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Franziska Aigner in Anne Imhof, Angst II, Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 2016 Foto: Nadine Fraczkowski

Aus dem Nebel

Zu Angst II der Performancekünstlerin Anne Imhof im Hamburger Bahnhof in Berlin

In einer Szene seines Episodenfilms Amarcord lässt Frederico Fellini einen alten Mann an einem nebligen Morgen aus seinem Haus treten. Nur wenige Schritte entfernt er sich, dann hat er sich verlaufen und das so sehr, dass er nicht mehr zurück findet. Kein Laut ist zu hören, kein anderer Mensch ist zunächst auf der Straße, deren Akustik in ihrer Stille für ihn etwas Unheimliches hat, so dass er nicht nur die Orientierung im Raum verliert, ebenso verliert er auch alle Sicherheit des Zeitgefühls. „Wenn das der Tod ist, kann ich gerne darauf verzichten“, sagt er schließlich, bevor er einen Nachbarn antrifft, der ihm sagt, er stehe direkt vor seinem Haus, habe sich also überhaupt nicht entfernt.

Performer_innen werden von Performer_innen heruntergetragen. Mit ausgebreiteten Armen schaffen sich die Akteur_innen Raum und Platz für ihr Spiel durch das zahlreich erschienene Publikum. Später wird sich der Unterschied zwischen Publikum und Performer_innen immer wieder verlieren.

Vom Öffnen der Türen des Hamburger Bahnhofs und seinem Betreten an sind elektronische Klanglinien und Klangflächen zu hören, die die Eintretenden genauso umfangen wie Nebelschwaden aus Nebelwerfern, die den Raum zischend immer wieder mit ihrem staubig riechenden und in den Augen brennenden Ausstoß füllen.

Die Klänge, langsam verschieben sie sich in sich und ineinander als spürten sie Obertöne auf, um sich ihnen zu ergeben und was ihnen an Klang folgt ist das, worin sie sich dann auflösen werden. Einfache Tonabfolgen sind es, die sich in Klängen sammeln. Das Individuum eingebunden in einen Zusammenhang, der es aufnimmt, Reibungen im Bild, die immer wieder kehren werden. Einfach und eingängig sind die Ton- und Klangabfolgen, wiedererkennbar sollen sie sein und sie werden wiederkehren und werden auch wiedererkannt werden.

Unterbrochen werden die Klangflächen später vom Pfeifen der Performer_innen, die aus dem Klangzusammenhang erneut individuelle Melodien herauskondensieren, mit denen sie als Individuen zu erkennen sein werden, die aber dennoch auch Teil der Musik eines Kollektivs bleiben.

Legen wir uns also einige Gedankensplitter, die die Vierstunden-Performance zu Beginn im blinden Blick auslösen, bereit, um mit ihrer Hilfe einen Faden zu spinnen, der uns durch sie hindurch führen könnte, um ihn an ihrem Ende vielleicht wieder zu verlieren oder ihn abzuschneiden oder ihn abreißen zu lassen.

„Sphärische Klänge“ seien zu hören, so Rezensionen zu Angst II von Anne Imhof. Aber was sind sphärische Klänge. Seinen Ursprung nahm der Begriff wohl in der Antike bei dem Philosophen, Magier und Mystiker Pythagoras, der die Meinung vertrat, um die Erde kreisten Planeten wie Sterne, die dann analog zur irdischen Erscheinung Geräusche des Kreisens erzeugen müssten. Musik, die sich beim Kreisen von Gestirnen einstellt, bezeichnete er als die Klänge der Sphären, da sie durch alle sphärischen Bereiche des Kosmos hindurch zu hören seien, nur nicht für die Menschen, bis auf Pythagoras selbst, der von sich behauptete, er höre die Sphärenharmonie. Raum wird so in der Antike von Denkern der pythagoreischen Schule auch als akustisches Phänomen gedacht: Raum an sich klingt bereits.

Teile der Pythagoreer sprechen dualistisch von zwei Prinzipien, dem Apeiron, dem Unbegrenzten Unbeschränkten, und dem Peras, dem Begrenzten, der Grenze, der auch die Zahl Eins zugehört.

Durch Anne Imhofs Performance zieht sich die Auseinandersetzung zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Kontur und seiner Auflösung, zwischen Gedächtnis und Einswerdung mit dem Unbestimmbaren als zentralem Moment hindurch. Realisiert sind diese Gedanken wiederum sowohl in Bild wie Ton. Schließlich könnte man das Bild des Seils, das quer durch den ganzen Raum des Hamburger Bahnhof gespannt ist als einen eindringlichen Ausdruck des individuellen Balanceaktes verstehen: der Balanceakt des Individuums, hier einer Seiltänzerin, die vorwärts wie rückwärts sich immer wieder auf die andre Seite zu bringen hat, ihr Selbst nur auf einem schmalen Grat hinüberrettend in sichere Gefilde vor oder hinter ihr.

Dem Autor kommt die Szene des Seiltänzers zu Beginn von Nietzsches Zarathustra in den Sinn, den eine Art teuflischer Schatten auf seinem Seil als Lahmfuß beschimpft, weil er ihm zu langsam ist und der über ihn hinwegspringt, so dass der Seiltänzer erschrocken das Gleichgewicht verliert und zu Tode stürzt.

Die Klänge erinnern den Erblindeten aber auch an die Band Popol Vu aus den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, an ihre Musik zu Werner Herzogs Remake von Friedrich Murnaus Nosferatu, nur dichter hier in Anne Imhofs Arbeit, und die Klarheit und Bestimmtheit der Klänge in Anne Imhofs Performance sind eher verwischt, dem Nebel akustisch nahe, ihn geradezu nachempfindend.

Das Verwischen von klaren Identitäten, die aber nicht gänzlich verschwinden, deren akustische Konturen in der Ungenauigkeit jedoch immer auch erhalten bleiben, festgehalten von der Figur, die vor dem Absturz in die all übergreifende Gleichheit des Einen schützt: NOCH jedenfalls. Und hier schlösse sich die Musik an die Szene von Fellinis Film an: die Ahnung der Anwesenheit, die allerdings vom vernebelten optischen Bild verstellt wird.

Zwei Podeste auf denen sieben Performer_innen stehen. Säulen auf denen ebenfalls Performer_innen stehen oder sitzen. Sie schauen die Zuschauer an, sie beobachten sie. Die wiederum schauen sie an, beobachten sie.

Ab und an werden die dunstigen Klanglandschaften von Keyboard-Klängen aufgerissen, die wie elektronische Trompeten- oder Fanfarenstöße klingen, wie Signale, die Anwesenheiten behaupten, auf sie pochen, auf sie bestehen. Die apokalyptischen Posaunen kommen in den Sinn, erwecken den Gedanken an die einzige Gewissheit in all dieser im Gleiten begriffenen Welt des Entschwindens, des Unhaltbaren: die Posaunen, in deren Folge das „siebte Siegel“ bricht und das Ende aller Zeit hereintritt. Vielleicht liegt in den elektronischen Trompetenklängen die erste Erinnerung an den Titel der Performance, Angst II, der zweite Akt eines akustisch-visuellen Endspiels, das nach allen Texten kommt, ein Danach, das keinen Text mehr braucht, weil alles gesagt ist.

Eine Seiltänzerin betritt ein Seil, das den Raum aufteilt, ihn zerschneidet, einen Schnitt begehend, der die Bewegungen von Menschen und Maschinen entlang seiner Linie ausrichtet, der auch als eine Linie gesehen werden kann, die Linie als Kontur, die im Lauf des Stückes immer wieder verschwinden wird.

Bilder, für den Blinden sind es Erzählungen, die immer größere Erzählungen ergeben, die dann aber auch wieder einfach stehen bleiben, sich gegen alle erzählerische Integration sträubend. Da sind die beiden Frauen etwa, von denen die eine eine Zigarette raucht, um den Rauch der anderen in den Mund zu blasen: Metapher für den empfangenen Odem, aber auch für das Wort, das am Anfang war. Der Mensch, der eben nicht vom Brot allein lebt, sondern von alle dem, was aus dem Mund des anderen kommt.

Der Nebel als Grund von Bildern
Das Bild kündigt die Möglichkeit einer Berührung an. In der Berührung erfüllt sich die Vorstellung dessen, was das Bild ankündigt. An dieser Vorstellung ermisst sich Erfüllung, Enttäuschung und Erschrecken in der Berührung. Das Bild erweckt Erwartungen, die mit einer Vielzahl weiterer Bilder verknüpft sind, angenehmer wie unangenehmer. Ein jedes Bild ist in ein ganzes Netz von Bildern eingebunden. Dazwischen lauert die Angst.

Ganz allgemein gefasst ist ein Bild auch als die Ankündigung dessen zu sehen, was kommen wird. Wie das Bild den nahenden Schrecken ankündigt, kündigt die Nebelmaschine mit ihrem Geräusch die Zurücknahme der optisch nachprüfbaren Realität an, kündigt an, dass noch die Warnung des Bildes vor dem Geschehen bald entfallen wird: die Bilder werden verschwinden und auch die Gesehenen, auch die eben noch Gesehenen werden verschwinden und werden mit denen verschwinden, die sie eben noch gesehen haben.

Der hintere Teil des Raumes ist jetzt vollkommen im Nebel verschwunden. Sie sehe nichts mehr, bemerkt die Assistentin. Der Nebel ist riechbar. Das Gemurmel, unklar ob es aus den Lautsprechern kommt oder vom Publikum. In jedem Fall ist das Publikum Teil der Inszenierung, sind die Geräusche, die Bilder, die das Publikum abgeben, Teil dieser. Sie mischen sich in die elektronischen Klänge ein, die sich schwerfällig ineinander schieben, ihnen aber gleichzeitig Gewicht verleihen.

Zwei ins Nichts führende Wendeltreppen an einem Ende des Raumes; später werden Performer_innen auf ihnen liegen und sitzen. „Himmelstiege“ nennt sie Anna-Catharina Gebbers, die Kuratorin von Angst II. Dem Autor kommt da das Auf- und Absteigen der Engel in Jakobs Traum in der biblischen Genesis in den Sinn, einem Traum, der einerseits die von Gott gestiftete Auserwähltheit von Jakob, des Urvaters Israels zeigt, andererseits die in Jakob gegründete Durchlässigkeit, die Verbindung von Erde und Himmel in Jakob, der von Gott den Beinamen Israel erhielt.

„Es gibt drei Treppen und die unterscheiden sich alle voneinander, das Geländer ist einmal flacher, einmal höher. Das Geländer entspricht dem Geländer, das vorne im Bahnhof ist, dort bei der Rollstuhlrampe. Es soll das aufnehmen, soll so aussehen, als ob es zur Architektur gehört,“ so Anna-Catharina Gebbers.

Die Wendeltreppen und ihre Plattformen am Ende: Frauen liegen auf ihnen, den Kopf auf die Hände aufgestützt, andere ein Bein angewinkelt, das andere herabbaumeln lassend. Bilder von zuvor noch in Bewegung gesehenen Körpern: das Bild, das alle Bewegung und damit alle Lebendigkeit wie ein Vampir in sich aufsaugt, sich in seiner eigenen Lebendigkeit von der Lebendigkeit der von ihm dargestellten Wesen nährt.

Es gibt keine Texte im Sinne eines Sprechtheaters, Zeichen werden als Aufschriften auf T-Shirts oder als spontane monochrome Wandmalereien ins Spiel integriert, wie bei den graffitiartigen Malereien, die in den Raum führen. Die Musik verlässt sich auf abendländisch vorgeprägte Musikstimmungen, die aufgezeigt werden, um zwischendurch dann wieder brachial zerbrochen zu werden.

Die Körper wie platziert, wie zu Tableaus zusammengesetzt, die wiederum gesammelt Bilder ergeben: Materialien sind sie, die in die Performance integriert werden, deren Bild und Ton der Nebel die Gestalt verfälscht, die im Nebel eine neue Gestalt erhalten, deren Gleiten von einer in die andere Gestalt der Nebel verkörpert.

Klänge die sich öffnen und wieder schließen, bis ihr raues Bewegtsein zwischen einem immer vorhandenen leichten Rauschen von einem Moment zum anderen in eine kalte Klarheit aufgerissen wird, aus der die elektronische Keyboard-Trompete herausbricht, einem elektronischen Fanfarenchor den Raum öffnend.

Zwei Männer springen nacheinander vom Podest, treten vor eine Frau, die noch auf dem Podest steht und die sich auf sie herunterfallen lässt. Sie tragen sie auf ihren Schultern, auf denen sie mit gespreizten Beinen sitzt. Die Gruppe führt eine Prozession an, die Rampe runter, der Publikum folgt. Erneut die Elektrotrompete.

Das immer mitfließende Rauschen wird immer wieder vom Rauschen der Nebelmaschine gebündelt, die hörbar Hörbares verdrängt. Dazwischen stoßartig ein Rauschen wie von Rasensprengern. Performer_innen gehen die Wendeltreppen hoch, während die Seiltänzerin rückwärts über das Seil geht.

"Der Nebel ist jetzt vollkommen dicht", so die Assistentin. „Dort kommt ein Arm heraus. Unten haben sich einige gesammelt, die sich tanzend bewegen, was sie da genau tun, ist von hier aus nicht zu sehen. Man müsste sich vordrängen.“

Zeigen, Zeichen und Fingerzeig
Ein Schrei eines Mannes und langsam wird der elektronische Soundteppich leiser, nimmt sich zurück. Aus dem zurückgenommenen Sound kristallisiert sich das Gemurmel des Publikums heraus, das zurückgeblieben ist wie richtungslos, und wie eine Antwort auf diese Feststellung kommt das Pfeifen zurück, bestimmt und in der Nähe.

Einer ist auf allen Vieren, ein anderer steht auf ihm drauf. Die wie leblos herabhängenden Arme einer Frau, die sich in zeigende Finger verzeichnen, an die eine andere herangehoben wird, auf dass sich ihre Finger berühren. Das Zeigen des Fingers wird als Zeichen für andere unter ihr gesehen, um heranzukommen und die andere hinauf zu ihr zu heben.

Das Zeigen als der Anfang aller Zeichen, die Berührung als seine Antwort. Die Unmöglichkeit allein eine Antwort zu geben, nur ein Kollektiv trägt das Zeichen und ihr Verstehen.

Die Musik beginnt sich von unten, von tiefen Registern heraus zu verdichten, wird voller. Die Klänge nehmen die gepfiffenen Melodien auf, füllen sie.
Frauen liegen auf den Plattformen wie leblos, alle Glieder hängen ihnen herunter, keine Spannung, keine Spannkraft zeigt auf, dass sie nochmals zu Bewegung befähigt sein könnten.

Die Musik, in einem neuen Parameter wird sie hörbar: während in den bis hierhin eher weicheren und zurückgenommenen Klanglinien eine Art Anschwellen und Abschwellen als ihr signifikantestes Moment wahrzunehmen war, wird dieses dynamische Moment nun herausgenommen, die Klangflächen werden starrer, wirken härter.

Der Krieg, seine Töne, seine Bilder
Erneut der Schrei eines Mannes und die Klänge werden nach unten in tiefere Register versetzt, anstatt einer elektronischen Trompete sind es nun elektronische Frauenstimmen, die sich vermehrt in die Höhen aufmachen und das in größeren Intervallsprüngen. Explosionsartig brechen aus ihrem Hintergrund tosende Donnerwolken hervor, die zu apokalyptischem Zusammenbruchsgetose transformiert werden. Von links die Trommelwirbel von Militär, die nach rechts wandern, Bewegung darstellend, der Krieg als Ausformung von Bewegung.

Hörbar die elektronischen Frauenstimmen und hörbar dass sie, als Produkt von Maschinen keinen Atem benötigen, dass sie ohne Atem klingen, das Gegenteil also von atemlos darstellend. Die elektronischen Frauenstimmen schrauben sich gegenseitig in immer höhere Register. Die Trommelwirbel klingen wie live gespielt: „Das ist aber nicht zu sehen, du siehst nur was in der unmittelbaren Nähe ist, sonst sind nur Silhouetten zu erkennen. Der Ausgangspunkt des Geschehens ist vollkommen im Nebel versunken,“ so die Assistentin.

Ein Mann mit Glatze und mit einem roten Mantel bekleidet geht durch den Raum. Im Raum scheint eine Frau zu schweben, wohl die Seiltänzerin auf ihrem Drahtseil, über der jetzt die beiden Lichter einer Drohne auftauchen. Die Drohne erinnert die Assistentin an das Kreuz, genauer an den Gekreuzigten.

Unter dem Seil sammeln sich die Performer_innen, auch ein Mann, der auf die Wendeltreppe gestiegen war, ist wieder heruntergekommen und unter ihnen. Das Seil ist die Linie, entlang der sich die Performer_innen bewegen. Die Drohne fliegt knapp über dem Seil vor und wieder zurück. Dann kommt sie aber wieder und das mit größerer Geschwindigkeit, als wolle sie die Menge vor sich hertreiben. Auch der militärische Trommelwirbel taucht wieder auf, nur zwischenzeitlich war er verschwunden.
Die ursprünglich vereinzelten Frauenstimmen ziehen sich zu einem Chor zusammen, unterstützt von Elektronik, die ihn mitträgt.

„Die Musik, hier gerade wird live gesungen, viele sind auf Spuren, die die Performer mit ihren Handys auch selbst starten. Mikrophone sind an ihnen angebracht, um Gesang oder Geräusche, die sie verursachen, zu verstärken,“ erklärt die Kuratorin.

Die Seiltänzerin geht vor und rückwärts zurück, geht in den Nebel und wird dabei zweidimensional, als würde die Bildwerdung eines Geschehens beobachtet. Manchmal tauchen in ihrer Bewegung, der Bewegung der Performerin Teile ihres Körpers auf und verschwinden wieder. „Jetzt sehe ich nur einen Arm. Man sieht jetzt ihre Körperbewegung als Fläche“, so die Assistentin.

Nur in der Imagination des Blinden gewinnt das Bild aus seiner Fläche dreidimensionale Tiefe, oder andersherum: der Blinde erlebt in seiner Einbildungskraft die Geburt des Bildes aus dem Geist eines verschwindenden Körpers.

Die Drohne als Kriegswerkzeug in Gestalt des Gekreuzigten, das Kreuz als Orientierungsmodus, das Koordinatenkreuz, das Richtungen ausweisbar macht: die Richtung hier wäre eine Anspielung von Anne Imhof auf das Kreuz als abendländische Bezugsgröße und die bedeutete seit dem Beginn der Zeitenwende immer wieder Krieg und Leid, die christliche Kriegsherren seit den Kreuzzügen anderen brachten. Und der Religionsstifter dieses Glaubens wird, mit seiner Vorstellung von Nächstenliebe kaum gezielte Tötung im Namen eines Feldzuges gegen das Böse gemeint haben.

„Rechts stehen zwei Figuren, links steht eine auf einem Sockel, das Ganze erinnert an einen Tempel. Durch den Nebel verschwindet das Dreidimensionale jetzt gänzlich“, so die Assistentin.

Die Streicher gehen sekundweise nach unten und wiederholen diese Geste. „Dabei“, so die Assistentin, „verschwinden die Figuren noch aus dem Zweidimensionalen ins Nichts des Nebels. Auch die Seiltänzerin ist jetzt ganz verschwunden und trotzdem ahnst du, dass sie noch da ist, du siehst einen schwarzen Schemen.“ Nicht allein das Verschwinden wird beobachtbar, im Verschwinden bleibt immer die Ahnung des ehemals Anwesenden, das was ist verschwindet also nie, demonstriert in seinem Verschwinden seine währende Präsenz, eine In-Frage-Stellung aller Vergangenheit oder: das Gedächtnis erinnert nicht, es ist die Versicherung paralleler Welten, die sich nicht nacheinander ablösen, die nicht einander folgen, die immer gleichberechtigt nebeneinander fortbestehen.

Selbst das Publikum wird durch den Nebel ins Spiel hineingezogen, wird zu Performer_innen, die wie lebende Tableaus herumstehen. „Du starrst die ganze Zeit in den Nebel hinein, aus dem Figuren dann wieder wie Erscheinungen herauskommen, nur um wieder zu verschwinden“, meint die Assistentin.

Einen Versuch Angst mittels der Unfassbarkeit im Nebel darzustellen, unternahm bereits vor dreißig Jahren der Horrorfilm Fog, Nebel des Grauens. Was da aber in John Carpenters Genrefilm zum Ausdruck kam, beschäftigte sich mit der Vererbbarkeit von Schuld, der vererbten Schuld in Gestalt der Tat, die widerkommt, die sich rächt an den Kindern der Täter. Nicht eine religiöse Erbsünde ist es, die da wiederkehrt, eine ganz konkrete Tat ist es, die an die Heimsuchung der Tat bis auf das vierte Glied erinnert, wie es der alttestamentarische Gott seinem Volk durch seinen Mann Moses übermitteln lässt.

An diesem Film denkend, verwandeln sich die Bilder des Nebels, die wir bis hierhin gesehen haben. Bilder der Gestalt, der Form waren es, die der Nebel ihrer Dreidimensionalität beraubte, die er zu etwas Flächigem machte. Das Flächige des Filmes wiederum zieht nun erneut die Gestalten in das Imaginäre der Bilder, ins vermeintlich Zweidimensionale, in eine Region, die hinter der undurchdringlichen Nebelwand ein Un-Wesen treibt, das hinter allem Wesen und einer vermeintlichen Festigkeit seiner Formen liegt, etwas, das man von Anne Imhofs Performance aus als das Gedächtnis des Spiels bezeichnen könnte. Aber die Bezeichnung spielte ja bereits eine Rolle in diesem Text. Ziehen wir die Bezeichnung selbst also an diesem Punkt in den Strudel des Films, reichern wir sie mit dem Gedächtnis der Dinge an, entkleiden wir das Geschehen mit seiner Hilfe.

Während John Carpenter einen Film über die Wiederkehr des Verdrängten und die Angst davor drehte, eine Szenerie, die an einem gewissen Punkt ihre Erlösung beinhaltete - spätestens da, wo die Strafe ein Ende setzt, das Gericht sozusagen hereinbricht - bringt uns Anne Imhof in eine geradezu Nietzscheanische Szenerie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, die keinerlei Hoffnung auf ein Ende, welches auch immer, zulässt.

Die Rückkehr des Bildes als Mantel des Vergessens
Die Drohne stand vorher über dem Seil und darunter liefen die Performer_innen. Auch die Drohne hält sich an die Linie des Seils. Das Bild der Drohne gepaart mit dem schnellen Gehen der Performer_innen, dem militärischen Getrommel und dazu in den elektronischen Klängen eine kleine Sekund auf und ab: So wird eine Enge erzeugt, ein Gefühl von Angst, oder gar ein panischer Zustand.

Die Drohne geht runter und verschwindet unter den Menschen. Beim Niedergang der Drohnen sind Streicher, die an die Musik zum Film Mr. Turner – Meister des Lichts von Mike Leigh erinnern, und gerade an dieser Stelle spricht die Assistentin von malerischen Gesten der Inszenierung: „Wie die am Boden Liegenden ein flächiges Bild ergeben, so wird auch die Seiltänzerin zu einem Bild. Unterstrichen wird das Ganze von den Bögen der Architektur, seien es Fenster oder Portale. In diese Bögen hinein sind die Figuren gestellt. So entstehen Rahmen. Einige Figuren stehen auf diesen Sockeln, auf diesen Stelen, auf diesen Podesten. Aber eben auch das Publikum wird zu Figuren dieser lebendigen Gemälde.“

Das Zeichen als Verwundung
Ein anderes Moment der Performance sind Bilder der Verletzung, die in diversen Gestalten immer wieder auftauchen. Wenn sie aber in Erscheinung treten, tun sie das nicht selten in Zusammenhang mit dem Vorgang des Zeigens und seines Ergebnisses, dem Zeichen.

Da wären etwa die Boxsäcke: teilweise ist ihre Oberfläche regelrecht zerfetzt, manchmal hingegen sind nur kleine Risse zu spüren, Spuren sehr harten Trainings. Unter der zerrissenen Oberfläche tauchen Zeichnungen auf, die an Tätowierungen erinnern mögen, an Einstiche in die Haut.

Das Ganze erinnert an Verletzung als Ursprung des Zeichens, an die Narbe als ihre Spur, als ihre Erinnerung. Eine der ältesten Arten der Schrift, die bis in unsere Tage überlebte, ist die sehr brachiale Bearbeitung des Steines, die mittels Hammer und Meißel den Stein aufbrach, um Zeichen in ihm zu hinterlassen: die Inschrift als Beschädigung des Materials.

Anne Imhof nun sucht in ihrer Bestrebung der Homogenisierung diese Vorgänge wieder rückgängig zu machen, sucht Bilder, in denen die Zeichen wieder zum Verschwinden gebracht werden, in denen ihre Spuren ausgelöscht werden, Bilder, in denen dieser Vorgang beschrieben wird. Sie stößt dabei auf die Flüchtigkeit von Zeichen, etwa in der Musik. Das einzige, was an Grund verblieben ist, ist der Körper, in dem sich die Spur der Zeichen eingräbt. Die Spur des Zeichens die nur noch im Gedächtnis bleibt, als Klang, als Ertastetes, als Bild.

Dabei stößt Anne Imhof auf den Vorgang des Rasierens, die Maske, die der Schaum zunächst herstellt, um unter ihr ein neues Gesicht hervorbringen zu lassen. Indem sie aber auch die Finger einschäumen lässt, deutet sie die Wiedererstehung des Zeichens selbst an, eine andere Art des Zeichens, eine andere Art des Zeigens und eine andere Art der Berührung. Die Hand, die Berührung, das Zeigen, das Empfangen von Zeichen im Griff, im Begriff, andererseits die Tätowierung, das Bild als Körperzeichen, das unter Schmerzen entsteht, das nur unter Schmerzen wieder entfernt werden kann.

Das Dosenöffnen: verstärkt klingt es wie ein brachiales Krachen und danach ein Zischen, der eine öffnet die Dose, die andere bringt die Dose nach vorne, wo sie sie abstellt, dann kommt sie zurück und das Ganze von vorne. Dann nur noch Dosen in schneller Abfolge geöffnet und die Geräusche umwandern den akustischen Horizont von hinten. Theatrale Handlungen, die sich und ihre Geräusche feiern.

Die Musik von düsteren Klangflächen, die sich ineinander schieben, geht plötzlich in ein schepperndes Stürmen über, das sich bei weiterem Fortgang als das bekannte Militärschlagwerk entpuppt, das so gedrängt ist, dass es wie Wasserstürze wirkt. Das Gerausche wird vom Zischen der Nebelmaschine aufgegriffen, die den Raum innerhalb kürzester Zeit in ein zu riechendes weißes und undurchlässiges Meer verwandelt.

Die Töne in Herzrhythmus ausgestoßen. Dann taucht erneut eine Drohne auf und jetzt klar hörbar: der Motor klingt kleiner, klingt flach, hat auch etwas rauchig Dunstiges. „Es ist die Drohne vom Anfang und ich frage mich jetzt, wie mir Assoziationen zu Kreuz oder Gekreuzigtem in den Sinn kommen konnten. Es war wohl der Nebel, die Unschärfe“, so die Assistentin.

Nach einer ganzen Weile, in der nur die Drohne zu hören ist, treten erneut die elektronischen Trompetenschritte in den Raum und auch sie im Herzrhythmus sekundweise nach unten, ab und an ein Sextsprung nach unten und wieder hoch, dann eine ganze Tonleiter und eine weitere Oktave um Oktave, im Schritttempo, eine Männerstimme improvisiert darüber im selben schrittweisen Rhythmus. Eine Frau tippt auf ihrem Handy und die Stimme wird vollkommen übersteuert, eine Rückkopplung setzt ein bis weiteres Handygetippe die ganze Szenerie akustisch wiederum klärt, für einen Moment zumindest: zwei Frauen mit Mikrophonen beginnen zu schreien und überdecken mit ihren Schreien alles was an Akustik noch zu hören war.

In der Zwischenzeit ist die Seiltänzerin wieder erschienen und steht über den Zuschauer_innen. Das dumpfe Donnern setzt wieder ein. Männer beschmieren mit ihren bloßen Fingern die Wand mit schwarzer Farbe. Die Töne einer elektronischen Geige suchen sich durchzusetzen. Das Donnern rhythmisiert das lautstarke Geräuschchaos. Langsam setzt sich das Geigenmotiv, das an den Turnerfilm erinnert wieder durch. Zwei Performer_innen mit schwarzer Farbe an den Händen tanzen an der Wand. Suchen sich von der Wand wegzutanzen, kommen aber kaum los.

Das Chaos, das Tohuwabohu, das Ende als der wiederholte Anfang, die ewige Wiederholung des Gleichen ohne Sinn. Der Beginn des Zeichens oder das Prinzip der Wiederholung: was davon setzt sich dabei fest, was erhält welche Bedeutung und sinnlos die Frage nach dem Warum, führte das doch hinein in die Erfahrung der Geschichte, da wo die Doppeldeutigkeit dieses Begriffes sich entfaltet, das Double des Geschehens als das, was von ihm erzählt wird.

Der Weg zurück zum Anfang der Weg hindurch durch die Klangflächen, die von den militärischen Trommelwirbel durchschnitten werden, begleitet von quäkenden elektronischen Klängen.

Einswerdung und Angst
Was aber widersetzt sich der Homogenisierung oder man könnte es auch Einswerdung nennen, was widersetzt sich ihr: Es ist die Angst vor der Auflösung, es ist gerade die Angst vor dem Verlust dessen, was das Individuum zu allererst auszeichnet, die Abgrenzung, die klare Kontur, das Entwickeln einer Fläche, an der sich das Außen reflektiert. Gerade sie und ihr Verlust sind es, die Anne Imhof uns inszenatorisch vorführt oder wie Anna-Catharina Gebbers es ausdrückt: „… dass alles immer etwas verschwindet“.

Konturen verlieren sich, die Figur zieht sich in ihr eigenes Bild zurück und verliert dabei ihre Tiefe, nichts als Imagination ist sie, nichts als Vorstellung, als Einbildungskraft.

Melancholische Lieder von zwei Stimmen - einer Frau und einem Mann - unisono gesungen. Die Frauenstimme singt wie eine Sirene, klingt wie ein Alarmsignal. Zunächst scheinen Bombardements stattzufinden, zumindest klingt das, was da zu hören ist nach kriegsähnlichen Zuständen. Später wird aus der Klangszene ein Autorennen wie ein Landemanöver eines Flugzeugs: Krieg wie Spiel gehen akustisch ineinander über, verlieren ihre klare zuordenbare Identität, ihre Erkennbarkeit. Leben und Tod sind nicht mehr klar auseinanderzuhalten.

Vom Anfang an sind Aufschriften auf T-Shirts zu sehen die auf Identität pochen und dies das ganze Stück über, die ganze Entwicklung des Stückes über. Parolen die Zugehörigkeiten vermitteln, Bekenntnisse, Gruppenidentitäten aber auch Agitation. Das Geschehen der Performance löst diese Postulaten und Bekundungen nicht ein. Das Gesamtbild der Schriften: Totenköpfe des Punk, Mozart als ihr Gegenstück, Antifaschistische Aktion. Zusammengesehen scheinen sie austauschbar, als halte sich das Geschehen an den Schriftzügen fest, die keinerlei Entwicklung aufweisen, aber auch keinerlei Radikalisierung, die in tatsächlicher Aktion etwas zuspitzte. Die Identitäten halten sich in gewisser Weise an sich selbst fest, kommen von sich nicht mehr los.

Was ist der Ort der Angst und vorausgesetzt, die Angst sei ein Ding. Bei Anne Imhof wird die Angst zu einem Ding in Gestalt. Der Nebel wiederum wird zum Raum am Ort, macht den Raum sichtbar unsichtbar. Damit findet Anne Imhof ein Bild für die Ambiguität der Angst, ihre Spürbarkeit und zugleich ihre Unfassbarkeit.

Die Fortsetzung der Regel: das Nicht-Berühren der Dinge, der Boxsäcke, der Wendeltreppen, das Nicht-Betreten dürfen der Treppen, die einzig erlaubte Wahrnehmung die optische und der Zwang zum Zuhören, das Ausgeliefertsein an die Akustik.

Jederzeit kann jede_r den Museumsbahnhof verlassen oder betreten. Wenn er oder sie den Raum betreten hat, hat er oder sie sich an Regeln zu halten, etwa die, nicht an jeden Ort gehen zu dürfen, er oder sie hat sich Regeln zu unterwerfen, die nur für diese Performance gelten, er oder sie darf Orte nicht betreten, die er oder sie nur während dieser Performance nicht betreten darf. Jede_r fügt sich freiwillig unter ein Regelwerk, innerhalb dessen sich ein Spiel vollzieht, dessen Ende er oder sie einerseits nicht kennt, in dessen Spiel er oder sie allerdings und von ihm ihr beobachtbar integriert ist. Beobachtet wird er oder sie bei seiner oder ihrer Beobachtung, wird beobachtet von Performer_innen, die innerhalb der Regeln der Performance auch improvisieren, freie spontane Entscheidungen treffen, für die Gegenstände wie Boxsack, Drahtseil, Wendeltreppe und Handy nur einige Accessoires latenter Machtbeziehungen darstellen, die außerhalb der Performance sofort ihre Bedeutung und ihren Machtcharakter wechseln.

Dann aber wieder Bilder wie die der Rasur, die Veränderungen auf der Oberfläche vornimmt für die eine Maske gebraucht wird, unter der die neue Haut hervorkommt, die Maske, die zu diesem Zweck abgenommen, abgeschabt wird, als gebiere sich die Haut unter der Zerstörung der Maske neu als fänden sich unter der Häutung die neue Berührung wie die neue Bezeichnung, denn auch die Organe der Berührung und der Bezeichnung, die Finger, die Haut werden neugeboren unter der Abnahme des Maskenschaumes, werden unter ihr neu hervorkommen.

Und vielleicht liegt ja in diesem kleinen Alltagsbild, dem der Rasur ein Schlüssel zum Verständnis der Performance von Anne Imhof: die Veränderung als Häutung, die Häutung als Schmerz, das Spiel in all seinen Regeln als einziger ästhetischer Gewinn eines Lebens, dessen Scharnier die Angst ist.

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Emma Daniel in Anne Imhof, Angst II, Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 2016 Foto: Nadine Fraczkowski