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(in)Visible. Jess Curtis/Gravity. Foto Robbie

Die Geburt des Bildes aus dem Geist des Tanzes I: Auf dem Weg zum Raum

Jess Curtis/Gravity mit (in)Visible in der Tanzfabrik Wedding

„Ich bin hier.“ Ein Satz der Raum schafft. „Ich bin hier.“ Ein Satz wie die Auflösung eines Versteckspiels. „Ich bin hier.“ Ein Satz, der Anwesenheit konstatiert, der zugleich aber bereits wieder versteckt. Wer ist dieses Ich und wie oft und auf wie viele Personen trifft der Satz zu. „Ich bin hier“ und im nächsten Moment dem blinden Hörer wieder entschwunden. Der Satz eine Garantie für wie lang. Ein jeder Tänzer, eine jede Tänzerin spricht den Satz aus, gibt sich und ihre Stimme zu erkennen, lässt den Raum in seinem Volumen und Maßen im Kopf des blinden Autors erstehen. Ein Satz, der einen Raum ausschreibt, ihn akustisch auslotet, ihn vom Echolot einer Stimme ausloten lässt. Schritte. Was in seinem Volumen angedeutet wird, wird als seine Begehbarkeit belegt. Schritte. ein Klatschen. Ein Schlag, vielfältig der, vielfältig ein Fallen, ein Aufschlagen. Anspruch der Anwesenheit, eines Da-Seins. Wie Spurensucher, ja wie etwas Tierisches, das sein eigenes Befinden erkundet. Das sein eigenes Empfinden sich selbst vorspricht, Aussprechen wie eine körperliche Selbstversicherung. Das, was da ist, ein Dasein auf den Spuren von sich, auf den Spuren zu sich, ein Dasein auf dem Weg zu einem Selbst, das einem Sich nachgeht.

„Ich spüre den harten Boden unter meiner Hand.“ „Ich höre meinen Atem.“ „Ich rieche meinen Schweiß.“ Das Wort als der Anfang ganz unbiblisch. „Ich“, unbestimmte Selbstbezeichnung, denn wer spricht da eigentlich und für wen.

Wie ein magischer Akt, der im Sprechen allein etwas hervorruft, ins Sein bringt, das ausgesprochen seine Gestalt gefunden hat und wirkt.

Die Regel für Barrierefreiheit besagt, der Raum müsse für die Blinden ausgesprochen werden, beschrieben werden, damit Blinde eine Ahnung, eine Imagination gewinnen, durch die sie sich tatsächlich oder in ihren inneren Bildern in ihm bewegen können.

Ist es aber ausreichend, einen Raum allein verbal zu beschreiben, muss er nicht erfahren werden, erfahren werden als etwas, das der menschliche Körper selbst hervorbringt gerade indem er ihn wahrnimmt, ihn bildlos wahrnimmt. Müssen Blinde nicht sogar der Raum selbst werden, um sich in ihm bewegen zu können, zurechtfinden zu können.

Ein noch ganz anderes Problem für die Wahrnehmung von Blinden scheint dann der Tanz in einem Raum zu sein, die Bewegungen, die einen Raum erfüllen, Bewegungen, die Sehende als Ästhetik, als Kunst sehen und schätzen, von denen Blinde scheinbar nichts wahrnehmen können als Beschreibungen von sehendem Publikum.

Aber was ist Tanz eigentlich, ist es tatsächlich allein eine Bewegungsabfolge von Tänzer*innen, die nur visuell wahrgenommen oder empfunden werden kann, ist der ganze Körper tatsächlich in diesen Bewegungen nur etwas allein optisch Wahrnehmbares, wird Tanz und Bewegung nicht hier bereits auf ein Bewegungsbild reduziert, dem so die Körperlichkeit der anderen Sinne entzogen wird wie unter dem Einfluss einer Lauge, die alles Organische austrocknet.

Das Nichtsehen und die Körperlichkeit

In seiner Arbeit (in)Visible bringt Jess Curtis mit seiner Company Gravity, aus der Bildlosigkeit eine vollkommen andere Raumerfahrung hervor, eine vollkommen andere Bilderfahrung, eine bildlose Bilderfahrung die er dann aber obendrein noch in seiner Audiodeskription in eine Vielfalt von Erfahrungen aufbricht, indem er sie für Blinde durch Sprache noch einmal anders imaginierbar erscheinen lässt.

Der blinde Autor nahm am Prozess der Erarbeitung des Tanzprojektes (in)Visible teil, wurde Teil einer Verkörperung von Raum und Tanz, wurde Teil eines Experimentes von Wahrnehmungen aus allen Sinnen heraus, das das Visuelle nicht ausklammerte, das ihm aber seinen hierarchischen Anspruch entzog. Die Augen sind hier Sinnesorgane wie andere auch, wie die Ohren, die Nase und vor allem die Haut. Die Sprache aber wird nicht einfach zur Bestätigung des Gesehenen, sie löst sich vom Gesehenen, findet zu einem Eigenleben zurück. Nichts wird hier einfach beschrieben und was ein manches mal beschrieben wird, ist schlichtweg falsch, entspricht in keinster Weise der Wahrheit, des Wahrgenommenen des Für-Wahr-Genommenen. Raum wird so nicht einfach beschrieben, Raum wird eher Körper, wird der blinde Körper, wird zum Körper eines Blinden, indem er als getanzter Raum von einem Blinden erfahren wird. Tänzer*innen in ihren Bewegungen, in ihren Geräuschen, ihren Gerüchen, in ihren Berührungen bringen aber nicht allein diesen Raum in der Imagination, in den inneren Bildern von Blinden bildlos hervor, es geschieht etwas ganz anderes und das ist, wie der blinde Autor glaubt, das eigentliche, das Entscheidende der Arbeit von Jess Curtis und seiner Company: in ihren Körpern bringen sie eine ganz neue Art des Bildes hervor, das weit über Tastbilder, über Bildbeschreibungen hinausgeht, sie erschaffen im Tanz eine körperliche Erfahrung des Bildes aus allen Sinnen heraus, eine Empfindung von Raum, Bewegung und Bild wie von Sprache, die nichts anderes mehr ist als einfach nur Körper Körperbild, bildloses Bild von Körpern.

Dabei gab es von Vornherein kein festes Konzept des Stückes, alles ist offen und wird sich bis zur Aufführung noch mehrfach verändern.

Indem das Bild dem Raum zunächst entzogen ist, versetzt Jess Curtis sich in die Lage, aus den Bewegungen seiner Tänzer*innen ein ganz anderes Bild sowohl des menschlichen Körpers als auch des Raumes performativ in den Köpfen und vor allem Körpern seines Publikums - von Sehenden wie von Blinden und Seheingeschränkten - hervorzubringen.

Die Arbeit von Tänzern und Tänzerinnen als ein Laboratorium, ein Experiment Wahrnehmung in alle ihre Winkel hinein körperlich auszuleuchten und Ausleuchten wird hier in eine Berührung hineingeführt, wird als Berührung verstanden. Berührung als Erspüren aller möglichen Dimensionen von Mensch und Körper im Tanz, genauer aus dem Tanz der Mensch wie der Raum wie das Bild verstanden.

Das Raumbild ist nicht der Raum, darf mit ihm nicht verwechselt werden, es ist die Strukturierung des Raumes, seine Ordnung, aber auch seine Erkennbarkeit, seine Beschreibbarkeit.

Durch die nicht-visuellen Sinne wird im bildlos wahrgenommenen Raum der Raum nicht allein bereichert, er wird durch andere Eindrücke genauso verstört, wird durch mehrere Körper multidimensional angelegt, wird durch mehrere Körper hervorgebracht.

Raum wird durch andere Körper erfahren, wird durch sehende Körper erfahren und für Blinde erfahrbar gemacht. In einer festen Choreographie, in welcher Raum als etwas lebendiges, etwas gelebtes hervorgerufen wird, agieren und interagieren Tänzer und Tänzerinnen untereinander und mit dem Publikum, das durchaus aufgerufen ist, Nein zu sagen, wenn ihm oder ihr eine Aktion von Tänzer*innen angekündigt wird, der er oder sie sich nicht unterziehen will.

Nichts nämlich ist auf Überrumpelung oder auf Schrecken angelegt, im Gegenteil: Wahrnehmung wie Aktionen werden meist vorher angekündigt, lassen das im Geist erstandene Bild im andern wirken, lassen dem Publikum die Möglichkeit, sich dagegen zu verwahren, sich dagegen zu wehren, sich zu entziehen.

Einerseits wirkt Sprache so wie reine Bildproduktion, andererseits löst Sprache sich von der Handlung und verdoppelt sie gleichsam.

Das Bild im Raum lässt Gegenstände im Raum identifizieren, die anderen Sinne lassen akustische oder haptischtaktile, olfaktorische Eigenschaften erkennen. Von diesen ist nicht unbedingt und präzise auf den Gegenstand zurückzuschließen, erst recht nicht immer auf eine Person allein.

Die Unfassbarkeit des Raumes wird durch seine Eigenschaften verstellt, seiner Annäherung als Raum wird so entgangen, der Raum für sich ist lediglich ein Beziehungsgeflecht, das sich in einem Subjekt zusammenfinden kann. Und gerade von ihm aus relativiert sich eine jede Eigenschaft je nach Ort und Standpunkt.

In einen Raum kommen, in ihm zu sein heißt eine Gegenseitigkeit erleben: der Blinde erspürt einen Raum, der Raum nimmt ihn in sich auf. Es gibt somit nicht allein ein Subjekt dieses Vorganges, es gibt mindestens zwei, zwei Momente, die beides sind, Subjekt wie Objekt. Bildlos ist das Empfinden eines Raumes eher eine Einfaltung, von der der Blinde aber sprechen kann, deren Erfahrung der Einfleischung des Subjektes in den Raum er sich in einer Poesie sich bewusst werden kann, einer Poesie des Tanzes, einer ganz anderen Erfahrung des Tanzes, einer blinden Raumerfahrung im Tanz, wie sie durch (in)Visible hervorgebracht wird.

Andererseits macht der Raum den Eintretenden zu etwas, das ihn wahrnimmt, zwingt ihm Erfahrungen auf, von denen er sprechen muss um sie reflektieren oder mitteilen zu können. Der Raum zwingt so aber zuallererst den Blinden dazu, sich in seiner Wahrnehmung wahrzunehmen, Selbst zu werden. Der Raum ist die grundlegende Erfahrung des Blinden, aus Sprache Körper und Bewegung zu bestehen. Der Raum hält dem Blinden reflektierend seine eigenen Sinne zu, ermöglicht in ihrer Reflektion ihre Wahrnehmung als Wahrnehmung von etwas, auf das sie gerichtet sind.

Nicht allein als Reflektion, nicht allein als ein Echo aber kann die blinde Raumwahrnehmung begriffen werden.

Der Raum des Blinden ist das Gedächtnis seiner bildlosen Verkörperung, aus der eine Unzahl von Bildern im Inneren des Blinden hervorgehen.

Das Bild besteht dementsprechend aus einer Vielzahl von Bildern, die im Sprechen im Betrachten des Bildes als Vorstellungen hinter ihm erstehen. Das Bild des Raumes mit dem Raum zu verwechseln heißt der Hierarchie der Bilder nachzugeben, die die anderen Bilder, die inneren Bilder hinter sich zu schieben sucht oder schlichtweg auslöscht. Der Raum ist in einer unzähligen Vielzahl von Bildern zu fassen und zu bedenken, da es den Raum an sich nicht gibt, er nur in seinen Vorstellungsbildern gedacht werden kann.

Während der Sehende das Bild des Raumes mit dem Raum verwechselt, ist die Wahrnehmung des Blinden als diverse Verkörperungen des Raumes zu begreifen.

Die Bewegung im Raum und die Blindheit

Bewegung. Die eigene. Die der anderen. Das statische Moment, die andere Bewegungen aufnimmt, auffasst die eigne Bewegung, in der der Raum als statisches Moment in den sich bewegenden Blinden eindringt. Das Beziehungsgeflecht von Gehörtem Gespürtem das sich in der Bewegung des Blinden verändert, das einen Kokon ergibt, der aus den Wahrgenommenen Wahrnehmungsmomenten und den vom Blinden wie den anderen im Raum Befindlichen hervorgerufenen Momenten sich verwebt.

Fragil aber ist dieser Kokon durchaus und dennoch, reißt bei einem jeden Eindringen anderer Wahrnehmungseindrücke auf und verschiebt sich sogleich, verschiebt für einen Moment die gesamte Raumwahrnehmung.

In der blinden Bewegung durch den Raum öffnet sich der Raum, weil ihn kein Bild mehr verschließt. Hier beginnt die Erfahrung des Blinden, fleischlicher Raum selbst zwischen vermitteltem Bild und Raum zu sein.

Alles dringt in den blinden Körper ein und tut dies vollkommen anders, als in einen sehenden Körper, der von einem Bild vor willkürlichem Eindringen von Berührungen geschützt wird. Für Blinde sind Berührungen zuallererst immer erst einmal ein Übergriff.

Warnt das Auge vor der Hand, die sich nähert, kündigen die Tänzer*innen ihre Handlungen vor der Handlung an. Sie konstatieren und dies als ihr erster Satz: „Ich bin hier“, die Sprache setzt sich vom Geschehen ab, verdoppelt sie gleichsam in Tun und Benennung. Die Stimmen der Performer*innen sprechen wörtlich den Raum aus, machen ihn und sein Volumen hörbar.

Der Raum der Blinden entsteht erst im Nachhinein, als wären die Dinge stillgestellt und erwachten erst durch und in der Bewegung. Dies geschieht auch für die Sehenden, die in ihrem Ergehen den Raum erst im Ergehen zu spüren beginnen, was ihnen aber nicht auffällt, weil ihnen das Bild des Raumes ihre eigene Raumerfahrung verstellt, ihnen vorgaukelt, etwas wie der Raum warte als vollständig abgeschlossene Erfahrung auf sie. Die Erfahrung aber muss gelebt werden, sie kann durch das Auge nicht vorweggenommen werden.

Von daher ließ Jess Curtis die Tänzer*innen zur Vorbereitung in San Franzisco teilweise im Dunkeln arbeiten, um ihren Körpern die blinde Erfahrung der Bildlosigkeit einschreiben zu lassen, denn ein kurzzeitiges Augenschließen hat nichts mit blinder Wahrnehmung zu tun. Eine tatsächliche Erfahrung ist eine Verkörperung einer Situation, und auf Verkörperung muss Jess Curtis Wert legen, will er weg von den Klischees, die mit Blindheit im Allgemeinen verbunden sind.

Was aber ist diese Bewegung, wie kommt Bewegung vermittelt von Tänzer*innen, getragen vom Tanz im Körper der Blinden an, wie erfahren die Blinden Tanz, den sie ja nicht sehen, den sie vermittelt über andere Sinne erfassen müssen.

Jess Curtis lässt sich auf den bildlosen Raum ein, blendet das bildvermittelte Vokabular von Begriffen aus, entwickelt mit seinen Tänzer*innen ein vollkommen anderes Gespür, Gefühl, eine vollkommen andere Wahrnehmung des Raumes, eine vollkommen unsichtbare Erfahrung des Raumes, die Sprache selbst von Innen heraus wörtlich nimmt, um sich ganz anders mittels Tanz dem Raum anzunähern, ihn körperlich auszuleuchten, ihn aufzunehmen, er tatsächlich zu werden.

Und dies ist die Herangehensweise des Choreografen aus San Franzisco: den Körpern von Tänzer*innen den blind wahrgenommenen Raum tanzen zu lassen, so dass auch Blinde ihn erspüren, als erführen sie ihn im Tanz selbst, als schriebe sich in den blinden Körpern durch den Tanz der Raum ein, schriebe der Raum sich ganz anders ein, als beträten sie ihn vermittelt der Bewegungen des Tanzes und sie betreten ihn so tatsächlich vollkommen anders als sie Raum und Räume bislang betreten hatten.

Bringen Tastführungen, das Ertasten von Posen, die sich in der Performance wiederfinden werden, ertasten von Kostümen, Erhören und Beschreiben des Raumes sein Ergehen ein grobes Verständnis des Raumes und seines Ortes, ist eine Performance, die hauptsächlich auf die Wahrnehmung des Blinden von Tanz und Performance abzielt, etwas ganz grundsätzlich anderes.

Wir wissen um die unsichtbaren Wände zwischen Publikum und Performer*innen, die in Theater und Performance seit den Sechziger Jahren im experimentellen Theater angegangen wurden man denke an eine Bandbreite von Artaud, dem Living Theater über den Wiener Aktionismus bis zu Grotowski. Hier aber geschieht noch etwas ganz anderes. Es gibt keine unsichtbaren Wände zwischen Performer*innen und Publikum, die unsichtbaren Wände sind in den Köpfen selbst und das Spiel macht sie durchlässig.

Was aber sind die unsichtbaren Wände anderes als die Wände der Sprache, der Begriffe, die uns in ihren Grenzen einsperren, die unsere inneren Bilder ausmessen, sie disziplinieren.

Der blinde Autor geht diesen Bildern nach, spürt ihren Grenzen nach, erfährt seinen Körper im Tanzprojekt von Jess Curtis/Gravity als etwas immer durchlässiger Werdendes, etwas, das im Tanz ihn wie den Raum durchblutet, das ihn Bewegung seiner Imagination werden lässt.

Tänzer*innen:

Sherwood Chen, Gabriel Christian, Rachael Dichter, Sophia Neises, Xenia Taniko, und Tiffany Taylor

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(in)Visible. Jess Curtis/Gravity. Foto Robbie