Konzepte zu einigen Fotos von Gerald Pirner, gezeigt in der Ausstellung Schmerz und Berührung in der Brotfabrik Berlin.
Die Ausstellung zeigt Arbeiten von Gerald Pirner und der sehenden Fotografin Sonia Klausen. Sie ist noch bis zum 23.08.2020 zu sehen.
Bringt die Bildbeschreibung den Blinden den Inhalt eines Bildes näher, ist es das Konzept der Bilder blinder Fotograf*innen, das die Umsetzung ihrer inneren Bildern in Fotografie zeigt.
Die blinden Fotograf*innen allein sind es, die diese Bilder tatsächlich gesehen haben, wie Thomas Mann seinen Fautus davon sprechen lässt, dass allein der Komponist seine Komposition gehört hat.
Im Folgenden finden sich drei Beispiele für solche Konzepte der Bilder des blinden Fotografen Gerald Pirner.
Wege des Lichts
Als der erblindete Fotograf Gerald Pirner vor einigen Jahren mit der Technik des Lightpainting zu experimentieren begann, war er noch voll romantischer Euphorie: er glaubte, er erobere sich das Licht zurück. Von derartigem Machtwahn ist er allerdings mittlerweile abgekommen und sein Ansatz wurde um einiges bescheidener. Das Bild wird vom Licht bestimmt und den Blinden bleibt nichts anderes übrig als das Licht dabei zu beobachten, was das Licht mit seinem Modell so anstellt. Das wiederum lässt er sich von Sehenden beschreiben, die dabei Zeuginnen seiner inneren Bild- und Denkvorgänge sind.
Diese Wege des Lichts zu beobachten setzt sich das Bild gleichen Namens zur Aufgabe, zitiert dabei geradezu ikonische Bilder der Kunstgeschichte, Francis Bacons schreiende Päpste etwa. Macht wird hier in der existentiellen Grenzsituation der Angst oder des Schmerzes dargestellt, die nichts mehr von der Machtfülle der kirchlichen Potentaten an sich hat, die nichts an Macht mehr übrig gelassen hat: ein menschliches Gesicht der Unmenschlichkeit, ein Mensch in der Enge der Angst oder des Schmerzes, die aller Machtfülle verlustig ist. Die existentielle Kraft der Angst oder des Schmerzes macht den Papst erst zum Menschen.
Der Gedanke
Zwei Hände im Vordergrund, die an die betenden Hände von Albrecht Dürer erinnern, nur dass sie nicht wie zum Gebet geschlossen erscheinen.
Etwas davon abgerückt ein gedoppeltes Gesicht, das, indem es sich doppelt, seine Identität in Frage gestellt sehen muss und doch von den beiden Händen aus gesehen, vom Aktiv und vom Passiv aus gerade seine Einheit wiedererlangt.
Kein Körper ist zu sehen, der beide Teile als einem einzigen Menschen zugehörig auswiese. Der Erblindete reflektiert darin seiner tastenden Wahrnehmung nach, spürt in den beiden sich berührenden Händen sowohl Berührung wie Berührtwerden, sieht den gedoppelten Kopf ohne Körper als etwas, das in der Verdoppelung beides wieder aufnimmt.
Ein Prozess des Denkens ist hier in einem Bild dargestellt, das auch den Ursprung des blinden inneren Bildes darstellt, das sich in einer jeden Berührung wie einem jeden Berührtwerden einstellt. Zugleich ist es ein Reflektieren dieses Prozesses als etwas, das im Bild angehalten werden muss, um im Wort reflektiert werden zu können.
Der venezianische Spiegel II
Ein Mann mit grauem Bart und grauem Haar, der aus einem Spiegel nach rechts herausschaut. Dass es sich bei diesem Bild um ein Spiegelbild handelt, ist nur durch eine Hand erkennbar, deren Zeigefinger auf den Spiegel deutet und der sich in den Spiegel hinein verlängert.
Auf der rechten Seite ein fackelartiger Lichtstrahl in umgekippter U-Form.
Die Augen des Mannes geöffnet, der Mund geschlossen.
In Erinnerung an eine Pose des französischen Philosophen Gilles Deleuze in Hut und Mantel vor einem Spiegel entstand dieses Selbstporträt in Venedig und erinnert dabei einerseits an den Freitod des Philosophen, der sich 1994 aus einem Fenster seiner Wohnung in Paris stürzte. Andererseits sieht der Blinde den Begründer der Situationistischen Internationale, Guy Debord, schaut ihm zu, wie er vor einem Spiegel langsam seine Hand mit einem Revolver hebt und mit Blick hinein in den Spiegel, den Revolver an der Schläfe, abdrückt.