(in)Visible. Jess Curtis/Gravity. Foto: Sven Hagolani - https://www.hagolani.com/

Die Geburt des Bildes aus dem Geist des Tanzes II: Das verkörperte Bild

Jess Curtis/Gravity mit (in)Visible in der Tanzfabrik Wedding

Hören, dem Hören nachhören. Schritte, Geräusche von Schritten. Geräusche von Bewegungen, von Kleidern in Bewegung. Stimmen, Männer, Frauen sprechend, flüsternd. Langsam verwandelt sich der Körper des blinden Zuhörers, füllt sich mit einem Raumvolumen, wird Raum, mehr als Raum, wird eine diffuse Bewegungsvielfalt, deren Vielstimmigkeit an Geräuschen und menschlichen Lauten und Äußerungen er in ihrem Verlauf in ihm sich ablagern, ja überlagern spürt. Aufmerksam beobachtet er sein Gedächtnis dabei, wie es Stimmen und Handlungen Namen zuzuordnen sucht, wie es dem sprachlichen Geschäft des Ordnens und Erkennens nachgeht.

Spüren und dem Spüren nachspüren. Im Körper das Echo der Wahrnehmung wiederauffinden, wiederauffinden als seine eigenen Schatten gebrochen im Wort, gespiegelt in seinen Bedeutungen. „Namen, die sich mit Bedeutungsbüscheln, Dickichten aus Eigensinn und übertragenem Sinn umgeben […]“, in diesen Worten spricht Maurice Merleau-Ponty in Das Sichtbare und das Unsichtbare vom Ineinander von Sehen und Sichtbarkeit. Bildlos überlässt sich ein Blinder seiner Wahrnehmung, bahnt sich in Worten einen Pfad durch die „Dickichte“ seines Spürens und Empfindens, um sich von Sprache in etwas herausführen zu lassen, das ihm Verstehen eröffnet.

Die Musik, ein stumpfer Rhythmus zunächst, wie von einer Maschine, eine elektronische Schleife von Sekunden innerhalb einer übermäßigen Quart angerissen, kurz angetupft die Töne, dass sie wie auf einer kleinen Trommel gespielt klingen. Elektronische Glasperlen in zitterndem Geflirr. Eine Tonbewegung nach oben und eine andere korrespondierend nach unten. Blechartige Schläge eingeflochten, dicht das Ganze zu einem hypnoseartigen Band verwebt.

Stimmen, die dem Tonmaterial aufliegen, wie eine Zeichnung auf einem Farbteppich schwimmen könnte. Zunächst eher getrennt, das Tonmaterial sich verdichtend, an Lautstärke gewinnend, Schreie ausgestoßen, die der Klang mehr und mehr überlagert, ja schluckt. Langsam lässt die Intensität der Musik nach bis sie verschwindet. Erschöpfung und Erschöpfung zu hören am Atem, am Nachstöhnen.

Der Klang kehrt zurück, kehrt auf einem in eine Sexte ausgespreizten Ton zurück. Verspielt lassen sich tropfenartige Partikel aus Klängen in ihm nieder, ein pulsierender Bordun, der in seinem Inneren etwas vom unablässigen Schlag einer Glocke hat. „It is something about, es hat etwas zu tun mit […]."

Und dann wieder ganz anders: während beim ersten Auftauchen der Musik bei einer Probe noch ein Spiel von abstraktem und konkretem Geräusch der Körper auszumachen war, eine Auseinandersetzung zwischen Gebein und Fleisch, nahmen die Geräusche eine Woche später eine ganz andere Rolle ein. Jetzt nahm sich die Musik von vorneherein zurück, gab dem Fleisch der Körperbewegungen und den Stimmen der Tänzer*innen viel Raum, in welchem sie sich einnisten und entfalten konnten.

Was im Verlauf der Performance noch verstärkt sich herausschälen sollte, eine Art dialektischer Beziehung zwischen Objekt und Subjekt, eine Art Dualismus beider, der dann später aufgelöst werden würde, zeichnete sich in der Musik, wie sie anfangs von Sam Hertz vorgeschlagen war, als Denkrichtung ab, deren Spur dann später, in der Subjektpassage der Performance als Infragestellung eines Unterschiedes von Subjekt und Objekt aufgeladen werden sollte.

Hier, und noch einmal muss auf den französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty zurückgekommen werden, der in seiner Philosophie die Scheidung zwischen Subjektivität und Objektivität ganz einfach dadurch infrage stellt, dass er seinen Hörern empfiehlt, die Hände wie zum katholischen Gebet aneinander zu legen. Dem Blinden kommt ein Bild seiner Kindheit in den Sinn: die Betenden Hände des Albrecht Dürer. In ihnen wird dies wunderbar sichtbar, ist doch die berührende Hand zugleich auch eine berührte Hand. In der Tonsetzung des Samuel Hertz wird diese Auseinandersetzung sehr deutlich und die Entwicklung der Musik in der Performance in ihrem Verlauf der Proben machte dies dem Autor nochmals eindrücklich deutlich.

Das innere Bild

Bilder, deren Entstehen aus Bildern bildlos beobachtet wird. Bilder aus Berührungen, aus Geräuschen, Bilder die Stimmen folgen, die sich Worte unterlegen, die mit Handlungen in Zusammenhang gebracht werden sollen. Ihr Zusammenhang ist freilich nur teilweise von der Wahrnehmung gestiftet. Die Bildlosigkeit des Bildes nun, das blinde Bild spürt verschiedene akustische, haptische und taktile Momente, die durch die Wahrnehmung des Blinden erneut wiederum Bilder hervorbringen, die sich aus Überlappungen von Bildern herausschieben und verdichten.

Eine Tänzer*in beginnt um die Szene herum zu laufen, eine andere später zu galoppieren und es ist, wie der Blinde später feststellt, dieselbe, die nur Gangart und Geschwindigkeit geändert hat, als umzirkle dieser Lauf der Xenia Taniko eine Zerrissenheit von vielen Geschehenspartikeln, hielte sie in einer Bewegung wie einem Bild zusammen, das eher ein Wort ist. Auch hier ist im Geschehen eine Verdichtung in einem Bild, zu einem Bild vielleicht eher zu spüren, eine Bewegung aus vielen Partikeln zusammengesetzt, die im Blinden ein Bild in Bewegung hervorrufen, eine Geste vielleicht eher, für die das Auge nicht unbedingt einen präzisen Begriff finden würde, da es seinen Bereich weit übersteigt. Der Blinde erspürt ihn und sucht im Schreiben das Geschehen nachzuvollziehen. Schreiben aber ist ein Prozess, etwas Sukzessives. Damit kommt das Schreiben des Blinden der Geste der Bewegung sehr nahe, der Bewegung des Bildes, einem bewegten Bild, das der blinde Autor hört und spürt, eine metaphorische Verdichtung, die Sprache zuschaut, genauer zuspürt, wie sie ihre Begriffe findet, sich von ihnen über viele Sinne finden lässt. Ein Begriff, der in jedem Falle nicht hinreichend wäre ist hier der Begriff des bewegten Bildes, denn die hier vom Blinden wahrgenommene Bewegung geht in eine Dichte, eine Vielschichtigkeit, die das Vokabular, das Sprache mit augenvermittelter Bewegung verbände, sie beschreiben würde, übersteigt. Eher findet für den Blinden eine Bewegung ins Innere, in sein Körperinneres statt, löst ein Bild in seiner Beschreibung haptische Momente in seinem Inneren aus, worin das Bild, sein inneres Bild, das von den sinnlichen Eindrücken hervorgerufen wird, sich verankert. Die Bewegung des Bildes ist eine Bewegung hinein, und bringt in dieser Bewegung hinein auf ihrem Weg quasi das innere Bild hervor, das seine Entstehung, den Weg hinein ins Fleisch als seinen Körper nicht verliert, ja nicht einmal verleugnen kann: aus diesem Gefilde der inneren Bilder wird man Bilder so schnell nicht wieder los, wenn das überhaupt jemals gelingen sollte.

Dann tritt Gabriel Christian an den Blinden heran und kniet sich neben ihn und beginnt auf Englisch zu flüstern: „Ich bin der, der ganz schnell englisch spricht und wahrscheinlich verstehst du mich nicht. Aber wenn du nur einen Satz verstehst, vielleicht nur ein Wort […].“

Der Autor sinnt den englischen Worten nach, sinnt einem unvollständigem Sinn nach, sinnt etwas nach, das nie eine Antwort zu finden vermögen würde und vielleicht liegt hier ja eine vollkommen neue Art von Sprache begründet, eine Sprache, die aus etwas kommt, das sich nicht mehr mit einem „Das-Ist-Das-Und-Das-Ist-Das“ zufrieden geben will, eine dunkle Sprache, eine körperliche Sprache, eine Sprache, die getanzt werden will und im Tanz sich in einem ganz anderem Empfinden ausdrücken will.

Das Dunkel im Tanz und sein Körper

Die „Dickichte“ Maurice Merleau-Pontys, könnten sie nicht als ganz körperliche Sprachfindungen gesehen werden, irgendwo zwischen Assoziation, Metapher und Inkantation, einer liturgischen Religionspraxis nahe der Magie, die Raum und Figur eher beschwört als beschreibt, die alles von allen Seiten in sich einlässt, um es mit inneren Blickräumen anzureichern.

Nicht einzelne Personen tauchen da im gehörten Tanz auf, ein voller Gesamtkörper ist es, der sich im Blinden einmischt, den der Blinde auseinanderdifferenzieren muss, um den getanzten Körper in vielen Einzelkörpern in sich zum Leben kommen zu lassen. Es ist als ob bildlos, ungeschieden ein riesiger vielschichtiger Körper im Blinden ein undifferenziertes Wesen fände, den der Blinde dann in Namen und Namen zu Gestalten ausdifferenziert, die allein in seiner Imagination sich zunächst befinden. Der Tanz, das ganze Geschehen ist es, das sich als eine einzige Bewegung im Körper des Blinden einnistet. Namen sind es dann, Stimmen, die er mit ihnen verbinden kann, Stimmen, Namen und Berührungen, unterschiedliche Weisen von Berührungen sind es, die ihm dann helfen, das Gesamt des Tanzes sich im Denken auseinanderzuhalten.

Nicht aber einzig aus einem ganz individuellen Blick des Blinden auf den Fortgang der Performance lässt sich dies ausfindig machen. Der gesamte Probenprozess entwickelt sich unter Jess Curtis von experimentellem Finden und Ausloten einzelner Posen und Gesten hin zu einem kollektivem Akt aus dem ganz singulären choreografischen Guss, der aber immer aus dem von den Tänzer*innen erarbeiteten Material erwächst.

Da wären die Hexengesten und ihre Entwicklung im Laufe der Proben beispielsweise: auf ein imaginäres Kommando saugen die Performer*innen Energie vor sich mit ausgebreiteten Armen aus einem imaginären Körper auf, um sie weiterzugeben, ja weiterzuschleudern und all dies unter geräuschvollen Ein- und Ausatmen. Aus einer individuellen Prozedur wird aber später eine Art kollektiver Ritualakt unter einer alle Performer*innen zusammenbringenden Choreografie, die Teile des Publikums umkreisen lässt.

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Beschwörung und Zauberei

Herausgerissen aus dem Volumen des Raumes in der Berührung der Kostüme von Michiel Keupers, aus unterschiedlichen Materialien und Stoffen sind sie zusammengeschneidert, getragen und bewegt von den Performer*innen. Eine jede Bewegung vor allem Geräusch, keine Differenz die ein visueller Eindruck stützen könnte.

Hörbar sind die Kostüme in der Berührung, sind sie im Tragen, und vor allem in den dunklen Passagen, in denen sich Geräusche dem Publikum annähern und eine Art unbestimmter Erwartung in der Empfindung des Blinden auslösen. Die Materialien, deren Gesamt in der Berührung mehrerer Kostüme ihre Einheit in der Vielheit finden. Die Berührung der Tänzer*innen in den Kostümen, ihre unterschiedliche Statur, zuletzt Tiffany Taylor, die ein kurzärmliges Oberteil trägt mit Ärmeln, die sich wie gepufft anfühlen, eine Bordüre darüber, reliefartig über der Haut. Vorsichtig tastet der Fuß der blinden Tänzer*in über den Boden, orientiert sich an den auf der Bühne ausgeklebten Leitstreifen, die auch den sehenden Tänzer*innen während der Performance im Dunkeln Orientierung geben.

Nicht nur ein Unterschied zwischen zwei Arten des Rauschens ist wahrnehmbar. Die unterschiedlichen Arten ihrer Produktion sind in die Inszenierung eingeflochten. Da ist einerseits das Rauschen der Kleidung und andererseits das Rauschen des Windes, hervorgerufen durch Herumschleudern der Vorhänge aus Alustreifen aller Tänzer*innen und insbesondere durch Sherwood Chen, der die auf einer Holzschiene angebrachten Streifen zwischendurch wie einen Sakralgegenstand, wie eine Monstranz vor sich herträgt, einem Priester nicht unähnlich, der Wind und Wetter als Regenmacher heraufbeschwört.

Wahrnehmung wird so nicht nur als Wahrnehmung der Wahrnehmung dargestellt. Beobachtbar wird auch die Produktion einer Atmosphäre und deren Auswirkungen auf die Sinne: wenn Berührtes, Gehörtes, Besprochenes im Kopf des Blinden sich überlappen, löst dies eine Reflektion, ein vielschichtiges Bild der Überblendung aus, dokumentiert dies eine ganz andere Art der inneren Bildproduktion. Kaum dass Bilder, hervorgerufen von einzelnen Sinnen sich einstellen, werden sie von den Eindrücken anderer Sinne unterbrochen, werden nicht einfach nur ergänzt, werden auch auf eine gewisse Weise verstört. Die verschiedenen Momente der Tastführung, der Audiodeskription wie der eigentlichen Performance überlappen sich auf diese Weise und ergeben gemeinsam eine ganz andere Art von Bild.

Zugleich aber ist der Raum der Performance von Gravity ein Raum, in welchem keine schmerzhaften Bilder zu sehen sind, keine Frau, die ihre Zitterattacken nicht verbergen kann, die sie auch nicht verbergen müsste. (in)Visible ist eine Performance, die eine bildlose ganz körperlich erlebbare Scham vorstellt, die eine Ethik der Berührung vorstellt. In einem Publikumsgespräch im Anschluss an eine Aufführung wurde dies auch ganz zentral betont: berühren und berührtwerden. Jess Curtis betont hierbei, dass ihm als weißer und weißhaariger Mann, „einem CIS-Mann eine solche Zurückhaltung selbstverständlich erscheinen muss.“

In einem Gespräch erzählt Jess Curtis dem Autor davon, dass er vor kurzem von einer Journalistin gefragt worden sei, wovon sein Stück handele, was sein Inhalt sei. Abgesehen davon, dass die reine Körperlichkeit, die sich in dem Stück von Jess Curtis selbst ausdrückt, ist für den blinden Autor die Einkleidung von vermeintlichen Naturgeräuschen in eine Produzierbarkeit, die mit den Hexengesten im Dialog steht, mit einer magischen Sicht des Ineinanders von Wesen und Kräften im Gespräch, animistische Anklänge aufkommen lassend, Gedanken an eine sympathetische Weltsicht, eingewoben in eine andere Art der Arithmetik, die an Goethes Hexeneinmaleins aus der Hexenküche des Faust erinnert und im Rhythmus der beschwörenden Umrundung des Publikums durch die Performer*innen webt sich etwas Nebelhaftes akustisch aus, das das Gesamt der Tänzer*innen in einem archaischen Ritus versammelt.

Das Wahrnehmbare der Welt als Einkleidung menschlicher Wesen durch Kräfte, oder als Dinge, die menschliche Wesen bedienen oder handhaben, vielleicht auch anders herum: Menschliche Wesen, derer sich Kraft und Kräfte bedienen. In der Performance unterscheiden sie sich durch den Klang bereits, die durch die Gehbewegungen hervorgerufenen verrauschten Schritte der Performer*innen, die im Dunkeln eine Präsenz hervorrufen, die nie präzise einzuschätzen ist, die etwas Unheimliches mit sich führen. Im Gegensatz dazu die Bewegungen, die das Geräusch des Sturmes hervorrufen. Wuchtig sind sie aber lokal begrenzt, eher atmosphärisch wirken sie, wirken als Deutbarkeiten, als im Begriff klar zu umreißen.

Ein Unterschied wird spürbar, der zwischen der Intensität einer Berührung und dem Fortgang eines Geschehens das solcherlei Intensität mit sich reißt oder von ihr mitgerissen wird. Zwei Zeiterscheinungen, eine eher meditative und eine eher progressive Zeit, mit deren unterschiedlichen Spielarten Jess Curtis mit Gravity experimentiert: die Intensität einer Kraft der Berührung und das Geschehen, das sich aus der Intensität speist. Letztendlich könnte die Entstehung des inneren Bildes aus der Berührung heraus ganz ähnlich gedacht werden: die Intensität der Berührung und die Reichweite, wohin sie in der Imagination reicht, als Kraft reicht, andere Bilder anzustoßen, Bilder miteinander zu verweben und beieinander zu halten.

Alles was in der Performance auftaucht hat einzig den Sinn, sinnlich aufzutauchen, es verweist auf nichts außerhalb der Performance, transportiert keinen äußerlichen Gehalt.

Wahrnehmung als Wahrnehmung des Hervorbringens von Wahrnehmung. Nicht einfach eine Zeit, die die Zeit des Geschehens ausbremst, indem sie aufzeigt, was hinter Geräuschen und Empfindungen steckt und zugleich ein Geschehen von einem anderen Sinn anders auffassen lässt. Wahrnehmung zugleich als Verzauberung wie Entzauberung, als Aufzeigen wie Naturgewalten aus ihren wahrnehmbaren Effekten produziert werden, wie das Ritual zugleich dies ins Denken einbaut, wie nahe Kunst an all diesen Momenten liegt.

Die Alustreifen des herausgeschleuderten Windes, des Sturmes, in der Tastführung werden sie Blinden und Sehbehinderten nähergebracht, die sie tasten und ihre unterschiedliche Materialität erspüren, die Unterschiedlichkeit der von ihnen ausgelösten Geräusche dadurch verstehend. Momente der Performance werden in der Tastführung erklärt, die die Performance selbst dann in einen Zeitfluss bringt, vermittelt durch Erklärungen der Audiodeskription. Die Audiodeskription, mit der Tastführung von Simone Deting verzahnt: Einerseits die haptischen Qualitäten, das berührte Material und seine materialen Unterschiedlichkeiten dünnere Alustreifen, die in unterschiedlichen Längen herabhängen, ebenso dickere Plastikstreifen und beide bringen vollkommen unterschiedliche akustische Qualitäten hervor, andererseits die Akustik aber auch das Visuelle, die wunderbaren Bilder, die für Sehende entstehen wenn die Streifen, die in unterschiedlicher Weise eingefärbt sind bewegt werden, wenn durch sie, die von der Decke herabhängen Performer*innen hindurchgehen, durch sie hindurchtauchen, wenn sie sie von den Magnetflächen nehmen und sie in Bewegung setzen, sie herumschleudern. Bilder im Visuellen lassen akustische wie haptische Bilder entstehen, lassen ihre Verwicklungen, ihre Überlappungen im Kopf des Blinden im Entstehen beobachtbar erscheinen, ein experimentelles Lehrstück über die Zusammensetzung von Bildern im Kopf, die die klare Hierarchie des Hauptsinnes, des Gesichtssinnes aushöhlen. Der Raum scheint so in die Zeit einzugreifen, hält ein Moment einer Bewegung fest, und gerade dadurch ermöglicht er Bewegung überhaupt erst, Bewegung, die ihre Form in Zeit sich setzen kann, einen Nukleus in sich tragend, deren Kern sie ist, metaphysisch, vielleicht mystisch gesehen.

Der Raum, ohne dass er als Sichtbarkeit auftauchte, greift selbst ein und tut dies, in dem er als Volumen alle Handlungen gegeneinander aufwiegt, indem durch die Performance Handlungen so zueinander in Szene gesetzt werden, dass Raum als Zeit gespürt werden muss, ein Gedächtnis des Raumes als Zeit gespürt werden muss, in das hinein sein Volumen als etwas sich verdoppelt, das sich in seiner Eigenzeit spiegelt. Die Struktur des Raumes, der Dinge, der Kulissen, in ihm wird sie zu einer solchen dadurch, dass es eine Handlungsstruktur für die Performer*innen gibt, die nicht allein durch das Gestühl, die Kulissen strukturiert ist, die durch Vorgaben der Aufmerksamkeit sich ergeben. Dem Blinden ermöglicht dies etwas, das sich im Gedächtnis festsetzt und festsetzen muss, will der Blinde auf seinem Stuhl nicht die akustische Orientierung verlieren. Er hört, wenn Gegenstände aufgenommen werden wie die Vorhänge, wenn Zuschauer*innen angesprochen werden, spürt die Streifen der Vorhänge über sich streifen, spürt wie andere neben ihm gestreift werden, erinnert sich, wenn eine Zuschauer*in zu einer Skulptur aus Dantes Göttlicher Komödie geformt wird.

In der Haut, die in der Performance in den Vordergrund neben dem Hören rückt lässt zwischen Kleidung und Befühlbarkeit des Hörbaren sich eine Ahnung von Pantheismus erspüren, die der Raum als Labor der Meditation hinter all diesen Geschehnissen hörbar werden lässt wie ein fernes Echo, das sich aber immer mehr in den Vordergrund schiebt und dabei die klare Distinktion und Ausdifferenzierung aufzulösen beginnt: alles scheint mit allem verbunden und der Mensch ist lediglich Medium solchen Zusammenspiels, ein Spielball eher denn ein Subjekt, das keinerlei Unterschied mehr festmachen lassen will. Auch diese Einschätzung oder Interpretation ist eine erspürte, ist eine ganz körperliche Erfahrung, drückt ein Spüren aus und keinen rein intellektuellen Inhalt.

Der Anfang

„Ich bin hier. I´m here.“ Der Anfang als Bekundung einer Anwesenheit. Allein eine Anwesenheit von sprechenden Menschen, Menschen, die deutsch oder englisch sprechen, Männer, Frauen, Menschen allen Geschlechts, Anwesenheit. Menschen sind in einem Raum, sind in einem Raum einfach nur anwesend und bezeugen gemeinsam dessen Volumen und Durchquerbarkeit, die Ermöglichung ihrer Bewegungen in ihm, bezeugen aber zuallererst Dunkelheit, Dunkelheit und all die Unsicherheit, die von ihr ausgeht, die der Raum nicht lindert, die er hält, die Menschen in seiner Erkundung zusammenhält.

Ein Klatschen, vereinzelt es, als gelte es ein Kommando auszuführen oder ein solches, dessen Sinn nicht klar ist, zu befolgen. Dann aber immer mehr Klatschen, rhythmisch wird es, kommt in einen Dreiertakt, als tanze es mit sich selbst. Entdeckt von verschiedenen Orten aus den Raum akustisch. Schritte unaufgeregt, nachdenklich, knarzend das getragene Leder mit sich selbst im Gespräch. Immer noch aber die Aufmerksamkeit der Sprecher*in auf ihren Ort und dass es von ihrer Anwesenheit spricht, Anwesenheit, sonst nichts. Mehrmals von unterschiedlichen Sprecher*innen: „Ich bin hier“, eine Frau. „I’m here“, eine andere und ein dritter, „I’m here“, ganz nah. Stille, Schritte und erneut „I’m here“, so als würde jemand gesucht werden, der seinen Ort verrät, der gefunden werden will, einfach Behauptung vielleicht, vielleicht Selbstbehauptung. Schritte aber abermals, die sich nicht in die Richtung der Sprecher*in bewegen, nicht von ihr kommen, die keine Richtung zu haben scheinen. Klatschen, vielleicht das eines Blinden, der einen Raum akustisch auszuloten sucht, dem mit Klatschen geantwortet wird, als imitiere jemand ein Echo, als lasse jemand den Raum sprechen, als überlasse man die Rede dem Raum und seinem Volumen klang. Wie viele aber sind in diesem Raum und warum. Unangesprochen wartet der Blinde, hört von Anwesenheit sprechen und von richtungslosen Schritten. Badelatschen gehen zunächst gemütlich vorüber, hetzen dann von irgendwoher irgendwohin. Ortsbekundungen losgelöst von aller Richtung, von allem Ankommen trotz Bekundung von Ort und Anwesenheit.

Dass es immer noch dunkel sei, so die Audiodeskription von Simone Deting, niemand also etwas sehe. Orientierungslosigkeit jetzt erst einmal und in einer solchen sitzt der Blinde auf der Bühne auf einem Stuhl inmitten eines Geschehens, das er nicht versteht. Klatschen antwortet auf Klatschen, kurzer Schlag auf kurzen Schlag und dass da vielleicht ein Mensch einen anderen schlage und ein anderer einen anderen, so die Interpretation einer Zuschauer*in im Dunkeln.

(in)Visible. Jess Curtis/Gravity. Foto: Sven Hagolani - https://www.hagolani.com