Haltloser Halt oder: Im Widerspruch zwischen Konkretem und seiner Abstraktion
Zur Malerei von Simone Kill (Teil 2)
Malend sich im Malprozess beobachten, keine Objekte, Gegenstände oder Modelle als Gegebenheiten einfach nur aufgreifen, sie imitieren, sie wiedergeben, sie reproduzieren: das Ding wie die Figur, wie ihre Beziehung zueinander, unterstehen keinem Zweck. Außerhalb des Bildes haben sie keinen Kontext, der in das Bild hineinreichte. Realismus, Gegenständlichkeit oder das Konkrete sind für Simone Kill Möglichkeiten einer Malerei, die nur eines in ihrer Arbeit gelten lassen will, das Bild, ihr Bild. Das Konkrete ist eine Ausdrucksmöglichkeit, die die Malerin sich offen hält, aber auch nicht mehr als das.
Aber nähern wir uns dem Begriff des „Gegenstandes“ nochmal von einer anderen Richtung her an, von der Seite der Philosophie. Martin Heidegger hatte in seinem frühen Hauptwerk Sein und Zeit sich dem „Ding“ auf diverse Weisen genähert. Er spricht da vom Ding als dem Vorhandenen, vom Anwesenden, vom Ausgedehnten, spricht vom Wirklichen, von dem, was zu einer Handhabung aufruft. Und in diesem Wort bereits wird der Blick auf das eingestimmt, was dann zugreift. Das Ding als Zeug steht immer in einem Kontext, der den Rahmen von Gebrauch umreißt, der den Zugriff auf das Ding regelt, der die Art seiner Handhabung vorgibt. Die Weise des Zugriffs auf das Ding wiederum ist von der Gestalt des Dinges oder des „Dingersatzes“, wie Simone Kill den Gegenstand nennt, mit dem sie ihre Figuren sich in Beziehung setzen lässt, bestimmt. Hält das Bild diesen Moment des Zugreifens fest, spielen im Betrachter und auch dem Hörer der Bildbeschreibung all diese Momente mit herein, auch, und gerade wenn sie keine Rolle spielen, wenn sie fehlen, wenn sie abwesend sind.
Simone Kill drückt dem Autor eine etwa 150 Zentimeter lange Leiste in die Hände, die sie als „Dingersatz“ bezeichnet. Zeigt ihm wie er mit versetzten Händen sie packen solle, dass er sie festhalten solle: „Halt sie ganz fest!“ Sie nimmt seinen Kopf zieht ihn in den Nacken und reißt ihm den Mund auf: „Ganz weit auf!“
Indem die Malerin die Gegenstände durch ihre Figuren aus jeglichem Kontext herausreißt, entzieht sie die Gegenstände der Bedeutung, macht die Figuren selbst aber zu Medien, durch die sich diese Bedeutungslosigkeit überhaupt vermittelt. Die Bildbeschreibung durch die Künstlerin wird so zur Einfleischung des blinden Autors in das Bild, in sein bildloses Begreifen.
Das Ding, das seiner Form nach zu einem bestimmten Zweck hergestellt wurde, wovon die Form ja zeugt, die sie zum Gebrauchs-Zeug macht, die es ermöglicht, dass es zu einem bestimmten Zweck eingesetzt werden kann, wird in Simone Kills Malerei erneut zum bloßen Ding, verliert den Charakter dessen, was Heidegger als Zeug bezeichnet hatte: nicht durch Veränderung seiner Form, sondern durch Herauslösung der Pose aus einem bestimmbaren Kontext. Die Malerin reißt es aus jeglichem Gebrauchskontext heraus, wie ihre Figuren in keinerlei Kontext stehen außer dem, den die Malerei herstellt. Vielleicht ist diese von Heidegger inspirierte Betrachtung auch ganz grundsätzlich ein möglicher Zugang zu Simone Kills Werk. Während Heidegger den Menschen einerseits in den Kontext von Sinn- und Zweckzusammenhängen als Welt eingespannt sieht, andererseits aber auch in die Materialität der Erde verwurzelt, scheint Simone Kill ihre Figuren aus beiderlei Kontexten herausgerissen zu haben, stellt sie sie aus beiden herausgerissen dar, und von einem jeden der beiden Kontexte tragen die Figuren Spuren an sich.
„Dreiviertelportrait, die Ellbogen nach unten, die eine Hand auf Brusthöhe, die andere in Schulterhöhe. Die Leiste als Ersatzding, an dem sich die Haltung der Pose selbst festhält. Das Entscheidende ist das Festhalten beider Hände an einer Linie. Die Bedeutung spielt dabei nur eine nebensächliche Rolle: wird die Leiste festgehalten, wird sie losgelassen, wird mit ihr zugestoßen oder nach unten gestoßen, wird mit ihr abgewehrt, wird mit ihr angegriffen.“ Dazu der Kopf und das Gesicht: nach hinten der Kopf gehalten, der Mund weit aufgerissen, so weit es geht. Der Blick schräg nach oben. Kopf und Gesicht ent-deuten die Handhaltung noch um ein Weiteres. Der aufgerissene Mund, die festgehaltene Holzleiste: zeugen sie von Schmerz, von Anstrengung. Ist überhaupt ein Ausdruck festzumachen. Macht das Erkennen eines solchen überhaupt einen Sinn. Ist nicht im Gegenteil erst die Konfrontation unterschiedlicher Momente eine Art Rückführung zur Figur selbst, die Trägerin von Ausdrücken sein kann, sich ihnen aber auch entziehen kann. Indem aber keine feste Bedeutung zunächst ersichtlich ist, fällt das Ding erneut auf seine reine Gegenständlichkeit zurück, die seine Form aufruft und die der Blinde imaginiert.
Was ist eine Pose. Wo beginnt sie. Was gehört zu ihr. Was ist für ihr Erkennen notwendig. Was an ihr ist überflüssig. Wo endet sie. Und: welche Rolle spielt sie in den Arbeiten von Simone Kill. Aber vielleicht greifen all diese Fragen ja in einander und bestimmen so die ganze Malerei der Künstlerin und ihre Rezeption.
Simone Kill sucht dem Ursprung ihrer Figuren malerisch nachzugehen und findet hierbei Genealogien, die sie in ihren Figuren selbst hinterlassen hat. Es sind aber nicht allein diese Ursprünge an sich, die sie interessieren, es ist vielmehr das, was diese Genealogien mit Strukturen machen, denen sie sie aussetzt.
Archäologische Beobachtungen am Werk
Einen Bogen spannen, einen Bogen, der der künstlerischen Entwicklung nachgeht. Zuerst aber einen Ort, eine Situation, einen festen Grund finden, von welchem Bewegung und Entwicklung ihren Ausgang nehmen können, an welchem sie sich spiegeln können, einen Ort ohne den Reflektion selbst gar nicht zu sich kommen kann, an welchem Entwicklung überhaupt erst sichtbar wird.
Am Anfang ihrer Arbeiten stand die Frage, woher ihre Figuren kommen, oder genauer, sie beobachtet sie dabei, wie sie sich zusammensetzen, sieht Bänder, sieht Linien, sieht sie sich zu Figuren zusammenknoten. In einem anderen Schritt kommt die Fläche aus dem Hintergrund herein und die Malerin beobachtet, wie die Fläche mit ihren Figuren umgeht. Vielleicht war es die Kunstgeschichte, die sie auf die Wirkung von Posen im Gemälde brachte, etwa die Haltung der Heiligen Ursula in einem Bild von Rubens. Später die Gottesmutter in einem Bild der* Heiligen Familie* von Tizian verbunden mit Experimenten zum Faltenwurf des Kleides, das sie dann gleichsam „entkernt“ als körperlose Hülle, als durchsichtig und sinnentleert wiedergab. War die Pose zunächst als Zitat in das Bild gekommen, fand ihre Entleerung, das Abstreifen allen Sinns in der darauffolgenden Phase statt, in der sie vor allem mit Silke als ihrem Modell, ihrer Vorlage arbeitete.
„Jetzt gerade ist es immer wieder diese Pose, diese Figur, ob sie sitzt oder steht ist völlig egal. Es ist dieses Dreiviertelportrait, Gesicht bis etwa zur Mitte der Oberschenkel. Die Ellbogen nach unten, die von uns aus gesehene rechte Schulter ist höher als die linke. Die Hände gehen nach oben und halten […]. Ich gebe dir einfach mal eine“, steht auf und gibt dem Autor eine Leiste in die Hand. „Diese Leiste, dieses Stellvertreterding, die hält sie fest“, dann nimmt sie den Kopf des Autors und zieht ihn nach hinten. „Ich nehme mal deinen Kopf“, und sie hält den Kopf weit nach hinten. „Den Mund weit offen, ganz weit offen, so weit wie es geht und so blickt sie schräg nach oben und die Leiste dabei ganz fest halten.“
Indem Simone Kill dieses „Stellvertreterding“ ins Bild hereinnimmt, im Bild ihren Figuren in die Hand gibt, verlagert sie die Reflektion ins Bild hinein, und der Autor erlebt selbst die Veränderung seiner sämtlichen Beziehungen und Bezüge zu Welt und Raum und erlebt sie von einer „Fleischwerdung“ der dargestellten Pose in seinem eigenen Körper aus. Simone Kill bringt so eine Kunstrezeption in Anwendung, ein Erleben einer Bildwelt, einer bildlos erfahrenen Bildwelt, die ins Bild kommt, indem sie sich nicht durch Beschreibung, sondern durch tatsächliches Erleben ihren Rohbau des Bildes sucht, einer Basis, die es Blinden ermöglicht noch ganz anders über Bilder zu sprechen. Die Konstruktion des Bildes im Körper des Blinden ist für ihn die Voraussetzung für Reflektion über die Kunst Simone Kills, sie muss erfüllt sein, bevor inhaltliche Aspekte überhaupt beginnen können.
Die Grundstruktur der Arbeiten Simone Kills sind Posen, die sich immer wieder wiederholen, die sich aber in ihren Wiederholungen immer wieder auch verändern. Der blinde Autor muss also, will er die Arbeiten in ihrer Grundstruktur verstehen, diese Grundstruktur begreifen und das bedeutet mehr als sie beschrieben zu bekommen.
In diesem Dialog zwischen der gespürten Pose und der erzählenden Beschreibung führt Simone Kill an eine bildlose Rezeption des Bildhaften heran, die eine ganz andere Annäherung an ihre Kunst ermöglicht: Der Autor wird selbst zu dieser Figur, wird die Pose der Figur, tritt dem gegenüber, was er nicht sieht, von dem ihm aber gesprochen wurde. Aus seinem Körperempfinden versteht er, aus seinem Körperempfinden heraus denkt er und sein Denken reflektiert sich in Malerei, die er bildlos in Sprache übersetzt, ein gespürtes Bild wiedergebend. Zu dieser „Grundpose“, wie Simone Kill diese Struktur nennt, kommen Varianten, etwa in Figur mit Gegenstand V eine Hand, die der Figur die Augen zuhält, die sich aber zuallererst auf die Pose bezieht, sich an ihr reflektiert.
Echos und Balken „Ich habe in meinen Bildern meistens eine Grundpose, die ich wiederhole und variiere.“ Oder: „Ich habe so zwei, drei Grundposen, mit denen ich mich ein Jahr oder ein halbes Jahr beschäftige.“ Die Brechung in der Variation, der ins Bild zurückgenommene Spiegel, in welchem sich das Werk durchleuchten lässt: Sichtbarmachung einer Art Mikrostruktur, in welchem die Bilder nicht nur einen Kontext erfahren, in welchem sie, wie in der Musik, einen Klang in verschiedenen Kontexten seiner Entfaltung in diversen Klangfarben erstrahlen lassen. Die Pose wird so aber auch zu einem Grundmoment, einem Nukleus, einer Serie, die in der Variation das Werk sich in sich selbst spiegeln lässt. Die Spiegelung wird so bei Simone Kill zu einem Prozess, in welchem Schritt um Schritt eine Gestalt und ihre Erscheinungsformen überhaupt erst hervortreten. Erst in ihren Variationen kommt das einzelne Bild, das Bild einer Figur in einer gewissen Pose zu einem Ausdruck, der in ihm steckt. Man könnte im übertragenen Sinn auch davon sprechen, dass in ihren Variationen als ihren Spiegelungen oder vielleicht genauer in ihren Echos, das einzelne Bild sich erst entfaltet.
Der Spiegel verändert so seine ursprüngliche Bedeutung: er ist nicht mehr einfache Reproduktion, Verdoppelung, eher ist er ein Klangraum, der sich in unendlich vielen Facetten erst zusammensetzt ohne jemals vollständig werden zu können. Das Ganze ist nie vollständig zu erreichen, die Wiederholung nähert sich ihm immer auf anderem Wege an, bringt immer nur neue Aspekte des Ganzen hervor.
Simone Kills Figuren haben etwas Lädiertes an sich, etwas Verletztes, etwas Verletzliches, aber auch etwas Unvollkommenes, etwas Gruseliges, etwas Maskenhaftes. Das ist aber nicht als angestrebter Ausdruck zu sehen, eher ergeben sich derartige Ausdrucksmomente genauso, wie sich Momente der Surrealität ergeben. Dinge, die ihren Bildern eher zufällig zukommen, zustoßen.
„Und dann die Balken. Da waren zwei Balken, die sich einfach so ins Bild reinfügten, die dann einfach ins Bild geraten sind und die haben dann das Bild gelöst.“ Die Malerei tritt im Malprozess einfach ins Bild herein, löst die auftauchenden Fragestellungen in der ihr eigenen Weise: Antworten, die nicht ausgedacht hätten werden können. Nicht die Malerin ist Subjekt ihrer Kunst, die Malerei löst sich im Malen und verselbstständigt sich, tritt der Künstlerin entgegen. Plötzlich und während des Malprozesses taucht der Balken im Bild auf und wird ernst genommen, es wird auf ihn eingegangen und es wird gesehen, was sich mit ihm machen lässt.
Was entsteht und was in der Wiederholung der Pose sich ausdrückt ist nicht allein eine Fortschreibung der Variation. Es ist, um ein weiteres Bild aus der Musik zu bemühen, eine ganz spezielle Art der Variation, die Passacaglia nämlich, die keine einfache Serie darstellt, in der ein Thema durchdekliniert würde, das sich in seinem Verlauf immer wieder veränderte. Die Passacaglia wird von einem kleinen Thema getragen, dass ununterbrochen wiederholt wird, ohne dass es sich veränderte. In Figur und Pose der Tonabfolge des Themas zieht es sich zurück, hält sich darin zusammen. Beobachtet von dieser Position aus die Welt um sich herum, ihre Welt und deren Veränderungen.
Die Passacaglia als unveränderlich bleibendes Thema, wirkt um so stabiler, um so manifester, da sich der Kontext, in den sie eingebunden ist, immer wieder verändert. Ursprünglich ein Tanz, beruhte ihr Thema nur aus wenigen Takten in Moll, die sich als Ostinato-Figur immer wiederholten.
Die Malerei Simone Kills stößt ein Denken an, das keine klare Richtung vorschlägt, das Malerei zu einem Denken anstiftet, das mehr mit Tanz zu tun haben könnte, als mit einer an Zielen orientierten Linearität, mehr mit Denkprozessen, die in ihrem Verlauf immer wieder die Richtung wechseln, sie verändern. Etwas in dieser Malerei schwingt: es stiftet die Betrachter_in nicht allein zu Reflektionen an, es stößt die Reflektionen herum, es führt diese Reflektionen in der Betrachtung zu einem Denken, das alles Lineare aufgibt, das sich dreht, sich wendet und ins Trudeln kommt.
Kopf und Figur
Eine Figur, die Betrachtenden frontal anblickend hält sie eine Hand in einen überdimensionalen Kopf, der rechts neben ihr auf der Leinwand zu sehen ist. Zuerst war die Figur, dann kam ein Liniengewirr dazu, das sich zu einem Kopf verknäulte. „Die Figur hatte zunächst auch einen Balken in der Hand, jetzt hat sie eine Hand im aufgerissenen Mund des Kopfes neben ihr, der viel größer ist als ihr eigener Kopf.“ Simone Kill ist nicht an naturalistischer Darstellung interessiert. Der surreale Effekt ist nicht als solcher angestrebt, eher ist er eine Art Nebenprodukt, entsteht eher zufällig aus einer Konfrontation mit Dimensionen, mit dem Spiel einer Geste, die als ein Rest einer anderen Pose aus einer früheren Phase zu sehen ist. Kein Traum, keine Écriture automatique stehen hier Pate, einzig ist es die absolut konsequente Konfrontation diverser Posen miteinander. Es ist Malerei und nichts als Malerei, deren vermeintliche Hintergründe einzig aus den vollkommen konsequenten Auseinandersetzungen der Figur mit sich selbst und den Möglichkeiten einer Pose entstehen.
„Die Hand, die Finger leicht geöffnet: unklar, ob sie in den Mund hineingreift oder gerade herauskommt, etwas hineinsteckt oder aus ihm herausholt.“ Die Grundsituation als eine unentschiedene oder unentscheidbare, ein Dazwischen. Das Bild als das Moment, in welchem beide Richtungen zusammenkommen ohne sich weiter entscheiden zu können. Simone Kills Bilder als Eröffnung der Bedeutung, ohne sich auf Bedeutung als einer Entscheidung für eine Richtung einlassen zu wollen. Eröffnung der Möglichkeiten, ohne sie detailliert aufzuzeigen. „Das Gesicht maskenhaft vor dem eigenen Kopf. Der Kopf neben der Figur nimmt ein Viertel des Bildes ein. Die Figur steht daneben, der Kopf reicht ihr bis zur Brust. Der Arm der Figur geht vor ihrem Körper herüber. Sie schaut den Kopf nicht an.“ Als ob die Handlung ohne Zielgerichtetheit, wie nebenbei geschieht, als ob die Handlung nichts mit der Figur zu tun hat. „Die Augen sind schwarze Auslassungen, sind Höhlen.“
Vielleicht könnte ein Bogen der Geschichte, der Reflektion über Simone Kills Arbeit von diesem Punkt aus sich schlagen lassen, einer irrealen Konstellation, einen Punkt, den man als Dynamik vom Festhalten zur Unentscheidbarkeit würde bezeichnen müssen: Die Augen des großen Kopfes sind zwar auch schwarz, haben aber etwas wie eine Pupille, etwas das festhält, was eine Richtung aufweisen könnte. Diese Richtung liegt aber außerhalb der Bildrealität, ist noch nicht einmal in einer Jenseitigkeit fassbar, lässt den Kontrast der ausgemerzten Augen zu den Augen mit Pupille aber als Sinnlosigkeit verstörend zurück. Dennoch geben die Pupillen im Nebeneinander der Bilder eine Richtung an, die Richtung hinein in ein ebenso unfassbares Inneres.
Zum Hintergrund: „Vier horizontale Ebenen. Ganz unten ein schmaler dunkler Streifen, oben ein breiterer, lasierter dunkler Streifen. Aus der darunter liegenden grünen Schicht laufen vom Finger zu ertastende Farbnasen herunter.“ Tastbar tritt Materialität aus dem Bild hervor, widerspricht aller Form und Figur. Die Streifen in der Mitte vielschichtig unterteilt. Die Farbnasen bestehen auf die Losgelöstheit von der Form, verweisen auf sich, ihr zum Trotz. Hier unterstreicht sich die Loslösung einer gewollten Subjektivität und der von ihr ausgehenden Handlungen, etwas verselbstständigt sich, zieht sich in das Ding, in die bloße Materialität zurück, löst sich noch von der Figur, die sie ja hervorgebracht hat, zieht sich ins Dinghafte zurück: entblößte Materialität.
Im anatomisch Unmöglichen eines anderen Bildes wird etwas herausgezogen, zieht sich heraus. „Zwischen den nach oben zeigenden Ellbogen der Kopf. Die ganze frühere Pose quasi umgedreht“, so die Assistentin. Ellbogen nach oben, der Kopf zwischen ihnen, das ganze wie eine Blüte, inmitten seiner Blütenblätter der Kopf als Fruchtstempel. Die Hände lösen sich auf, allein die Ellbogen sind klar konturiert: das was die haltenden Hände eigentlich hält, was Medium des Haltens ist, ihre Form, die sie als solche erkennbar macht, löst sich auf und erkennbar sind sie vor allem an dem Teil des Körpers, der Figur, der sie wiederum hält, eben den Ellbogen. Durch dieses Verwischen, durch diese Undeutlichkeit kommt aber gerade das Halten wiederum selbst heraus, wird unterstrichen.
An einem gewissen Punkt ihrer Arbeiten lässt das Halten, und alles was das Halten ausdrücken könnte, nach, verliert seine Kraft. Dieses Halten, es verschwimmt, wie im Bild, in welchem die Hände nur noch verschwimmen. Das andere Organ, das mit Halten, mit etwas Festhalten betraut werden könnte, das Auge, hat, wenn die Augen nicht sowieso ausgemerzt sind, nichts, woran es sich würde halten können. Ein Auge, das nichts zu halten hat, fällt in den Kopf zurück, um zu erblinden. Hände kommen ins Bild. Eine Figur, die einen Balken hält. Eine Figur von der gesagt werden könnte, es sei eine Frau, nachweislich ist dies aber nicht unbedingt der Fall. Hände kommen an ihr ins Spiel.
Die Figur als Haltende, die Figur als Gehaltene, das Halten allein festgehalten, ungehalten von anderen Körpern allein das Organ, die Extremität, die dieser Funktion hauptsächlich übertragen ist, die aber durch ihre Loslösung von einem Körper die Übertragung auf andere Körperorgane gerade durch deren Abwesenheit thematisiert.
Der leere Spiegel
Von der Hand wiederum vor allem die Finger als nochmals abgesondert zu sehende Halteorgane im Bild, Glieder in unterschiedlicher Farbgebung von einander getrennt, nicht getrennt, eher deren Eigenständigkeit dadurch betont. Dieser vermeintliche Widerspruch, einerseits vom Halten loskommen, andererseits tauchen wieder Hände auf, tauchen realistisch gearbeitete Hände auf, ist eigentlich kein Widerspruch, es ist ein zentrales Moment in Simone Kills Arbeit, das bewusste Nicht-Entscheiden-Wollen, die Offenheit aller Richtungen. Simone Kill stellt so die Reflektion in ihren Mechanismen zur Diskussion, die nichts weiter ist als ein leerer Mechanismus, den sie im Prozess seiner Entleerung lediglich auffindet. Auch der andere Spiegel als die Reflektion der Figur mit sich selbst, entlässt die Figur, ohne dass sie sich in diesen Verspiegelungen hätte festhalten können. Auch von der Wiederholung bleibt nichts als Unbestimmtheit.
Grundsätzlich stellt sich aber die Frage, inwieweit der Prozess der Findung der Figur bei Simone Kill überhaupt begrifflich zu fassen sein kann. Das Konkrete hat, genauso wie das vermeintlich Abstrakte, eine rein bildimmanente Funktion, einen geradezu bild-logisch erforderlichen Status, außerhalb dessen es keinen Bildinhalt gibt, bis auf die Nacherzählung eines Malprozesses. Alle Phasen eines Malprozesses finden sich nicht selten in Spuren im Bild wieder. Legen keinen Wert darauf in Gänze verschwinden zu müssen. Hinterlassen nicht selten eine farbliche, eine teilfigürliche Spur.
Aus Erzählung und Beschreibung erwirkt sich auch wieder das Bild, das der Blinde vor seinen geistigen Augen sieht, und er setzt oder stellt es neben andere, die sich von einer Pose ausgehend zueinander gesellen. Variationen sind sie einerseits voneinander, einem Ostinato nach. Und doch bleibt im Körpergefühl des Blinden noch etwas ganz anderes von diesem Umgang mit der Pose zurück.
Da ist die Einübung in die Pose, da ist ihre Beschreibung, da ist das Durchbrechen der Beschreibung und der Einübung im hereinbrechenden Material. Gespürt wird hier ein Gefühl, der Rest, die Erinnerung an ein Gefühl, das unversehens wieder zurück an das anfängliche Denken über Heidegger und seinen von ihm eingebrachten Antagonismus zwischen Welt und Erde erinnern lässt: den Bruch zwischen Sinnkontext und Materialität. Der Blinde ist es in seinem körperlich gespürten Bildinhalt und der ertasteten Materialität, deren Zerrissenheit ihn zu einer Integration beider seiner Körperempfindungen zwingt, zu einer Art Dialektik zwischen Berührung und von ihr verursachter Imagination, die in der Wiederholung der Berührung erneut zu einem Verwerfen der hervorgerufenen Bilder führt: Das ist es. Nein, das ist es nicht.
Die Hand nimmt einen Gegenstand, um ihn auch imaginär zu verlieren. Das Spüren allein bleibt, das Spüren und das Bild der Handlung, die in der Imagination aus dem Leeren heraus sich eine Erinnerung schafft: die Pose und das Einnehmen der Pose, der Zusammenhang des Verlierens des Gegenstandes, die Erinnerung an ihn, das Spüren als Nachtasten nach einer Art Phantom als Vorstufe der Erinnerung.
Für den blinden Autor entfaltet sich in der Arbeit mit der Malerin Simone Kill eine Art der Weltvermittlung und Welterfahrung, die rein sprachliche Beschreibungen mit pantomimisch geführter Performance verquickt, einerseits dabei dem Mistrauen gegen reine Begrifflichkeit Rechnung tragend, andererseits in den Körper das zurückholend, was die Sprache als eine Art der Abstraktion aus ihm heraus destilliert hat.
Einrasten des Bildes: Ding und Pose
„Es gab zwei Balken, die sind da schräg reingeraten, die haben sich eingefügt und haben das Bild gelöst. Das fand ich spannend und da hatte ich Lust auf etwas Gerades. Keine Figur sondern etwas Dinghaftes, etwas, das nicht zur Figur gehörte, etwas außerhalb von ihr, das die Figur zwingt zu handeln, nach außen zu gehen. Die Figur macht mit Etwas etwas. Dies bringt das Rätsel mit sich: hält sie dieses Etwas fest? Lässt sie es los? Will sie jemand schlagen, will sie sich mit ihm verteidigen, will sie damit irgendwo reinstechen? Hält sie sich an diesem Ding fest. Das Ganze passierte in einer Phase, in der ich dessen, was ich machte überdrüssig war und da kamen die zwei Balken wie gerufen. Eröffneten etwas Neues. Das wiederum habe ich dann in die Pose mit hereingenommen, habe sie damit aufgeladen. Ich arbeite eine ganze Weile mit einer Pose und irgendwann reicht es, dann catcht mich das nicht mehr.“
Diese beiden Momente sind vielleicht entscheidend für die Betrachtung der Arbeit von Simone Kill, da taucht etwas im Malprozess auf, das sie aufgreift, das sie catcht und in diesem Wort sind bereits die beiden Richtungen angelegt: das Ergreifen von etwas und zugleich das Gecatcht werden, aktives Ergreifen und vom Ergriffenen ergriffen werden. Zugleich aber bereits die Grundstruktur des Festhaltens, das das zentrale Moment ihrer letzten Pose darstellt, das Festhalten. Das sie dem Autor an seinem Körper aufzeigt, es von ihm einüben lässt.
„Ich arbeite meistens mit einer Art von Grundpose, die ich dann variiere.“ Die Pose wird immer wieder wiederholt. Was, so fragt der blinde Betrachter, dekliniert die Pose durch. Was variiert sie. Was zwingt sie zum Handeln, etwa die Balken, die unvermittelt eingreifen: Nichts ist es, nichts, was außerhalb des Bildes zu suchen wäre. „Die Pose, das ist eine Ausgangsfaszination, da will ich immer die gleiche haben. Wie kann ich an eine Pose immer wieder anders herangehen. Die Pose, die manchmal mehr auseinandergezogen ist und manchmal mehr zusammengezogen. Wie kann ich eine solche Pose von einem Grundelement her sich finden lassen, etwa durch Bänder, die sich verknoten. Die Figur von der Pose her als Linienknäuel gedacht. Das Zusammenziehen, das Auseinanderziehen der Figur, nicht von außen zu denken, sondern immer aus der Figur heraus, aus Prozessen ihrer Entstehung, ihrer malerischen Konstruktion heraus, eher durch Linien oder eben durch Flächen, die miteinander Figuren hervorbringen.“
Die Finger leicht geöffnet, nicht klar, ob sie etwas aus dem Mund herausholen oder hineinstecken. Posen schlagen Momente einer Grundstruktur an, die so angelegt ist, dass sie sich nicht eindeutig entfalten lassen. Simone Kill scheint vor allem auf dieses Kernmoment einer Pose abzuzielen, aus dem heraus sich die Figur auch in Variationen fortpflanzen kann. Bedeutungen könnten gemeint sein, dann aber auch wieder nicht. Das Bild bleibt so vage, dass sich keine endgültige Bedeutung vom Betrachter ausmachen lässt.
Die Posen der Simone Kill liegen vor der Bedeutung, vor der Entscheidung für eine Bedeutung, für eine Richtung also. Eine Pose hält einen Moment fest und sei es der Moment der Unentschiedenheit. Simone Kills Figuren in ihren Posen höhlen die Pose gleichsam von innen heraus aus, indem sie sie zwischen allen Richtungen ansiedeln: keine Unentschiedenheit, eine Alles-Möglichkeit von Entscheidung ausdrückend, eine Gleichzeitigkeit in diverse Richtungen, eine Kreuzung, die all ihre Wege gleichzeitig begangen sieht.
Das Ellbogen-Bild thematisiert die Möglichkeit über die Unmöglichkeit, zeigt einen dritten Weg auf, die Entscheidung für das Bild, das nichts mit möglich und unmöglich zu tun haben will, das nichts als seine eigene innere Konzeption, Konstellation, Konstruktion darstellt, noch nicht einmal in dieser Hinsicht etwas mit Realismus und seiner Gegenständlichkeit zu tun haben will. Im Bild der Figur mit großem Kopf schaut die Figur den Kopf nicht an, kommuniziert nicht mit ihm, ohne dass andererseits von etwa traumwandlerischer Geste, oder von surrealer Anwandlung zu sprechen wäre. Die Geschichte der Figur und der Grundpose allein erklärt die Konstellation, die sich im Bild wiederfindet.
Die Augen als schwarze Auslassungen, die ja dadurch auch keine Blickrichtung mehr haben, die Augen des Kopfes sind zwar auch schwarz, in ihrem Inneren haben sie allerdings etwas wie eine Pupille.
Der Hintergrund als farbige horizontale Streifen gebildet. Auffällig oben die herunterlaufenden Nasen, das Material, das sich in der lasierten Linie in Erinnerung bringt, sich gegen das Gegenständliche, das Figürliche durchsetzt, Farbnasen, die bis ganz hinunter laufen.
Die Finger kommen leicht geöffnet von oben herab in den Mund hinein. Die Frau frontal zu uns, das Gesicht des Bildes hat etwas Gespensterhaftes, etwas Maskenhaftes. Oberkörper in einem Spaghetti-Hemd. Der Kopf hat keinen Körper, er ist unten rechts angeschnitten.
Sie wollte richtige Hände haben, die etwas festhalten. „Da sind zuerst die Linien, die sich zu einer spannenden Haltung verdichten und da möchte ich mehr reingehen, und dann brauche ich etwas wie eine Hand oder einen Arm. Und ich brauche die Vorlage von einer Hand oder einem Arm in einer bestimmten Haltung, weil ich das präziser haben möchte, und die Fotografie liefert mir die Genauigkeit, die ich an diesem Punkt will. Mit der Vorlage kann ich dann mehr reingehen. Es kann aber auch passieren, dass mich diese Genauigkeit zu langweilen beginnt und dann ziehe ich das Ganze wieder mehr auseinander. Das passiert oft über mehrere Bilder. Aber ich hab schon auch mal das Bedürfnis, dass so eine Hand als Hand erkennbar ist.“ „Aber da kann ich mich auch völlig festmalen, dann sieht das alles fest und gewollt aus. Es geht mir nicht darum, dass so eine Hand total realistisch aussieht. Aber an einem Punkt soll die Hand auch mal wie eine Hand aussehen. Deshalb sollte die Hand auch etwas festhalten.“ Frage Autor: „Und das bricht dann richtig aus dem Bild heraus, dass da etwas viel realistischer gemalt ist als alles Drumherum?“ „Genau. Das macht, dass das Gesicht oder die Hände oder Teile des Oberkörpers richtig hervorkommen.“ „Verschiedene Ebenen der Konkretheit neben Vagem, neben Abstraktionen. Bei den Silke-Bildern war das auch so. Da habe ich das Gesicht immer wieder zerstört, weil ich mich immer wieder festgemalt habe und das beginnt irgendwann zu nerven und löst dieses Zerstörenwollen aus, dieses das Konkrete ins Abstrakte wieder zurückführen, es damit bedecken, es durch seine Hilfe auseinanderziehen, so dass das Bild funktioniert und weder zu fest noch zu leicht ist. Ich wollte das Gesicht haben, ich wollte nicht nur Gesichter haben, die verwischt sind, aber dieser darüber gelegte Farbschwall war oft die beste Lösung. Es gibt da ja viele Möglichkeiten. Und manchmal klappt es auch und das Gesicht ist da, aber nicht zu gewollt, die Hand ist da, aber nicht zu fest, der Körper ist klar umrissen, aber doch durchlässig. Bei der letzten Ausstellung hatte ich Bilder nebeneinander, in denen überhaupt nichts festgezurrt ist, Linien ganz lose Figuren ergeben und daneben Bilder, in denen recht dinghafte Teile erscheinen, Bilder, die zum Teil mit Vorlagen entstanden sind. Ich finde das sehr, sehr reizvoll, dieses Vor und Zurück zwischen Konkretem und Abstraktem, eine Bewegung zwischen beiden.“
Der erblindete Autor selbst wird die Figur, nimmt die Pose als Figur ein, tritt aus dem Bild, in dem er nie war, das ihm gegenüber steht, das ihm als dem Bildlosem beschrieben wird. Hin- und hergerissen zwischen Berührung und innerem Bild, kommt er zwischen beiden zu Welt, wo Sprache in der Beschreibung diese Zerrissenheit dokumentiert, ohne sie aufheben zu können: Malerei, nur Annäherung bleibt sie für den Erblindeten, der Sprache immer wieder neu sich annähert und ein jedes Mal wieder anders.