seinen inneren Bildern nicht nur ein Fehlen entgegentritt, sondern eine andere Realität, die er politisch und historisch sich erklären kann, deren Realitätswechsel er ganz phänomenologisch dennoch als einen Bruch erfährt und empfindet, den er körperlich leben muss, erleben muss, ein Moment, der just in dem Augenblick auftritt, wenn er erblindet. Die Mauer, die nicht mehr ist, ist ein Bild, das es für ihn niemals gegeben hat und auch niemals geben wird, noch nicht einmal als inneres Bild, in welchem das Fehlen des in jeder Hinsicht Überflüssigen sich in ein Fehlen verwandelt, das noch einmal als Falschheit berichtigt werden muss, um eine Geschichte zu leben, die mensch als exzessiv gelebte bekannt werden muss ohne die andere Seite der Mauer dabei zu übersehen.

Die Mauer war das, was indirekt die Rebellion, den Aufstand, das große NEIN der Jugendbewegung in den Achtzigern in Westberlin ermöglichte, und was die Aufstände in Frankfurt oder Freiburg und Hamburg nochmal vollkommen anders erscheinen lassen musste. Die Mauer als die ganz Westberlin spezifische Grundierung der Jugendbewegung in den Achtzigern mit dem Häuserkampf und den Aneignungen der unterschiedlichsten Arten, die Möglichkeit einer vollkommen anderen Welt: der Terror des „antifaschistischen Schutzwalles“ war letztlich die Ermöglichung des geistig-emotionalen Grundes hierfür. Die erinnerte Stadtlandschaft wird in einer Weise gespürt, die sich an einem Damals brechen muss, um Erinnerung bildlos, ja als Bildverlust zu erinnern, den Verlust des Bildes der Welt, der den Mauerfall wie eine Metapher sehen wollte, eine Metapher für eine bildlose Welt, nicht mehr eingeschränkt durch die Einengung des Bildes, eine Befreiung hin zur Körperlichkeit, deren Haptik sich dem Hören und Spüren überlässt, einen Sinneswechsel vollziehend, der auch ein Nachsinnen über eine andere Wahrnehmung mit sich brachte, der natürlich eine andere Wahrnehmung erzwang: der ganze Körper musste von einem Moment zum anderen zu Augen werden.

Die Mauer wird imaginär und an ihrer Imaginarität erwächst das an ihr Gelebte, erwächst aber anders an ihrer Imaginarität als an ihrer realen Körperlichkeit. Die Mauer des Erblindeten war natürlich das Leben im Freiraum ihres westlichen Schattens, das hedonistisch, egozentrisch und politisch naiv sich allein selbst feierte.

Das Fehlen der Mauer verändert den Bezug zum Ort, hinterfragt das Vergangene auf eine ungewöhnliche Weise, zerstört ihn mitsamt dem Gelebten, das in eine Unmögliche Gegenwart zurücksinkt, die sich ihrer Vergangenheit nie so recht gegenwärtig gewesen war.

Die unmögliche Gegenwart wird zu einer nicht mehr möglichen Wiederholung, eine Unmöglichkeit die durch ihre Unmöglichkeit auch ihre Vergangenheit in Frage stellt, sie jedenfalls hinterfragt.

Sprechende Bilder

Eine Grenze erfahren, die nicht mehr existiert, für einen Blinden ist es wie eine Phantasmagorie, deren Entschleierung nicht minder phantasmagorisch auf ihn wirkt. Ein Einsturz von Gehörtem, Gerochenem über das sich Bilder von etwas ziehen, das es nicht mehr gibt. Zwischen den Bildern der Erinnerung und den neuen Bildern des Gehens, die das Gehörte und Gerochene evozieren, entfaltet sich Schritt um Schritt die Ahnung eines Raumes, der all dies aufnimmt und sich daraus ganz anders zu entfalten anschickt.

Der Entwurf einer Vielschichtigkeit von Bildern der Erinnerung, der Beschreibung, der erspürten Erfahrung des Gehens, der leibhaftigen Wirklichkeit HEUTE…

Eine kleine Straße in Kreuzberg nähe Oranienplatz, zu beiden Seiten der Straße vielleicht vier oder fünf Häuser, bis der Schritt von einer Mauer zurückgeworfen wird, wie ein akustisches Spiegelbild dem Näherkommenden sich selbst begegnen lässt.

Eine andere Kreuzberger Straße: Leuschner Damm, von der Mauer begleitet wie von einem Polizeispalier, eine Straße der Längsseite nach aufgeschnitten, noch einmal eine andere Erfahrung der Teilung, wörtlich sie im Gehen an der Straße erfahren, ein Gehsteig, der, die Straße gerade einen Meter breit, noch breiter ist als die mittlerweile nicht mehr befahrbare Straße.

Zwei Erinnerungen aneinander gesetzt, sich gegenüber gestellt, die der Achtziger des Häuserkampfes und die der Szene mit dem Mädchen und dem Aperol Spritz: die Situation des Bildverlustes, die berührte Mauer, das merkwürdige Echo von oben, ein Echo, das sich nach oben hin krümmte, von oben sich anschickte wieder herunter zu kommen.

Aber liegt in dieser Vielschichtigkeit des blinden Erlebens einer Stadt, in der der Autor einst erblindete, nicht vielleicht das Modell für Bildbeschreibungen überhaupt verborgen, ein dann eher literarischer Versuch, multiperspektivisch ein Bild aus der Sicht eines Erblindeten zu erfahren.

Gerald Pirner, Selbstportrait XI (Alexanderplatz im Winter), 2020 © Gerald Pirner

Der Erblindete lebt noch viel länger mit der Mauer als alle Sehenden im Westen, wo ihm kein Bild von ihrem Verschwinden erzählt. Erst als er die Luckauer hinuntergeht spürt er etwas, das sich vollkommen anders anfühlt, eine ganz andere Wirklichkeit aus einer vollkommen veränderten Wahrnehmung hervorgerufen. Die Atmosphäre in der Luckauer öffnet sich durch ein vollkommen verändertes Hören, die Hufeisenform zwischen Häusern der beiden Seiten und der Mauer ist, weil sie durch den Mauerwegfall aufgebrochen ist, in einer Art luftig geworden, wie sie Gedanken weniger konzentriert, vielleicht auch fokussiert erscheinen lässt. Das neuerliche Begehen der Straße scheint wie eine Metapher den Unterschied des Denkens damals und heute zu repräsentieren, eine Einengung, die den Hedonismus genauso beförderte wie die klare, dogmatische, ideologisch konsequente Ausrichtung auf ein Ziel, das sich musikalisch im straffen Hardcore Punk, der in einer Brutalität damals aufkam, die die Gedankenlandschaften passgenau reflektierten. Ob in England damals G.B.H. oder The Varukers und Antisystem und Discharge, in den USA Dead Kennedys, Minor Threat oder Government Issue: Musik des Alltags wie des Aufstandes, eine Musik, deren Charakter niemals wieder so präsent Alltag und Kultur des Aufstandes miteinander verwob und eine Aufstandskultur wiederspiegelte, die die Parolen der 68er von der Einheit von Politik und Alltag in Tönen des Hardcore Punk verwirklichte, die die melodisch eingefassten Protestsongs in ihrer Form zerrissen, dem Protest im Ausdruck bereits widersprachen, ihn in ihm Widerstand werden lassend.

Straßenverkehr quert auf der Sebastianstraße, die zu DDR Zeiten stillgelegt war, Autos durchfahren eine Mauer, die als Grenze, als Ende eines jeden Ganges im Westen irgendwann kommen musste. Hörbare Einschränkung einer jeden Bewegungsfreiheit, tastbarer Beton, hörbares Hindernis, vor seiner Oberfläche aufgestaute Geruchschicht, von der nicht sagbar gewesen war, was von ihr und was vom Angestauten herrührt.

Das Podest auf dem Potsdamer Platz, längst verschwunden wie die Attraktion für die Westler, die hier in die DDR hineinblickten wie in ein Aquarium, dessen Bevölkerung und ihre Lebendigkeit einzig der Einbildungskraft überlassen war, einzig Mauer Stacheldraht und Wachsoldaten, die auf der anderen Seite der Mauer eine Lebendigkeit bewachten, dass sie nicht herüberschwappte und die Lebendigkeit hinüber: Mauer gegen das Zusammenkommen von Leben auf zwei Seiten, dass da nichts hin- und herschwappte und sich subversiv ansteckte.

Das Bild als Zeichen genommen ist grundsätzlich etwas vollkommen anderes, wenn Sehende besagtes Bild auf sich wirken lassen oder wenn es von anderen Sehenden beschrieben wird und Blinde mit ihren Nachfragen die Beschreibung nachschärfen lassen, erst das beschriebene Bild kommt zu einem Sprechen, das über die Wirkung des Bildes auf den einzelnen Sehenden weit hinausgeht. Erst das beschriebene Bild konfrontiert die immer individuelle, immer persönliche Bilderfahrung der einzelnen mit einer Andersheit, die das Bild und seine Wirkung aufbricht. Wenn Sehende ein Bild sehen, sehen sie immer ein vollkommen anderes Bild als wenn sie beginnen, Blinden dieses Bild zu beschreiben. Präzise Nachfragen von Blinden schärfen den Blick der Sehenden, lassen sie noch viel mehr sehen. Die Blindheit wird zum Ursprung der Sicht auf eine noch einmal ganz andere Weise.

Bildbeschreibung wäre damit einerseits und zu allererst die Aufgabe der Erstellung eines Rahmens übertragen. Das Bild als etwas wie ein umgrenzter Raum, den die erzählende Bildbeschreibung dann zu füllen sich anschicken könnte.

Bildbeschreibung hat für den Autor eher etwas mit einer Art Sich-Vom-Bild-Anstecken-Lassen zu tun, einem erst sekundär mit der Reflektion verbundenen, eher mit einem vom Bild ausgelösten Echoraum zu tun, in welchem solcher Art Ansteckung ermöglicht würde. Die Ermöglichung aber gründet zu allererst auf der Bereitschaft sich einem Spüren öffnen zu wollen, das von der rein verstandesmäßigen Betrachtung behindert wird. Wirken lassen eines Bildes wäre der allererste Schritt, der vom Erspüren her sich dem Bild näherte, der gerade die Objektivität als Gebot der Bildbeschreibung ignorierte, der zu ihr vielleicht in einem zweiten Schritt wieder zurückkommen könnte, um das Erspürte hernach zu reflektieren.

Zu einer ethisch-moralisch brauchbaren Kategorie wird Ansteckung aber erst, wenn die Reflektion an diesem Punkt als kollektiver Prozess wieder eingeführt werden würde, das Wort den Begriff aus dem Bild erstehen lassen würde, die gegenseitige Spiegelung aus dem Gespür heraus sich wiederfände.

Das Bild fokussiert Geschehen zu erzählbarer Geschichte. Das Bild ist essentieller Bestandteil des Wortes. Im menschlichen Sprechen ist Sehen aus dem Blickwinkel der Evolution absolut notwendig. Wenn ein Blinder oder wie im Fall des Autors ein Erblindeter von Bildern spricht geht er natürlich weit über Visualität hinaus. Er spricht von inneren Bildern, die von Erzähltem, von Beschriebenem aufgerufen werden und dabei geht es nicht allein um Erlebtes, von Erlebtem Eingefärbtes, es geht auch um die visuell und verbal mögliche Fortpflanzbarkeit von Geschichte in Gedächtnissen von Körpern, in denen Empfindungen sich wiederfinden und verknüpfend sich überlagern können, um aus der Beschreibung ein Nachempfinden von Situationen aus Bild und Wort stützen zu können.

Wenn der blinde Autor vom Fall der Mauer spricht, spricht er von einer Zeit, die er zwar in Berlin aber im Westteil erlebt hat. Bilder werden ihm also bei der Gedenkstätte Berliner Mauer beschrieben, deren Bild sich also immer mit ganz anderen inneren Bildern erfüllt, als dies bei damaligen Bewohnern der DDR sich erfüllen durfte. Er wäre also selbst ein gutes Beispiel für das, was er zu entwickeln versucht. Bildbeschreibung als Einfleischung in das Bild selbst.

Das Bild setzte sich als Erinnerungsmarker im Körpergedächtnis ab, setzt sich als Reproduktion einer Bildbeschreibung fest, das sich in allen Sinneseindrücken im Körpergedächtnis als Bild, als Zusammenfassung eines Eindruckes eines jeden Sinnes niederschlägt, das zu anderen Sinneseindrücken hin öffnet, sie verbindet, zusammenschließt. Das Bild ruft so auch andere mit anderen Sinnen verbundene Sinnesbilder hervor, lässt den Hörenden in ihnen sich spüren.

Das visuelle Bild als Regulierung der inneren Bilder von Sehenden wie Blinden. Das Bild der Sehenden ist kein Produkt allein des Sehnervs, es ist ein Produkt des Gehirns, und das macht den Austausch, die Diskussion über Bilder von Sehenden und Blinden überhaupt erst möglich. Blinde haben nicht zu wenig Bilder, sie haben viel zu viele, sie haben aber kein Bild, das all die Bilder reguliert ja kontrolliert und sie letztlich über die Visualität domestiziert.

Zu einer Leibhaftigkeit kommen müssen, die in ihrem Zentrum zu einer Empathie beiträgt, die aber im Erblindeten immer nur von vorher bereits entwickelten Bildern ausgehen kann, die das Bild dabei nur wieder aufrufen kann, Bild und Bildbeschreibung als immer vor allem als Wiedererinnerung zu sehen, Wiederholung und zugleich immer offen für Lernprozesse.

Das Sehen eines Bildes setzt Bildung voraus. Bildung ist eine Erziehung zur Öffnung des Bildes, zu einer höchstmöglichen Offenheit hin zu einem empathisch zu verstehenden Bild.

Bilder sehen muss erlernt werden allein schon, um sich der Bilderflut des Heute erwehren zu können.

Die Bildbeschreibung ist die Beschreibung nicht allein für die bildlos Wahrnehmenden, sie ist die Beschreibung eines anderen Zuganges zum Bild überhaupt. Die Beschreibung eines Bildes ist die Aufschlüsselung eines Bildes durch das Wort, legt die Worte dem Bild zu Grunde, gründet das Bild dadurch vollkomen neu.

Das Bild gründet einen Rahmen, den die Beschreibung als Erzählung ausschöpft, sich wie ein Hineingehen in das Bild selbst erfüllt.

Das Bild liefert in seinen Detaills Momente, aus denen heraus überhaupt erst etwas wie eine Verkörperung einer Situation geschehen kann.

Sprechende Bilder machen einen perspektivischen Blickwinkel des Dargestellten wie der Darstellung fest, zeigen alles Dargestellte entweder aus der Sicht des Westauges der Kamera oder aus der Perspektive der Ostsoldaten. Wenn Momente des Alltags erscheinen, ähneln sie sich dann dennoch bis zur Verwechselbarkeit.

Damit aber wird die Bildbeschreibung zu einer Notwendigkeit, die nicht nur Blinden und Sehbehinderten zugedacht werden muss. Sie wäre die Voraussetzung für die Herausbildung von Bildern in Gruppen, die sich Bilder als gemeinsames Produkt gemeinsam aneignen. Gerade weil das Bild niemals nur eine Wahrheit in sich birgt, weil ein jedes Bild eine Vielzahl von Wahrheiten in sich vereinigt und eine Diskussion über ein jedes Bild unabdingbar macht. In einer Runde aus Blinden und Sehbehinderten, aus gebürtigen Westdeutschen und in der DDR Geborenen wurde Bild um Bild besprochen und mit den Audiodeskriptionen verglichen. Der blinde Autor aus Bayern lernte so den anderen Teil der Stadt kennen und erzählt in diesem Text von einer Zeit, die zugleich den Fall der Mauer wie seine Erblindung mit sich brachte.

Das Nichterfahrene des Ostens, gespürt an dem, was sich zur selben Zeit im Westen ereignete, erinnert dreißig Jahre später und eben doch noch einmal ganz anders: Nachvollziehbarkeiten leibhaft nachgespürt.

Die eingemauerte Stadt als Biotop, die durch die Grenze sichtbar verlassen werden musste, für den Wessi aber auch verlassen werden konnte. Unzählige Male über Dreilinden nach Bayern getrampt, die Blicke der Grenzer, während die Ausweise auf einem überdachten Fließband von einem Grenzer zum anderen liefen, der den Westberlin Verlassenden erneut genau in Augenschein nahm. All dies nur teilweise in der Ausstellung Sprechende Bildern abgebildet, Erinnerungen aber in ihnen erweckt, die das Bildmaterial auch für den Wessi enorm inspirierend, anregend machen. Die Lampen, die von mehreren Seiten die Straße ausleuchten, die drei gekreuzten Schienen als Panzersperren, das Durchfahren der Sperranlagen mit dem Wessiauto, die Realität im Nachhinein, nach dem Mauerfall, nach dem Fall des Sehens. Die Wiederkunft der Sicht im sprechenden Bild.

Gerald Pirner, Selbstportrait XII (Alexanderplatz im Winter), 2020 © Gerald Pirner

Das Bild der Mauer wurde vom blinden Autor gesehen, nur so kann der Blinde seine Eindrücke ordnen, das Gehörte etwa einordnen. Das Bild des Inneren fungiert hier genauso wie das visuelle Bild und erweist die Grenze der Eindrücke der anderen Sinne als vor allem und zu allererst dem Sehen verpflichtet. Das Erinnerungsbild muss eingreifen, würde der Blinde sonst doch in ein okkultes Gewaber versinken. Der Halt der Geburtsblinden läuft über die Sprache, über das Wort, das hier wie ein Protokoll der Sinne fungiert, und wenn nicht aus der Erinnerung gespeist, von den Sehenden her übernommen werden muss.

Wird aber nicht von einem Begriff des Gesehenen aus Vergangenheit oder Gegenwart eingegriffen, werden die Sinneseindrücke als einzig von Materialien hervorgerufene Eindrücke aller Form entzogen und das Material selbst bildete sich hier eine Form aus. Für den Erblindeten öffnete sich dann allein die unermessliche Welt der Assoziationen, die alle Weltorientierung in sich ertrinken lassen müsste, die Form von seiner Materialität sozusagen aufgesaugt.

Fleisch-Werden-Müssen als Modell einer Bildbeschreibung entlehnt sich das phänomenologische Konzept von Maurice Merleau-Ponti und der Philosophie seiner Spätphase aus Das Sichtbare und das Unsichtbare, den Chiasmus als Modell des Wahrnehmens, Einwickeln in das Wahrgenommene, das Sich-In-Das Bild-Hineinwickeln, um es selbst zu werden, um so in dieser Art des Bild-Sehens eine Art der Bildbeschreibung zu entwickeln, die mit der orthodoxen Art der Bildbeschreibung nicht so viel zu tun hat, weil es eben genau das tut, was unter Bildbeschreiber*innen verpönt ist: eine absolut subjektive Bewegung hinein in das Bild aus dem Gespür und dem Gefühl zu entwickeln, das aber auch Öffnungen enthält und aufbaut, die Wege der Reflektion ermöglichen.

Das Bild und auch die Bildbeschreibung muss gespürt werden, ein Raum muss nicht einfach wahrgenommen werden, der Blinde muss dieser Raum werden, muss das Gesehene werden um in seinem Fleisch sich ein Bild machen zu können, von dem er zu sprechen weiß.

Solcherlei Wege in die Reflektion des Bildes sind von der Geschichte her anzugehen, der Geschichte als Historie wie der Geschichte als Biografie. Anhand des Beschriebenen, der Infragestellung der Situation ist sie zu bewerkstelligen. Das immer Unbestimmte eines Spürens einer Situation als Atmosphäre ist die Körperlichkeit, in die hinein das Wort greift, um sich an ihr vollzusaugen, andererseits durch seinen Eingriff sie, die Situation, die Atmosphäre zu ordnen, um sie für eine weitere Reflektion aufzubereiten.

Das Sprechen der Bilder in der Bernauer Straße

Abgeschirmt durch einen Kopfhörer, ist dem Betrachter, der Betrachterin an einer jeden Station der Bilder, die alle und ein jedes für sich zu den Besucher*innen sprechen, ein singuläres Hören ermöglicht. An einer jeden Station wiederholt sich eine Intimität, die einerseits alles andere an Geräuschen und Welten von anderen Stationen abzuschließen versteht, einzutauchen in ein jedes der Bilder wie in eine vollkommen eigene Welt ermöglicht, deren Wiederholung andererseits auch eine Art Monotonie im Raum erstehen lässt, aus der ein jedes der sprechenden Bilder und ein jedes für sich herausreißt, in der Situation eines immer wieder wiederholten Angesprochen-Seins einen Raum einer Welt hervorrufend, der auf eine ganz eigene Weise die Beziehung von Gesellschaft und Individuum an sich vergegenwärtigt und wie nebenbei zum Ausdruck bringt.

Vierzehn Stationen sind es, aus denen sich die Ausstellung zusammensetzt, vierzehn Stationen wie die des Kreuzweges in der Kindheit in der Kleinstadt der Jugend des Autors in Bayern, den Weg hoch zur Wallfahrtskirche inmitten des Berges der Stahl- und Bergwerkstadt. Der Westdeutsche, vor vierzig Jahren des Studiums wegen nach Berlin gekommen, erlebte in der Zeit, in der die Mauer fallen sollte zugleich auch seine Erblindung.

Dass sich das eine wie das andere als Markierung dieses Lebensabschnittes gegenseitig einschreiben sollte, hätte man wohl erwarten können. Das Gegenteil war der Fall: das eine verdrängte das andere hinter seinem Bild oder seiner Bildlosigkeit.

Nicht wissend, dass er sie bald überhaupt nicht mehr sehen würde, waren einige Bilder geblieben, die er jetzt, wenn er über diese Zeit reflektiert, erinnert.

Da war der Häuserkampf Anfang der Achtziger gewesen, eine Zeit, deren Raum ohne die Mauer nicht allein vollkommen anders sich gestaltet hätte, deren Zustandekommen wohl so sich gar nicht ereignet hätte. Ohne die Mauer hätte sich nicht nur die politische Situation vollkommen anders gestaltet, wäre der spekulative und mafiöse Westberliner Korruptionssumpf rund um die Bau- und Wohnungspolitik gar nicht möglich gewesen. Ohne die Mauer hätte es den Häuserkampf in Westberlin niemals gegeben, da gerade die Mauer mit ihren Randlagen eine ganz bestimmte Bevölkerungsschicht überhaupt erst hier sich hatte ansiedeln lassen. Leerstandsprämien, Entmietungspolitik trugen zur Begünstigung eines Klimas des Biotops bei, der die Stimmung der Rebellion so wunderbar zu tragen vermocht hatte.

All die Spekulationsaffären um Baugrund, im Mittelpunkt die Garski-Affäre, wäre ohne Westberlin als Insel überhaupt nicht möglich gewesen. Die Mauer hatte eine Art postmodernes Dorf geschaffen, deren Rebell*innen sich genau mit den neuen Gedankengebäuden von Postmoderne und Poststrukturalismus vollsaugten, um beides mit existentialistisch aufgeladenen Anarchomarxismus a la Guy Debord, Raoul Vaneigem und des von ihnen geprägten Situationismus aufzuladen und zu einer explosiven Mischung auf der Straße wie einen Tanz unter Punkrock kommen zu lassen. Der Rhythmus der Blaulichter gab den Takt vor, unter dem sich der Steinehagel explosiv entladen wollte, eine Jugendbewegung hervorrufend, die ihre Wurzel in Italien sah, von der sie sich auch den Namen für die militante BRD-Linke ausborgte: die Autonomia, deren Subjekte sich dann in der BRD als die Autonomen bezeichneten, den Mythos Berlins nach Italien zurücktragend: „Bandiere Nere su Kreuzberg“, wie es in einem Radiobeitrag von Radio Onda Rossa hieß.

Die militanten Kerne waren an der Mauer damals zusammengezogen, im Turm, dem Leuschnerdamm 9 und in der Luckauer 3, später dann im Fraenkelufer, dessen Besetzung und versuchte Räumung am 12.12.80 der unmittelbare Auslöser des Häuserkampfes wurde, eingeleitet durch Straßenschlachten, die sich über drei Tage hinzogen und sich vermehrt in die Zentren des Konsums am Kudamm verlagerten.

Jahre später, der Autor war mittlerweile vollkommen erblindet, nichts war mehr übrig von einer Realität, die er so haptisch zu sehen sich damals mit Blick einbildete zu sehen. Ein Blinder geht durch eine Straße, die durch die Mauer längswärts durchschnitten gewesen war, der Leuschner Damm. Er stößt in Gedanken auf die Mauer in der Luckauer, Brechung der Sinne und ihrer Wahrnehmung auf eine ganz eigene Weise, dass er sie an diesem Tag damals das letzte Mal so zerschnitten, so verletzt erleben würde, er wäre länger bei diesem skurrilem Bauwerk geblieben wie bei etwas, das seine Jugend und die Jugendbewegung, der er einst angehörte geprägt hatte, das nicht allzu viel später einfach verschwunden sein würde, nur noch gespürte Erinnerung, Erinnerung eines Militanten, der Stationen seines Lebens als Sehender und danach als Blinder abgeht wie man Erinnerungen abgeht, um sie zu etwas zusammenzubringen, was eine Haptik der Geschichte evozieren könnte.

Die Ausstellung Sprechende Bilder aus der Sicht eines blinden Wessis

Die Bildbeschreibungen, im Kopf eines blinden Westberliners, der einige Jahre zuvor von Bayern nach Berlin umgesiedelt war. Den Ostteil hatte er nur als Zehnjähriger in einem etwas besonderen Blick erlebt, wo er als Mitglied des Windsbacher Knabenchores an einem kurzen illegalen Konzert teilnehmen sollte. Aufgefordert von der Chorleitung, wenn sie von Grenzern angesprochen würden, sie seien Teil eines Schulausfluges aus Franken, da der Chor nicht nur aus Knabenstimmen bestand ein Klassenausflug eher unglaubwürdig wirkte, da ja auch Tenor und Bassstimmen mit an der Kontrolle stehen würden, aber so genau nahm es dann durchaus überhaupt niemand und das kleine Konzert in einem Raum einer Gemeinde irgendwo in der Nähe der Friedrichstraße verlief dann nicht nur vollkommen unspektakulär, es wurden aber auch nicht die kolossalen Bachmotetten vom Chor dargeboten, für die der Chor berühmt war. Einige Liedsätze unter anderem von Orlando di Lasso oder eine kleinere Barockmotette von Jakob Handl sowie ein Psalm von Heinrich Schütz bildeten das sehr abgespeckte Programm, bevor man wieder über die Friedrichstraße zurück in den Westen zog.

Die Mauer, die den Verlauf der Straße abrupt beendet, auch im Westteil der Stadt war dies Realität, nur dass sie dort auf vollkommen differenzierte Weise in Besitz genommen wurde. Da war etwa die Köpenicker Straße, die zur illegalen Piste für die Trainingsrunden von Führerscheinprüflingen umfunktioniert wurde, von keinen Polizisten gestört, die in Westberlin auch anderes zu tun hatten, als Jagd nach Leuten ohne Führerschein zu machen.

Die Grenzanlagen hatte der Junge bei seiner ersten Berlinkonzertreise ebenfalls von einem der Touristen-Ausschauplattformen erleben dürfen, als er später nach Berlin gezogen war, widerte ihn der Wessivoyeurismus an und er mied solche Orte des Westtriumphalismus, bei denen es immer unweigerlich nach Springer und Löwenthal roch.

Die Grenzanlagen wiederum sah er ein jedes Mal, wenn er von Dreilinden nach Bayern trampte, sah die Masten mit den Neonstrahlern in die verschiedensten Richtungen zeigen, die skurrile Förderanlage für die Ausweise, sah die Grenzer hinter den Scheiben, die Ausweiskontrollen war ein jedes Mal amüsiert über die Frage, ob man Waffen mit sich führe. Diese Frage einmal aus Jux zu bejahen, führte zu einer stundenlangen Razzia des Autos und wurde dann in Zukunft tunlichst vermieden. Als man im Winter mit einem alten Opel und Motorschaden auf der Strecke geblieben war, es war wohl kurz hinter Rudolfstadt, die ganze Strecke der DDR Autobahn war also noch zu befahren, rekrutierten die Grenzer einen anderen Wessi dessen Karre sie einfach anhielten und ihn dazu verdonnerten, uns nach Berlin zu schleppen. Nach dem das Tempo auf den Transitstrecken sowieso sehr begrenzt war, sollte das für den Fahrer des anderen Autos auch nicht so unerträglich ausfallen.

Nachdem in der Ausstellung Sprechende Bilder aus dem Westen Richtung Ostberlin immer Grenzanlagen zu sehen sind, viele Bilder von den Aussichtsplattformen aus geschossen wurden, kam zum distanzierenden Blick der Kamera auch die ganz reale Distanz der Sperre in den Blick, brachte mit dem Blickwinkel immer die Westrealität mit herein, ließ den Blick als Blick eines Westlers auf den Osten immer sogleich erkennbar werden, ein Bild aus dem Westen gesehen werden, wiederholte dabei den Status der Beobachtung einer Einsperrung, der in den Bildern, die durch die DDR-Sicht aus dem Blick der Grenzer noch einmal von einer anderen Seite her unterstrichen wurde.

Die Mauer auf Westseite: riesige Fläche für Graffiti, nutzbar als Plakatwand, Schutzraum für eine ganz eigene Kultur, die sich in den Plakaten auf der Berliner Mauer selbst spiegelte, um die Welt hinter dem Spiegel zu übersehen. Wehrdienstflüchtlinge, Studenten, was das Personal des Häuserkampfes 1980 genauso aufstocken sollte, wie die Unis in Berlin, die auf eine Geschichte des breiten antikapitalistischen Kampfes in der Mauerstadt stoßen sollten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Gerald Pirner, Selbstportrait XI (Alexanderplatz im Winter), 2020 © Gerald Pirner