Die Geburt des Bildes aus dem Geist des Tanzes III: Die lebende Skulptur
Jess Curtis/Gravity mit (in)Visible in der Tanzfabrik Wedding
Richtungen in Schritten angezeigt. Die Sehenden allein sehen wohin die Schritte gelenkt werden. Dem Blinden eröffnet sich etwas, was dem Geschehen einen Raum gibt, etwas, das sich allein dadurch auszeichnet, dass Handlungen einen Ort, eine Möglichkeit haben sich zu vollziehen. Eine Möglichkeit wird eröffnet, ein Ort gegeben, dass es Geschehen könne, keine Äußerung darüber, was es sei, was da geschehe nur welche Geräusche die Handlung hinterlässt, wenn sie geschieht. Was aber geschieht und was kann der Blinde mit Gewissheit behaupten. In einer Welt, in der einem Blinden der ausgewiesene Hauptsinn fehlt, wird er zum Haupt allen Sinnes, des Sinns und der Sinne aus seiner Sinnlichkeit, sein ganzer Körper wird Auge. Allein der Glaube ist es, der ihm die Welt vermittelt, solange er sich auf die Beschreibungen der Sehenden verlässt, solange er sich auf seinen Glauben an Welt und Umwelt einlässt, die ihm von Sehenden als Welt vermittelt wird, deren Beschreibung er wieder nur glauben kann, lässt er sich nicht gänzlich auf seinen Körper ein, der ihm noch ganz andere Bilder vermittelt, die den Sehenden offensichtlich fehlen. Der Glaube, ohne den der Blinde keine Straßenkreuzung überquert, darf sich im geschützten Raum verabschieden, der Körper darf unkontrolliert den Schritt übernehmen, der Blinde hat einen Raum gefunden, wo er blind sein kann.
Im Zentrum von (in)Visible stehen Geschehnisse, die vom Sehen abgekoppelt sind. Andere Bilder müssen aus anderen Sinnen entwickelt werden. Aus dem zu Hörenden sich von ganz anderen, neuen Bildern sich befallen lassen. In einem geschützten Raum ist dergleichen möglich und freilich nur hier, denn draußen außerhalb der Hallen der Tanzfabrik droht spätestens an der nächsten Straßenkreuzung bildlos Lebensgefahr.
Gesehene Bilder haben mit inneren, von anderen Sinnen hervorgerufenen Bildern insofern zu tun, als innere Bilder von gesehenen, von visuellen Bildern verdrängt, überlagert oder verdeckt werden. Innere Bilder schwingen aber unterschwellig immer mit, sind bei Entscheidungen vielleicht sogar handlungs-oder gedankenbestimmend. Theater, Tanz sind ästhetische Orte, an welchen experimentell mit inneren wie äußeren Bildern umgegangen werden könnte. Könnte, denn welcher Sehende lässt sich bei all den gesehenen Bildern auf die Bilder seines Inneren, den Bildern seines Körpers ein, vertraut ihnen, lässt sich von ihnen führen.
Hier geht es aber freilich nicht darum, die einen Bilder gegen die anderen Bilder auszuspielen, das also erneut zu reproduzieren, was von den Sehenden tagtäglich an Herrschaft des Gesehenen gegen die inneren Bilder ausgespielt wird. Zu sagen, was zu sehen sei, sei banal oder sonst wie negativ einzuschätzen. Hier muss es um eine Art Dialog, ja eine Art der Dialektik der einen Bilder mit den anderen gehen, und Rezeption wie Sprache überhaupt obliegt es Möglichkeiten eines Zusammenspiels der diversen Bildtypen miteinander auszuloten.
Jess Curtis und Gravity schlagen ein Laboratorium vor, in welchem Bilder aus Bewegungen geboren werden, deren Ursprung eben nicht die optische Sicht ist, zumindest nicht allein oder ausschließlich, sie schlagen vor, dem Entstehen des Bildes aus der Bewegung zuzuhören, Berührungen nachzuspüren, sie als Tableau Vivant, als lebende Skulptur zu ertasten, sie schlagen vor, Bilder zu erhören, zu erspüren.
In einem geschützten Raum ist solch ein Experiment möglich. Umso verwunderlicher ist es dann doch, dass die Augen erneut zur Überprüfung des Gehörten genutzt werden, anstatt sie einfach zur Bereicherung innerer Bilder, die von anderen Sinnen hervorgerufen werden, zu nutzen, um so nur wieder den Sehsinn als zentralem Sinn zu bestätigen. Wo aber sind die inneren Bilder der Sehenden, die sie mit ihrem Gesehenen vergleichen, die sie bereichern könnten. Es ist gerade so, als ob sie geradezu darauf warten, endlich mittels Sicht erneut Tabula rasa zu veranstalten, das was immer und immer wieder geschieht erneut zu wiederholen: das gesehene Bild muss die inneren Bilder überdecken, sonst finden sich die Sehenden nicht zurecht, verstrickten sich in ihren Phantasien, verlören die Orientierung.
Sehende sagen dem Blinden, was geschieht, bestimmen seine Wahrnehmung. Indem Jess Curtis den Sehenden die Sicht nimmt zwingt er sie in ein anderes Sehen hinein. Er teilt die Welt des blinden Raumes in Faktoren auf, die den Teilnehmerinnen als Welt und Weltexperiment begegnen werden, lässt diese Faktoren beschreiben um sie im Fluss der Performance ineinander zum Fließen zu bringen.
Gegen Ende von (in)Visible sagt Sophia Neises, eine der Performer*innen: „Es hat etwas mit Spurenhinterlassen zu tun.“ Vielleicht ist das Sehen des Blinden nichts anderes als ein Lesen von Spuren hinein in Bilder, die in solcherlei hinterlassenen Spuren angelegt sind. Aber vielleicht ist Sehen, auch das Sehen der Sehenden zu einem beträchtlichem Maße Auflesen von hinterlassenen Spuren, die das Gehirn zu Sichtbarkeit zusammensetzt, die aber ohne Erzählung nicht möglich wäre, ohne Sprache, die Bilder nicht nur interpretierte, die sie vorformte, die für die Formung von Bildern entscheidend wäre: der Ursprung der Bilder ist nicht das Auge, es ist das erzählende Gehirn, das das Rohmaterial, das Rohbild der Netzhaut zusammenfügt. (in)Visible von Jess Curtis und Gravity ist ein Labor, das solcherlei Auflesen von Spuren experimentell auslotet und erprobt. Vielleicht ist (in)Visible der Vorschlag einer anderen Art von Erzählung, vielleicht sogar einer anderen Körpersprache, einer visuell bildlosen Körpersprache, die das Bild nochmal ganz anders zu fassen versuchte, das Bild aus dem Sehen eines Erblindeten, ein bildloses Sehen.
Der Blinde, auf einem Stuhl sitzt er und es geschieht etwas mit ihm, eine Handlung wird an ihm vollzogen, die etwas in seinem Körpergedächtnis aktiviert, es in ihm erneut verkörpert, erscheinen lässt und als Erinnerung eines Bildes in seinem inneren Auge auftauchen lässt, das er, das sein Gedächtnis in sich trägt, Spuren davon in seinem Körper eingeschrieben, wiedererkennt, ein Bild wiedererkennt, das er vor Jahren gesehen hatte. Das beschriebene Bild selbst werden, dadurch ein Teil der Aufführung werden, als Skulptur in einer Handlung selbst erscheinen, das gesehene Bild Jahre später werden. Die Audiodeskription, das gesprochene Wort, in welchem zu Sehendes dem Blinden, in Worte verwandelt, Bilder erzeugt, die sich in seinem Inneren ansammeln um Geschehen, eine Geschichte zu ergeben, sich ihm als Geschichte zu ergeben. Bilder, die entstehen, wenn dem Blinden Bilder beschrieben werden, Bilder aber auch, die der Erblindete in sich trägt und die die Beschreibung nicht nur aktualisiert, die ihm helfen, sie vielleicht auch wieder loszuwerden, wenn sie beschrieben werden, die ihm helfen, Bilder zu verflüssigen, um sie in einer künstlerischen Verarbeitung nochmals ganz anders hervorzubringen.
Spuren, sie sammeln. Spuren sammeln, sie auflesen, sie ordnen ohne sie zu hierarchisieren. Erwartungsloses Warten. Mit sich geschehen lassen, etwas über sich ergehen lassen, ohne sich dagegen zu wehren. Objekt werden bis die Sprache kommt, bis das Behandelte angesprochen wird.
Berührung und Ethik. Berührung als Ethik. Berührung aber auch als Übergriff, von einem Blinden tagtäglich erfahren und eine jede Berührung macht ihn zum Objekt. „Ich lasse das Subjekt spüren […]“, und was das als Subjekt bezeichnete Menschenwesen erfährt ist, dass es in diesem Moment zum Objekt gemacht wird. Sprache allein genügt nicht, Sprache allein schützt nicht davor zum Objekt gemacht zu werden. „Ich sage dem Subjekt, dass es jederzeit Nein Danke sagen kann.“
Das blinde Subjekt sagt nichts, es wartet wie weit die Performer*in gehen wird und es tut dies, weil es an eine Ethik glaubt, dass es sich dennoch bei der Performer*in in guten Händen befindlich glaubt. Noch als sie ihm eröffnet, sie spucke jetzt in ihre Hände und massiere ihm mit ihrem Speichel das Gesicht, lässt er es zu. Er genießt die Wärme der leicht feuchten Hand, vermag die einzelnen Finger zu unterscheiden, glaubt den Ringfinger von Xenia Taniko herauszuspüren, der mit leicht anderem Druck über die Haut sich schiebt. Neben ihm eröffnet Rachael Dichter einem Subjekt, dass sie ihm die Zunge in das Ohr stecken werde, andernorts küsst Sherwood Chen einen Mann, der sich durchaus auf die Intensität seiner Zärtlichkeit einlässt.
Das Inferno
Während der erste Teil der Performance als Bestimmung eines Ortes, als reine Anwesenheit in Zeit, letztlich als Leere zu sehen ist, wird der zweite Teil von Gesten des Windes, der Hexerei erfüllt ja belebt, kommt mit ihnen die Ordnung, das System, die Zahl, das Ritual als seine Verkörperung, als seine Verlebendigung, kommt die Dichtung als Metapher: eine regelrechte Weltschöpfung und ihre Hervorbringung als Sinnlichkeit in Gestalt. Erkannt wird aber all dies nur von seinem Ende her, das Körper in Gestalt seines Vergehens darstellt.
Zu sehen ist, dass im selben Moment von einer solchen Gestalt nichts mehr übrig bleibt als in der Hölle zu Grunde zu gehen.
Schnitt. Das Höllentor taucht auf, im Mailverkehr war es aufgetaucht. Das Höllentor und die Aufforderung, sich mit ihm zu beschäftigen. Nicht ahnend was der Choreograph will. Zumindest der blinde Autor und seine Assistentin sind erst einmal verwundert. Auguste Rodin, Das Höllentor, Tor zur Kunsthalle Zürich, das als Hauptwerk des Bildhauers gilt.
Bilder, einzelne Ausschnitte, Bildbeschreibungen der Assistentin, Filme, der Text von Dante, die ersten hundert Seiten der Übersetzung des Inselverlages eingescannt. Bilder in Dichtung, Poesie der Qual, Poetik der Abrechnung, Anspielungen auf Zeitgenossen, verflucht sie in den Höllenkrater hinein und dort im Inferno sie wiederzusehen, der Grausamkeit eines Dichters ausgeliefert.
Im Schmelztiegel des blinden Gehirns werden sie alle wie in einem alchemistischen Glaskolben unendlich erhitzt und verschmolzen, werden auf der Suche nach der Materia prima in lebende Formen hineingekocht. Kondensiert in der Hirnschale, kreisen sie und stürzen sich herab auf den blinden Geist, den Geist des Blinden.
In der Skulptur kommt die Leidenschaft, die Liebe, kommt die Bestialität, der Mord zu sich. Es kommt in der Performance das Zeichen, kommt die Beseelung des Gedankens in ein System, wird Leben. In einer wunderbaren Reduktion erscheint Leben als Untergang, der nur noch ästhetisch zu ertragen ist: Dante als Existentialist, die Hölle als Schauspiel vor der Kunst und der Kunsthalle als ihrem Tempel.
Die Performance nun als prekäres Spiel, das als Inszenierung Welt durchaus mitsamt seiner Sinne und Sinnlichkeiten auf den Kopf zu stellen in der Lage ist und das gerade, wenn es sich auf den Ursprung allen Sinnes besinnt, des Körpers: der Sinn als Sinnlichkeit. In der Performance von Jess Curtis und Gravity ist der Sinn zu allererst als die Sinnlichkeit des ganzen Körpers zu verstehen. Aber verrät Jess Curtis hier nicht gerade sein eigenes Konzept, die Ideale einer vor allem körperbasierten Wahrnehmung, deren Erprobungen ja gerade den zentralen Inhalt seiner Performance bilden und tut er das nicht gerade mit dem sinnlichen Tableau vivant in der Mitte des Stückes, das die ganze Performance in sich gliedert. Die Sinnlichkeit verlässt hier die Rolle, die sie bis zu diesem Zeitpunkt innehatte, überlässt das Spiel der Darstellung, die bis dahin keine Rolle gespielt hatte, wird von einem Moment auf den anderen „inhaltlich“, erhält ein Gesicht, aber was für ein Gesicht!
Die Sinnlichkeit wird zum Sinn oder genauer: sie wird tastbar zum Ende allen Sinns und aller Sinnlichkeit, sie wird zum dargestellten Blick ins Inferno als Folge der Sinnlichkeit, zum Inferno als Strafmaßnahme für ein allzu sinnlich gelebtes Erdendasein, als endgültiger Abschied also vom Sinn, wie der Sinnlichkeit in einem. Das Ende des Körpers bei dessen irdischen Überbewertung.
Ein ungewöhnlich gebundener Zopf, dessen Windungen der blinde Autor nachstreift, über den schmalen Hals der Sophia Neises streift, dem Streifen des Kostümes nachhörend, den linken Arm ausgestreckt und an seinem Ende die Faust nachgetastet. Drei dieser Schatten stehen da und beschreiben jeder für sich ihre Position wie in Art der Bildbeschreibung. Er sucht sich an das erste Bild der lebenden Skulpturen zu erinnern: Der Kuss. Ein Bild, das Xenia Taniko zuvor mit einer Zuschauer*in bildete. Dann aber ein anderes Bild: „Ich lege meine Hand auf die Schulter, ich springe, ich fange.“ Rachael Dichter bespringt Sherwood Chen geradezu und der fängt sie auf. „Je suis belle!“, zuerst von den beiden, dann später wiederholt und von allen Performer*innen ausgesprochen, „Ich bin schön.“ Und alle Geschlechter sprechen die weibliche Form des französischen Satzes aus. Das Publikum feixt, das Publikum lacht.
Der Anfang allerdings einsam, nachdenklich, wie Gedanken und Bildern im Kopf nachsinnend, am ehesten als melancholisch zu bezeichnen, und als Melancholie könnte Der Denker zuoberst der Plastik des Höllentors von Rodin auch bezeichnet werden. Wie ein Beobachter, aber auch wie ein geistiger Schöpfer all des Geschehens da unter ihm, unsinnlich sinnend, sich dann doch hineindenkend, hineindichtend in die Hölle unter ihm, der Dichter selbst.
Als eine Art Zäsur innerhalb der Performance lässt der Choreograf seine Companie Gravity poetische Bilder als lebende Skulpturen aus Dantes Inferno nachstellen. Das Höllentor eröffnet es einen Querschnitt von Leid, Verbrechen und Leidenschaft. Der Blinde lässt sich bei den Proben als Der Denker formen, die Selbstsicht des Dichters mit Blick auf das düstere Geschehen der Hölle, der Strafe, der Qual: der Blinde sitzend und die Tänzer*innen stellen mit seinem Körper die Pose nach, die sein Gedächtnis als einst gesehenes Bild erinnert: der eine Arm hoch zum Kinn, das durch den Handrücken gestützt wird, den anderen Arm um den Ellbogen des einen gelegt.
Zwar erinnert er das Bild als einst Gesehenes. Über zwei Arten der Sinnlichkeit erinnert er aber dies von zwei Richtungen her, von außen als Ertasten, als Formgewinnung aus einem ertasteten Körper in einer Pose, zu spüren an einer Tänzer*in bei der Tastführung vor der eigentlichen Performance als Erspüren der Skulpturoberfläche im Gegensatz zu einem gespürten Volumen. Das andere, dasselbe Bild nur in anderer Weise gewonnen, auf andere Art sich im Körper des Blinden sich niederschlagend. Im Ertasten ersteht es als Zeit einer Zeichnung, im Nachstellen wird es lebende Gestalt: der Blinde sitzt in einer Pose, wird sie, verkörpert sie, die einfachste Art der Bildvermittlung, der Bildbeschreibung: nichts ist mehr zu beschreiben, stattdessen ist der Blinde das zu beschreibende Werk einfach selbst geworden.
Drei Arten der Bildwerdung des inneren Bildes der Blinden also: die Bildbeschreibung, das Ertasten einer Figur und das Aufstellen, das Nachstellen einer Pose.
Die dritte Dimension
Aber ist es tatsächlich das selbe. Erzeugt das Ertasten der Oberfläche einer Skulptur einerseits nicht ein Bild, einer Zeichnung hinein in den Körper des Blinden nicht unähnlich, einer Zeichnung in den blinden Körper hinein, die dort Fleisch wird lebendiges Bild wird, dreidimensionales Bild wird, ein Bild aber, das unter der Haut liegt, gespürt vom Blinden, der es nicht los wird, es auch nicht mehr in Worten bestätigt spürt. Es füllt ihn von innen heraus aus, er spürt seinen Umfang in sich, spürt seinen Körper als das Volumen des Ertasteten, er spürt eine Zweidimensionalität, die er in seinen Körper als Dreidimensionalität überführt.
Das Nachstellen eines Bildes aber, das Skulptur werden der Betrachter*in, macht die Betrachtung selbst zu einer Leibhaftigkeit, wird Körper aber nicht des Werkes, sie wird Verkörperung des Dargestellten.
Grundsätzlich sind es wohl grob drei Weisen in denen Blinden Bilder oder Objekte nähergebracht werden können und alle drei unterscheiden sich vor allem in der Art der sinnlichen Zeit, der Zeit, in welcher Imaginationen in ihren unterschiedlichen Arten sich bildlos einstellen: Da ist zum einen und wohl am geläufigsten die verbale Bildbeschreibung, sie könnte am ehesten als innere Bildwerdung, allein verursacht durch die Stimme anderer gefasst werden, es ist das Bild, Geschenk des anderen eingebettet in eine menschliche Stimme, die für sich bereits niemals neutral ist, die das Beschriebene immer einfärbt noch bevor auch nur ein inhaltlicher Gedanke überhaupt vermittelt ist. Es ist für den Autor die Erstehung des anderen aus der Beschreibung und der inneren Bildwerdung, die Zeit mit dem anderen, die Zeit aus dem anderen. Da ist zum anderen das Ertasten, die Führung der Hand durch die Form des Objektes, das Ertasten, das immer etwas Übergriffiges an sich hat, etwas Usurpatorisches, etwas von „ich nehme mir das andere“. Und schließlich die Objektwerdung der Blinden, die in einer Aufstellung das Beschriebene in seiner Körperlichkeit wird. Das Andere verschwindet im Eigenen, erfährt so eine gewisse Nivellierung, erfährt aber auch das Erspüren des Anderen draußen, dem es sich aber öffnen muss, um es eben nicht sich einzuverleiben. Das Bild ist nicht nur etwas, das sich einfach immer vom Auge fressen lässt, das Bild ist auch ein Schutz, ein Schutz vor Übergriffigkeit und Begrabschen. Fehlt es, ist der Körper vielleicht noch nackter als nackt, ist er der Handgreiflichkeit ausgesetzt.
Das Bild als Darstellung menschlicher Gestalten zieht Momente des Dargestellten aus einem Werk heraus, reduziert das Werk freilich in der Beschreibung, einer Reduktion der nur dadurch entgegengewirkt werden kann, dass tatsächlich auf drei Sinne der Vermittlung zurückgegriffen werden muss, will mensch dem Werk wirklich näher kommen, ohne freilich je das Gesehene zu erreichen.
Wie der Blinde der Raum werden muss, der ihn umgibt, muss er das Werk werden, das ihm beschrieben wird. Er wird aber freilich nicht das Werk sondern bestenfalls das im Werk Dargestellte, und noch genauer: er wird lediglich ein Aspekt des im Werk Dargestellten. Die Tänzer*innen nehmen einerseits seine Glieder und legen sie so aus, dass er vom Sehen her für Sehende eine Skulptur ergibt. Er spürt dies, spürt die Figur, zu der er wird. Andererseits formen die Tänzer*innen ihn, er spürt ihre Hände, er hört sie atmen, hört sie sprechen, er wird, wird aus ihren Körperäußerungen zu einem aus seinem Inneren heraus spürbaren Werk. Er spürt die Handlung, spürt aus ihr die Intention, spürt das Gerichtete, spürt das Wort, er spürt das, was Edmund Husserl einst mit dem Satz „Zu den Sachen selbst!“ sagen wollte. Er ist diese Intention, er ist dieses Willentliche er ist zu dieser Sache geworden, die ihn im Verlauf der Performance zum Subjekt machen wird, an diesem Punkt aber ist er viel mehr als ein Subjekt und aus diesem Vielmehr kann er schöpfen, kann ein begeistertes Volumen werden, ein Volumen, das immer alle Subjektivität übersteigt.
Da sitzt also der Blinde und wird Rodins Der Denker, wird damit der Anfang der Hölle. Welcher Hölle aber? Der Hölle vor ihm, der Hölle die er nicht sieht, der Hölle von der er nur hört. Die Figuren erscheinen ihm als Lebende und zugleich als Verkörperungen von Stein, von Toten, als welche sie ja im Inferno auch zu sehen sind. Ugolino und seine Söhne wird da als lebende Skulptur nachgestellt, zusammen mit seinen Kindern, die er auffrisst, die Tänzer*innen schieben ihm die eigene Hand als Klaue in den eigenen Mund, Performer*innen und Zuschauer*innen verschmelzen im Blick der Sehenden, werden im Halbdunkel als ein Ineinander gesehen.
Das Ertastete und das Beschriebene verschmelzen in der Imagination: die großen Schritte der Xhenia Taniko, etwa, mit ihrer Berührung in dem Moment, als sie den Kopf leicht zur Seite auf ihre Schulter herabschiebt, die Arme dabei in die Höhe mit gespreizten Fingern.
Was eine Skulptur ist, eine lebende Skulptur, ein Tableau vivant… Menschenmaterial scheint es lediglich zu sein, mit dem umzugehen ist, das zu umgehen ist. Der Umgang um es, das Einatmen einer Szene durch den Autor, der in sich das Um-Sich-Herum zu seinem eigenen Körper werden lässt. Gerade in dieser Frage aber und reflektiert an der Auseinandersetzung um Subjekt und Objekt demonstrieren die Tänzer*innen zugleich ihre Antwort: Menschen sind hier alles andere als Material, sie sind handelnde Subjekte und die einzelnen Performances sollten dies mehrmals bezeugen.
Die Performer*innen kommen hinter einem Stuhl, auf dem eine Zuschauer*in sitzt zusammen, sammeln sich dort, berühren sich gegenseitig, halten ihre Köpfe aneinander. Sie warten bis alle angekommen sind, sie, die im ganzen Raum verteilt waren. Die Köpfe aneinander wie ein Kopf, der in ihren Handlungen sich vereinzeln, disparat werden, individuelles Handeln werden wird, Handeln werden muss um Raum zu werden, um in die Breite zu kommen, von einer Intensität in die Breite einer Handlung zu kommen, für die die Kraft reicht, eine Kraft werden, sie zu ihrer Ausdehnung bringen, sie dorthin kommen zu lassen, das Potential werden, das möglich ist.
Tiffany Taylor: „Ich strecke meinen linken Arm nach unten und mache eine Faust“, sagt sie auf Englisch und Gabriel Christian wiederholt genau diesen Satz und ebenfalls auf Englisch und schließlich Sophia Neises, die ihn auf Deutsch wiederholt. Alle drei vollziehen genau diese Pose im Moment, in welchem sie sie aussprechen. Ausgesprochen wird auch die Art in welcher sie ihren Kopf jeweils halten, und dass sie ihn unnatürlich zur Seite halten. Aus der Konstellation löst sich Sophia Neises und nimmt den rechten Arm des blinden Zuschauers, winkelt ihn an um seine rechte Hand ihm unter das Kinn zu legen, ihm der auf einem Stuhl sitzt. Tiffany Taylor sodann, nimmt den linken Arm und legt ihn vor dem rechten Arm auf das rechte Knie des Blinden, der hier die Position einer Zuschauer*in einnimmt.
Ein Mann vor ihm, lacht er oder weint er, hinterlässt er vielleicht aber auch nur theatrale Spuren, denen der Blinden in seinem Inneren nachtasten muss. Ein Schreiten, leise, auf Zehenspitzen, geht ein Mensch dabei nach vorne oder rückwärts: welche Richtung nehmen Bewegungen, die weder gesehen noch gespürt werden, im Kopf des Blinden an. Ist Richtung nicht vielleicht überhaupt etwas, das im Kopf von Wahrnehmenden entschieden wird.
Vielleicht ist die Antwort eines Blinden auf die Frage danach, was Tanz sei, per se ketzerisch, denn entweder er tanzt selbst, oder er bekommt bestenfalls einen Rhythmus mit, gerade noch vielleicht eine Atmosphäre. Vielleicht aber ist die Bildlosigkeit gerade die beste Voraussetzung über Tanz nachzudenken.
Tanz ist zunächst nichts anderes als ein Körper in Bewegung, der diese Bewegung vermittelt. Er steckt entweder an und fordert darin zum Mittanzen auf, oder, von den Augen vermittelt, ist er ein visuell beobachtetes Ereignis, eine Bewegung also, die die Tänzer*in an sich selbst erfährt, wie sie in ihrer Bewegung von Zuschauer*innen beobachtet wird, Zuschauer*innen die sie im Anblick ihres Tanzes ästhetisch ansteckt, allein dass sich hier bereits das Problem auftut, dass den Blinden diese Ästhetik angeblich entgeht. Das eigentliche Problem aber ist, dass im Bildlosen die Ansteckung nur scheinbar entfällt.
Jess Curtis und Gravity nun ermöglichen eine Unmittelbarkeit, die sich von keinem visuell allein erfassbaren Bild mehr abhalten lässt, die andererseits aber niemanden zur Sinnlichkeit zwingt. In mehrerlei Richtungen bringt die Bewegung Wahrnehmbares bildlos hervor, einerseits in der Berührung des Körpers, im Spürbaren der Luft, die er in Bewegung setzt und letztlich vor allem im Hörbaren der Bewegung und der Gegenstände selbst. All diese Sinnlichkeiten, die dem Blinden bildlos zufallen lösen wiederum Bilder in ihm aus, übersetzen das Erfahrene in Bildern.
Tanz also wird zu einem direkten Dialog zwischen Tänzer*in und Zuschauer*in. In Jess Curtis Tanzperformance wird dies durch die klare Anerkennung des Individuums als Subjekt betont, ja gefördert, mit Sätzen wie „Ich blase dem Subjekt in den Nacken“, „Ich ertränke das Subjekt heute nicht in der Spree“, „Ich spucke in die Hände und gebe dem Subjekt eine Massage“, und „Ich ziehe dem Subjekt die Strümpfe aus“. Solche Sätze bringen das Subjekt als Objekt hervor, machen es aber ebenfalls zum Objekt der Zuschauer*innen: der Tanz ist unter uns. Die einzelne ist Adressat*in diverser Aktionen. Der Tanz aber ist tatsächlich nichts mehr was aus der Ferne geschaut oder genossen werden kann. Der Tanz ist unter dem Publikum, er taucht auf und verschwindet wieder, nicht aber ohne einen spürbaren Eindruck hinterlassen zu haben. Der Tanz ist eine Verabredung zum Treffen einzelner Menschen in einer Zusammenkunft, um die anderen auf eine ganz andere Weise zu erfahren. Tanz ist ein Akt der Durchdringung eines Menschen nach dem Konzept eines anderen Menschen, der nichts weiter als ein Angebot macht.
Die Hölle aber ist nicht der andere. Die Hölle ist der kurze Moment bevor Mensch sich dazu entscheidet, sich auf Bildlosigkeit einzulassen. Es ist der Moment die Hand oder andere Körperteile von Unbekannten in seine Unmittelbarkeit treten zu lassen. Andererseits ist es aber auch der Versuch eines Blinden mittels Tanz zu seinen inneren Bildern auf eine ganz neue Weise vorzustoßen, eine vollkommen neue Art von Bildern zu erfahren, eine vollkommen andere Art von Bildern in Bewegung zu erspüren, fleischliche Bilder zu leben.
Tanz ist hier bei Jess Curtis und Gravity ein Konzept, ist ein Vorschlag, ist das Gegenteil einer Vorführung. Nichts wird vorgestellt, nichts wird vorgeführt, niemand vor allem wird vorgeführt, wird aber auch nicht präsentiert. Keine Stars, keine Ego-Shooter, Akteure nur in Begleitung, in Begleitung von Publikum: eine ganz andere Art der Realisierung der Forderung aus den Sechziger Jahren, Mauern zwischen Akteuren und Publikum niederzureißen. Hier aber vor allem keine abstrakte Forderung, hier einfach praktiziert. Und aus dieser Sicht machen auch die lebenden Skulpturen einen ganz anderen Sinn: Ein Körper, seine Bewegung, ein Blinder, der den Körper berührt, erspürt, wie er sich bewegt. Die Unterbrechung der Bewegung, das Innehalten wie sie in der Diana von Versailles mit ihrem versonnenen Griff nach dem Pfeil aus dem Köcher auf ihrem Rücken zum Ausdruck kommt, wie sie der Blinde vor einigen Jahren ertastete, allen Verboten zum Trotz, vom Gesicht über die Arme, das Kleid bis hinunter zum Knie, zum Bein, das schlank aus gebundenen Sandalen emporsteigt.
Nicht der Begriff des Einfrierens, wie er in der Photographie gerne Verwendung findet, träfe für dieses Anhalten zu. Eher scheint es ein Innehalten zu sein, wie es von einem Gedanken ausgelöst ist. Aus dem Inneren der Figur scheint diese Unterbrechung zu kommen, eine Unterbrechung, dieses Anhalten, das eher Innehalten ist, ein Räsonieren eher als ein Reflektieren.
Streift der Blinde über eine Skulptur wie die Diana von Versailles so spürt er dieses Innehalten in der Bewegung der dargestellten Göttin, spürt natürlich vielleicht auch nur seine Einstellung, die ihm aus der Beschreibung erwächst, auch er hält aber in diesem Moment hier unter der Berührung und in seinem Tasten der Skulptur inne. Eben dieses Innehalten ist es, was der Blinde als Der Denker des Auguste Rodin darstellte, die Unterbrechung des Sinnlichen, das er erneut auf zwei Weisen sinnlich erspürte: die Sinnlichkeit des Tastens und das Körperwerden des Anderen.
Der andere Sinn wäre also hier das Ende der eingefrorenen Bilder, es wäre das Ende der versteinerten Skulptur, das Ende der rein visuell zu betrachtenden Ballettfiguren, es wäre die Wiederauferstehung des Tanzes aus der bildlos gespürten Bewegung, Erstehung einer anderen Sinnlichkeit.