Swimmers oder: Der weibliche Blick nach Innen
Zu einer Ausstellung der amerikanischen Bildhauerin Carole A. Feuerman ausgerichtet vom European Cultural Centre in Venedig 2017
Der Ort gut gewählt: außerhalb der Biennale, außerhalb der Räume, der Kieswege, eine Wiese, hörbar davor das Wasser, hörbar die Boote, die es durchpflügen, hörbar die traghetti und ihr Schrappen an den Plattformen, wenn sie beim Anlegen manövrieren, der eine Motor dabei Gas gebend, dann der andere, um das Boot in Richtung der hölzernen Landeplattformen zu bringen. Der Promenade am Kanal entlang das Schwappen des Meeres in der Lagune zu hören, das die Boote in Wellen an das Ufer treibt. Die Ohren bekommen so ein Objekt einer Ausstellung vorgestellt, das in realer Gestalt gar nicht auftaucht: die amerikanische Bildhauerin Carole A. Feuerman lässt das Wasser als Imagination in den Köpfen der Betrachter*innen entstehen, spielt mit ihm in ihrer Einbildungskraft.
Beine in den Weg gehalten, auf die der blinde Besucher stößt. Tastet er ihnen nach erkennt er bald, dass sie von Reifen, von Bällen hängen und zu Frauenkörpern gehören. Körper in Badeanzügen auf Schwimmreifen, auf Wasserbällen. Hände gefaltet oder den Ball liebkosend.
Eine Figur inspiriert von einer chinesischen Gottheit, die vormals Mensch war, jetzt sie auf allen Vieren auf einer weißen Kugel, auf der sie mit Händen und Knien balanciert, sie betrachtend, sie liebevoll haltend wie eine ganze Welt, auf die die Göttin wohlwollend herabblickt.
Yaima , die einzige schwarze Frau unter all den weißen, die lässig das linke Bein angewinkelt den Fuß gegen eine Säule gelehnt, in sich hinein lächelt.
Bibi auf einem Ball liegend, den Kopf auf dem Ball als schliefe sie oder meditiere sie. „Möchten Sie ihr Gesicht tasten?“, so die Frage der Kunstvermittlerin des European Cultural Centre. „Das ist wohl ein wenig hoch, da bräuchte man eine Leiter.“ „Soll ich eine holen?“, und kaum ausgesprochen war sie auch schon mit der Leiter zurück, stellte das Metallgestell vor ihm auf und der Autor stieg hoch über den Ball zum Gesicht. Eine riesige Nase die ihm aber mitsamt ihren großen Löchern nur deshalb so groß erschien, weil er die Dimensionen nicht bedacht hatte, die er nach Ertasten der riesigen Finger am Wasserball eigentlich erwarten hätte müssen. Unter der Nase ein geschlossener Mund, dessen Mundwinkel sich lächelnd leicht nach oben ziehen. Aus der Badehaube treten hier nicht einfach ein paar kurze Haarstoppel heraus, eine lange Lockensträhne gleitet ihm durch die Finger. Geschlossene Augen getastet, rau die Wimpern, die Brauen alles in echten Haaren, Badekappen auf dem Kopf, unter deren Rändern Haarsträhnen ebenfalls tastbar hervorlugen.
Alles Frauen, die da zu erspüren sind: Frauen auf Schwimmreifen, auf Wasserbällen, Frauen in bis an den Hals geschlossenen Badeanzügen, Frauen in Bikinis. Alle halten sie die Augen geschlossen, allen umspielt ein Lächeln den Mund und alle sind jüngeren Alters.
Auf höheren wie niedrigeren Sockeln am Ufer des Canale im Giardino Della Marinaressa. Frauen in Berührung mit Wasser ohne dass Wasser hierzu hatte auftreten müssen. Gesten, Haltungen, Gegenstände wie Schwimmreifen oder Wasserbälle schließlich Wassertropfen an ihren Körpern deuten auf das Element hin, in welchem sie sich bewegen, oder dem sie gerade entstiegen sind. Bis auf eine, in Regenjacke, die Wasser in Regentropfenform sich aussetzt, lächelnd wie die anderen.
Das Wissen um die geschlossenen Augen, die Berührung von Wimpern, die immer als Haare zu spüren sind. Das Spüren eines Lächelns, das der Berührende auf die wohlwollende Akzeptanz der Berührten zurückführen könnte, unbewusst übersehend, dass er den Formen einer Skulptur nachtastet, und die Bildhauerin macht es dem Berührenden auch leicht, dass er zwischen zwei Wahrnehmungsebenen sich von den Formen des Hartwachses auf die Einbildung von Haut einer geradezu hyperrealistischen Darstellungsweise hin- und hergleiten lassen kann.
Der Schwarm
Da ist zuallererst eine Assoziation, die freilich zuvorderst in den Sinn kommt: Die Frau und das Wasser. Ein märchenhafter Topos des Unheimlichen, die Nixen, die hinunter ins Wasser ziehen, die Okeaniden, Undine, Melusine und die Meerjungfrauen. In Scharen bevölkern sie Mythen, Sagen und Märchen, tatsächlich in Scharen, weil sie eher selten allein auftauchen; Nereus etwa hatte 50 dieser Wasserwesen als Töchter, die sogenannten Neriden. Nun steht da am Ufer des Canale Grande eine Schar von Frauen in Badeanzug, die allerdings in keiner Beziehung zu einander stehen, die Augen geschlossen, eher in sich gekehrt, bei sich vielleicht. Auf verschieden hohen Podesten und zudem in unterschiedlicher Größe stellen sie eine Individualität aus, eine Einzigartigkeit und jede für sich. In dieser Individualität, die sich aus dem Inneren gleichsam erst ergibt, löst sich der Schwarm auf und lässt eine Reihe von individuellen Frauen in ihren jeweiligen Existenzen zurück. Dennoch werden sie von etwas zusammengehalten, was sich aus ihrem Inneren heraus an ihnen ausdrückt: „einer inneren Schönheit“, die allen gemeinsam ist, dem was eine Frau, eine Bildhauerin an diversen Gestalten von Frauen als deren mögliche Gemeinsamkeit auszudrücken versucht.
Was wir hier feststellen ist, dass „die Künstlerin sehr stark interessiert ist an der Erkundung der inneren Schönheit von Frauen. Die Skulpturen sind uns einerseits sehr nahe, sind aber andererseits in ihrer In-Sich-Gekehrtheit sehr weit von uns entfernt“, so die Kunstvermittlerin des European Cultural Centre Anfang September diesen Jahres am Rande der Lagune, am Ufer des Kanalarms, an welchem Arsenale und die Giardini, die Hauptausstellungsorte der Biennale di Venezia gelegen sind. Ein wenig abseits des Biennale-Rummels haben die AusstellungsmacherInnen des European Cultural Centre diese Ausstellung platziert, abseits, oder auch der Biennale vorgelagert, eine Einstimmung ins Zeitlose, die noch als Ausstellung und unabhängig von ihrem Ort ganz bei sich ist und bleibt.
Next Summer, eine weitere Skulptur auf einem Schwimmreifen liegend, die Hände gefaltet und zwischen ihnen ein Schwamm, den die Frau drückt. Ein spürbar entspanntes Gesicht einer weiteren Frau, die sich vom Reifen auf dem Wasser treiben lässt, das Wasser trägt sie. „She looks very satified“, so die Kunstvermittlerin, und die Frau weiß, dass das Wasser sie trägt, was der Blinde zu ertasten vermag, da alle Teile der Skulptur - Gesicht, Haltung und Schwimmreifen - von diesem Wissen sprechen. Auf dem Kopf über der Stirn trägt sie eine Taucherbrille aber auch nur um zu demonstrieren, dass sie nichts tun möchte, dass sie einfach den Moment genießen will. Auf dem Bauch liegend hat sie ihre Unterschenkel nach oben angewinkelt die Füße spielen mit einander, streicheln einander vielleicht. Spürbar drückt sich das Gewicht ihres Körpers in den Reifen und auf der einen Seite mehr als auf der anderen, als verlagerte sie es genau in diesem Moment ein wenig.
Das Berühren der Skulptur als Schule des Empfindens, nicht nur des Spürens und der Aufmerksamkeit, die es erfordert. In einem inneren Bild stellt sich nicht nur der Eindruck des bildlos Sichtbaren ein, es vermittelt, ja überträgt sich eine Stimmung, lässt den Berührenden an einer Schönheit teilhaben, steckt geradezu an ihr an und anstecken in der Doppeldeutigkeit, die das Wort im Deutschen an sich hat: ein Erstrahlen als Widerschein beim Tasten, im Prozess des Tastens selbst, innere Bilder von der Zeit in der Berührung hervorgerufen und sogleich erfüllt, eine Mischung aus Befall und Entzünden. Das Figurative kommt der Zeit des Materials zuvor, antizipiert es bevor die Hand noch ganz der Figur gefolgt ist, wird von seinem Material aber zugleich immer über die Figur hinausgetrieben und auf das Ertastete wieder zurückgestoßen. Eine Art Dialektik erwirkt sich so, eine Bewegung, die weit über die Zeit des Tastens selbst hinausgeht, hinausgreift.
Der Hyperrealismus schafft einerseits eine Nähe, dem sich die Frauen aber in ihrer Innerlichkeit sofort entziehen ja widersetzen. Mit ihren geschlossenen Augen kommen sie dem Blinden nahe, setzen sich aus als Objekt wahrgenommen zu werden, und doch geschieht dies nicht, werden sie nicht objektiviert, schützt sie ihr nach innen gekehrtes Bei-Sich-Sein davor, vergegenständlicht zu werden, objektiviert zu werden.
Was aber ist es, was diese Frauenfiguren so unantastbar macht und so fragt sich der blinde Autor, kann das im Tasten überhaupt erfahren werden. Zunächst erfährt der Blinde die Möglichkeit einer Illusion, das Lächeln, das immer schon vor seiner Berührung da ist, als eine Reaktion auf seine Berührung imaginieren zu können. Spielen wir diese Naivität in seiner Möglichkeit dann aber auch durch, so läge die Konsequenz in zweierlei Richtungen aufzufinden: in der Rückkehr zur skulpturalen Realität entlarvt das Lächeln nicht nur die Einbildungen des Mannes, sie be-lächelt sie zudem. Andererseits: Die Skulptur setzt sich in ihrer Beharrlichkeit, in ihrer Trägheit irgendwann gegen die Einbildungskraft des Blinden durch, bringt ihn zurück auf die in ihr angelegte Mimik und Haltung. Sie zeigt ihn aber zugleich auf, dass seine Wahrnehmung nicht allein aus der Berührung und dem Tasten besteht, dass eine jede Berührung, wird sie bildlos vollzogen, ein Bild aufruft, das die Realität mit ihren ganz anderen Bildern immer enttäuschen wird. Die Erfahrung der inneren Bilder muss aber gemacht werden, um die Geteiltheit der Wahrnehmung tatsächlich wahrnehmen zu können, die inneren Bilder akzeptieren und Willkommen heißen zu können.
Diese Illusion oder auch nur das Nachdenken über sie ist aber notwendig, da sie in aller Konsequenz die absolute Autonomie der Dinge anhand der Skulptur aufweist, das Lächeln als metaphorische Antwort der Dinge sehen lässt, den Gleichmut mit dem uns Natur und Ding begegnen. Daher auch der Eindruck des blinden Betrachters: diese Frauen lassen sich gar nicht berühren, auch wenn allein Berührung sie in die Wahrnehmung durch den Blinden bringt. Beides, geschlossene Augen und Lächeln, verschließen sie. Sie sind in ihrer Erscheinung zugleich außerhalb dieser Erscheinung, sie sind in Gedanken, die einzig ihren Gefallen zu finden scheinen, die sie umhüllen, zugleich verspiegeln und schützen.
Dieses Lächeln drückt eben kein Gefallen-Finden an Dingen des Außen, kein Wohlwollen gegenüber Erfahrungen oder Ereignissen die außerhalb der Figur sich zutragen oder zugetragen hätten aus, das von außen erfahren worden wäre, es ist ein Gefallen-Finden in einem Inneren, das sich dem Außen gänzlich verschlossen zu haben scheint. In ihrem Gleichmut perlt alles Ereignis von ihnen ab wie die Wassertropfen, die an ihnen herablaufen, ohne dass sie die Schwimmerinnen in irgendwelcher Weise tangieren würden.
In einem Zitat der Künstlerin Carole A. Feuerman, zitiert von der Kunstvermittlerin, mit der der blinde Autor durch die Ausstellung Swimmers in Venedig unterwegs ist, drückt die Künstlerin ihre Beziehung zur Skulptur Bibi sehr genau aus: sie zeige ihre „Connection with her childhood and the lost innocent and then there is some little moments of your life, where you can remember again back this innocent for example when the adult is playing with a ball, leaning on a ball.“
Dabei ist der Ball aber nicht einfach für sich stehend, er steht da als Medium, als Vermittler für das andere Element, das Wasser, auf dem er liegt, um so die Entspannung der Frau überhaupt zu ermöglichen. Der Ball für sich genommen hätte gar nicht die Stabilität eine Frau einfach so auf der Erde zu tragen. Er drückt einerseits auch das Wasser aus, auf dem er liegt, aber auch die Entspannung, die allein Wasser durch ihn ermöglichen würde. Läge die Frau einfach so im Wasser, sie müsste sich bewegen, und Bewegung will von diesen Frauen vermieden werden. Es sind also mehrere Schwellen zwischen denen der Ball liegt, die er überbrückt: eine der Elemente, aber auch eine der Erinnerung an die Kindheit nämlich. In der Verwendung dieses Mediums wird Leichtigkeit für den Blinden tastbar. Der Ball ist auch eine Metapher der Erinnerung, Erinnerung an die Zeiten, in denen Bälle und Wasser eine ganz andere Bedeutsamkeit hatten.
Andererseits, und das ist nur in einer Skulptur möglich, drückte der Ball in dieser hyperrealistischen Darstellungsweise einen Ball aus, der für sich die Schwerkraft ausdrückte, er wäre nicht in dieser runden Weise zu tasten, wie er tatsächlich zu tasten ist: Die Erde auf der er liegt würde ihn durch die Schwerkraft verformen, durch die Schwerkraft, die die auf ihm liegende Frau in die Breite pressen würde, was nicht der Fall ist. Der Realismus selbst zeigt die einzige Möglichkeit der realen Form auf, die einzig realistisch ist, der Ball muss im Wasser liegen, nur so behält er die Form wenn Gewicht auf ihm liegt.
Wie Carole A. Feuerman mit Schwerkraft umgeht und wie sie sie berücksichtigt, ist an der Figur Next Summer zu tasten, die eine Bewegung der Figur auf dem Ball ausdrückt, eine leichte nur, aber spürbare Berührung, die den Ball sofort verformt. Andererseits drückt die Taucherbrille auf ihrer Stirn nicht das Tauchen aus, sondern den Verzicht auf das Tauchen und alles andere im Treiben wegtreiben lassen. Von der Idee tauchen gehen zu können ist nur noch eine Spur übrig.
Dementsprechend sind auch die Wassertropfen als leicht abperlendes Übrigbleibsel des Außen, der Außenwelt zu sehen, die allerdings ohne Spur vom Gleichmut der Schwimmerinnen abfallen. Die Spuren des Wassers als Reste der Welt, aus der sich die Schwimmerinnen herausgezogen haben, sich von der Welt fernhalten und sich dem Element überlassen, das ihnen das am besten ermöglicht.
Gerade in der Skulptur, gerade durch sie und das Material - sei es Bronze sei es Hartwachs - ist Leichtigkeit darzustellen. Nur die feste Skulptur kann Leichtigkeit darstellen. Leichtigkeit und zugleich Schwerkraft und eine Figur, die sich ganz auf beides einlässt, die sich treiben lässt und treiben lassen kann. Das Gewicht ist etwas auf eine Seite verlagert, auch die Füße, die einander berühren sind nicht ausbalanciert, entweder sie will sich drehen oder ihre Füße: genauer der eine Fuß kratzt den anderen, sie streicheln sich nicht, es ist ein Gefühl, dem sie kurz nachgibt, um hernach wieder ausgeglichen liegen zu können. Dieses Danach ist nicht dargestellt und auch nicht darstellbar. Es obliegt der Imagination, der Einbildungskraft, in die hinein Zeit überhaupt sich in der Skulptur zurückzieht. Die Skulptur wirkt so wie ein Speicher von Zeit. Hebt sie auf im doppelten Sinn des Wortes.