Die Stimme auf der Schwelle
Toshio Hosokawas Oper Stilles Meer an der Staatsoper Hamburg
Zunächst die Welt nach dem GAU zu denken: Das Meer, das Erdbeben, der Tsunami, die Kernschmelze eines oder mehrerer Reaktoren. Aber was wäre eine solche Welt, wie sähe ihre Wirklichkeit aus. Vielleicht ist die Schwierigkeit ein Bild für eine solche Wirklichkeit zu finden das innere Thema einer Oper über die Reaktorkatastrophe von Fukushima und vielleicht ist gerade die Oper das naheliegendste Medium, um die Suche nach einem solchen Bild in Darstellung zu bringen. Freilich sind da die Bilder von Menschen in Schutzanzügen. Gerade diese Schutzanzüge, die das Leben vor Strahlen schützen sollen, sind in der Gegend von Fukushima so notwendig geworden wie sie für den Blick von außen auch zu einer Art Klischee geworden sind, unter dem das Leben selbst, das da noch immer pulst auch für Außenstehende zu einer Art geistigem Sperrgebiet geworden ist, das auch im Denken und Umgang mit den betroffenen Menschen in und aus Fukushima zu einer neuen Art von Vorurteilen geführt hat: nicht selten werden sie als Verstrahlte bezeichnet, womit vor allem die umgesiedelten Familien und ihre Kinder konfrontiert sind, die wie das behandelt werden, was man in antiken Zeiten als Aussätzige bezeichnet hatte.
Auf der Bühne ein Steg, der die Welt in gewisser Weise aufspaltet. Da ist eine blaue Fläche unter einem Glasrund, in dem sich die Neonröhren der Beleuchtung genauso spiegeln wie die Menschen an seinem Rand, ein Bild des Meeres, über das geschaut wird, sehnsüchtig geblickt wird, das in der japanischen Mythologie der Ort ist, von dem her die Seelen kommen und zu dem hin sie wieder von der Erde verschwinden werden. Da ist andererseits ein Brückensteg, über den die Hauptdarstellerin immer wieder verschwindet und wieder auftaucht - eine Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits - auf dem sich vor allem die Figur bewegt, die in Toshio Hosokawas Oper die Funktion der Mittlerin zwischen diesen beiden Welten auszufüllen hat, eine Schamanin, wie sie noch heute in Japan beim Tod von Verwandten, vor allem von Kindern, aufgesucht werden. Die Figur in Stilles Meer, der Toshio Hosokawa diese Rolle zugedacht hat, ist Claudia, eine Deutsche, die seit Jahren mit ihrem Mann, einem Japaner und ihrem Sohn Max in Fukushima lebt, und deren Mann wie ihr Sohn am Tag der Katastrophe angeln gegangen waren und nie wieder zurückgekommen sind. Die Stimme der Claudia ist das Medium und mehr als die Figur selbst es ist, ist es ihre Stimme. „Ich glaube daran, dass der Musik schamanische Kräfte innewohnen. Claudia ist eine Miko, eine Schamanin“, so Hosokawa selbst.
Ihr Name wiederum so häufig ausgesprochen und ein jedes Mal, wenn, wer auch immer, ihr begegnet, dass er deutlich aus dem akustischen Kontext der Oper heraussticht. Bewusst ist dieser Name so eingesetzt wie die Stimme der Frau selbst, eingesetzt wie eine Art Amulett, ein Talisman der Nähe sucht und herstellt zu einer Frau, die immer wieder auf der Brücke verschwindet, Kontakt mit der anderen Seite hält und herstellt.
Menschen erscheinen. Zuerst zwei Männer, der eine zündet sich eine Zigarette an. Noch mehr Männer und Frauen erscheinen, ein weiterer raucht, ascht in einen mitgebrachten Handaschenbecher. Männer wie Frauen tragen kleine Papierlaternen, die sie im Verlauf einer Zeremonie auf das Meer setzen werden: die O-higan-Zeremonie, die der Seelen der Verstorbenen gedenkt. Ein Roboter mit großen Augen und in einem weißen Kleid spricht in einer Mädchenstimme, dass sich alle in der sicheren Zone befänden. Meeresrauschen, das nach dem verstummen des Roboters zunimmt.
Der eigentliche Beginn des Stücks ein undefinierbares tiefes Geraune, als ob sich etwas näherte. Ein Trommelgetöse, das die Katastrophe von Erdbeben, Tsunami und Kernschmelze darstellen soll, das die auf der Bühne befindlichen Protagonisten und Protagonistinnen in Schrecken versetzt. Ein ohrenbetäubendes Getöse, das aus mehreren übereinandergelegten Schlagwerkwirbeln besteht, die von einer großen Trommel wie von einem Herzschlag gegliedert werden, zerschnitten von Becken und Gongs. Ein geräuschvolles Gewirbel, das in seiner Vielschichtigkeit akustisch sowohl als ein Maschinenrhythmus zu hören ist, als auch als ein Gewittersturm: ein unheiliges Gemisch aus Technik und Naturerscheinung. Entsetzt die Gesichter der Menschen auf der Bühne, die der Roboter auf japanisch zu beruhigen versucht: bei dem Getose handele es sich nicht um einen Tsunami, sondern lediglich um ein Erdbeben der Stärke 4, was für den 11. März 2011 nicht zutreffend war: es handelte sich an diesem Tag um das schwerste Erdbeben, das jemals seismographisch gemessen worden war.
Ton um Ton baut sich ein Cluster in den Streichern auf, zeichnet sich selbst nach, verdoppelt sich zu seiner Stabilisierung so als misstraue er sich selbst; eine Bewegung nach unten, um dann wieder nach oben zu steigen, jetzt aber mit Bläsern angereichert, die in einzelnen Tönen aus dem Klangteppich herausstechen, in kleinen Figuren, die zu keinen Melodien kommen können. Ein Versuch Individualität auszukleiden, der einfach abreißt, dessen Material wieder in das Klangband zurückfällt aus dem er einst gekommen war, dem nur bleibt auf seine Erinnerung zu hoffen. Mit seiner Erinnerung spielt auch ein Rest des vergangenen Trommelwirbels, wie ein Gedanke steht er da, eine Materialisierung die sich ungerufen einmischt, die auch nicht einfach nur an den Tsunami erinnert, die an einen Zusammenhang erinnert, der Zerfallen ist, aus dem einzelnes individualisiert herausfällt.
Düster die Stimmung, Töne und Tonfolgen immer wieder einfach als Geräusche erscheinend, wo sie nicht mehr horizontal in eine melodische Tonfolge sich finden oder sich vertikal zu einem Akkord vereinigen. Undurchdringlich schwingt der Streichercluster von Akkorden der Posaune durchschritten, die zum Einsatz des Chores führen, nachdem sie zuvor Flöten aufgeschreckt haben, die wie Vögel pfeifend davon stieben.Und doch klingen die vereinzelt erkennbaren Instrumente wie das Adergeflecht in einem monochromen Monolith, das die Undurchdringlichkeit durchblutet erscheinen lässt.
Die Stimmen des Chores in Oktaven zueinandergestellt, in der sie sich durch die Melodieführung unisono im vertikalen Block schreitend hindurchbewegen, in ihrer Mitte mit sich eine Quart wie einen verstümmelten Rest eines Dreiklanges führend, den es nicht mehr gibt, weder in Dur noch in Moll: schreitende Oktaven, die von einer Quart zusammengehalten werden. Der Text in Gestalt von Frage und Antwort. Wobei die Aufforderung zur Antwort in großen Sprüngen nach oben und hinaus in den Raum geradezu geschleudert wird, einer Anrufung, einem eindringlichem Gebet nicht unähnlich: "Ist die Nacht ohne Mond, frag die Sterne." Es sind letztlich die Fragen eines Blinden, der zur Beantwortung seiner Frage auf je eine andere Natur- oder kosmische Erscheinung verwiesen wird, die ihm, genauso wenig wie früher, eine Antwort geben wird. Es gibt keine Antwort auf das Dunkel. Und gerade die Natur und der Kosmos werden sie so wenig beantworten, wie sie es früher getan haben. Eruptiv entlädt sich das Orchester immer wieder, um in sich zusammenzufallen und sich erneut in neuerlichen Aufballungen zu entladen und wieder zusammenzufallen. Ein Ein- und Ausatmen, von dem nicht klar wird, welcher Organismus sich da heraus speist. Dieser Grundstruktur der Orchesterbewegung, die alle Entwicklung in sich hält, die nichts fortkommen lässt, entspricht das Bühnenbild, das alles andere als eine „Landschaft mit Meer“ darstellt, die in einer Art Gleichnishaftigkeit verbleibt und damit allen Bewegungen in ihr eine Doppeldeutigkeit verleiht, etwas von einem Übergang, einem „Noch-Nicht“ und zugleich „Nicht-Mehr“, einem zugleich Diesseitigen und Jenseitigen.
Das Hinauf des Gebetes stufenweise und danach wieder herab, ein Fragen und Antworten, das ähnlich wie das Auf- und Abschwellen der Musik einerseits in den Instrumenten als Atmen aufgefasst werden könnte, das in den Stufen aber eher wie ein circulus vitiosus sich darstellt, eher wie eine Bewegung, die sich in ihrer Wiederholung entleert. Im Chor das Violinglissando in eine vereinzelte Welle angeschwollen, dazwischen Bläsereinwürfe wie Echos, bis auf die Piccoloflöte, die wie der Rest einer Vogelstimme anmutet. Die letzte Frage von einem Bariton, „Ist die Nacht ohne Wellen“, deren Antwort „frag die Wolken“ mit anschwellender Wellenbewegung des Orchesters beantwortet wird, an dessen Ende die Bässe langsam nach unten steigen. Immer wieder aber ein Anschwellen und Abschwellen von Clusterklängen, in denen sich kurze Tonfolgen, die keine Melodien werden können verirren. Alle blicken nach oben wo gegen Ende auf die Frage, ob der Himmel vergeht, zu hören sein wird, dass der Himmel vergeht.
Gehen wir, wie oben angedeutet von einem inneren Bild der Menschen in Fukushima nach dem Tsunami aus, treten viele widersprüchliche Momente in den Raum, die in einem solchen Bild ihre Anwesenheitsberechtigung fänden. Da ist zunächst das Ende der Sichtbarkeit, die sich im Roboter ausdrückt, dessen Erscheinen den Menschen verdeutlichen soll, dass sie sich, was sie von sich aus nicht mehr feststellen können, in der sicheren Zone befänden, oder eben im Gefahrenbereich. Die Wirklichkeit ist zwar sichtbar, was aber tödlich darin ist, stellt nur die Technik fest, die diese Gefahr überhaupt produziert hat. Es gibt seit dem Tsunami und der darauffolgenden Kernschmelze zwei Wirklichkeiten, oder: gibt es die vielleicht schon immer. Deutet das Bühnenbild von Toshio Hosokawas Oper nicht gerade darauf hin. Das Bühnenbild unterstreicht aber auch noch einen Zustand der Gleichzeitigkeit, zudem eine Verbundenheit der verschiedenen Elemente, ihr Zusammenhang gehört. Der Übergang ist mit der schmalen Brücke sichtbar, eine Sichtbarkeit eines schmalen Grades zwischen Leben und Tod. Die Bühne grau, eine blaue kreisrunde Fläche, die das Meer darstellt, eine schräge Glasfläche darüber und über ihr ein grauer Steg. Darunter und sichtbar die Konstruktion, die die Glasplatte und den Steg hält, an der zu sehen ist, dass beides miteinander verbunden. Für sich genommen ein Bild dafür, dass es aus einer gewissen Perspektive keinen Unterschied zwischen den Elementen gibt, dass das Meer und der Steg einen Übergang darstellen. Der Bick Claudias wird immer wieder auf das Meer gerichtet sein und er ist dies von einem Punkt aus, dem Steg, der ganz offensichtlich in seinem Halt mit der Konstruktion des Meeres verbunden ist: beides, Steg wie Meer gelten als Übergänge zwischen Diesseits und Jenseits, beides ist im Bühnenbild von einer stabilisierenden Konstruktion miteinander verbunden.
Mit dem Auftritt von Stephan aus Deutschland, dem Vater von Max, und mit der Erinnerung Claudias an ihr erstes Nō-Theaterstück, beginnt eine Auseinandersetzung mit Claudias Entscheidung nach Japan zu gehen und Stephans Wunsch gemeinsam nach Deutschland zurückzugehen, zusammen zu tanzen wie früher. Immer wieder betont sie, dass ihre Heimat Japan sei, dass sie nie wieder zurückgehen werde. Und, angesprochen von allen Bewohnern, die sie kennen und freundlich begrüßen, scheint sie auch ein Teil des Dorfes zu sein, deren Kindern sie Ballettunterricht erteilt. Zu Beginn aber, bei der ersten Begegnung mit einem Fischer, dessen Tochter sie Tanzunterricht gibt, kommt aber auch bereits ein Problem zu Tage, das Claudia angeblich mit der Wirklichkeit habe und das die anderen Bewohner verstört: sie glaubt, dass ihr Sohn Max noch am Leben sei. Sie müsse die Wirklichkeit anerkennen, bekommt sie von Stephan wie ihrer Schwägerin gesagt und antwortet ihnen: “Welche Wirklichkeit. Ich sehe diese Wirklichkeit nicht.“
Einerseits eine Wirklichkeit, deren tatsächliche Realität nur noch von einem Roboter festgestellt werden kann, andererseits eine Wirklichkeit, die nur über den Brückensteg zu erreichen ist und nur von Claudia in aller Konsequenz begangen wird, ein Weg und eine Welt, die außer ihr niemand sonst sieht, geschweige denn begeht.
Akustisch finden sich Überlappungen der Welten und Wirklichkeiten vom ersten Moment an, wo der an die Katastrophe erinnernde Trommelwirbel auch an das hauptsächliche Accessoire des Schamanen denken lässt, die Trommel, eine Erinnerung die immer wieder sich im Orchester einfindet, und sowohl an Katastrophe wie Schamanismus erinnert, aber durchaus auch das akustische Bild des Risses und der Unterbrechung heraufbeschwört.
Die Bewegungen der Schauspieler und Schauspielerinnen sind zu Beginn in der Langsamkeit des Nō -Theaters gehalten, allerdings eher als ein Zitat, das die Ahnung einer anderen Weltbetrachtung, einer anderen Empfindung von Raum und Zeit durchscheinen lässt, an der sich Toshio Hosokawas Oper in Momenten der Inszenierung auch orientiert, etwa vor dem eigentlichen Beginn, die die Spielenden in entschleunigter Weise bewegen lässt, wo etwa ein Mann einem Kind, das auf dem Arm seiner Mutter sitzt in der Geschwindigkeit, die die westliche Moderne als Zeitlupe, als Slow Motion bezeichnen würde, das Gesicht streicheln lässt. Gerade in solchen Szenen wird deutlich, was der Regisseur Oriza Hirata meint, wenn er davon spricht, dass er sich weniger einer dramatischen Handlung verpflichtet fühlt, eher der Darstellung von Zuständen: als kehrte sich aus der Alltagsbewegung die innere Struktur der Bewegung heraus, so ein blinder westlicher Betrachter, in dessen Imagination Bewegung nicht einfach zu einem Bild gefriert, dass eher die Geschwindigkeit sich soweit in den Körper zurückzieht, dass dieser Körper als sein eigenes Kraftzentrum eine Energie ausstrahlt, die, ohne sich zu bewegen, alle Möglichkeit von Bewegung in sich spürbar macht, ohne dass davon Bewegung tatsächlich zu sehen wäre.
Mit ihrem Gesang vermag Claudia Diesseits und Jenseits miteinander zu verbinden. Die Gleichzeitigkeit von Diesseits und Jenseits aber ist, und das Bühnenbild verdeutlicht dies, im Grunde der Wirklichkeit bereits angelegt. Dass für Claudia Max lebt, ist für sie als Wanderin zwischen Diesseits und Jenseits die einzig richtige und offensichtliche Konsequenz. Die Brücke ist ein sichtbares Zeichen für diese Anwesenheit. Dass sie nicht wieder nach Deutschland zurück will, liegt einerseits am Ort, an welchem ihr Sohn ins Jenseits wechselte, es ist der Ort aber auch selbst, das Meer, das so viel schöner und wärmer ist als das in Deutschland. Da ist kein Hauch von Kontamination, den sie in ihren Schwärmereien von Meer und Land sieht, als hätten Tsunami und Kernschmelze nie stattgefunden. Und hier liegt vielleicht das Problem des Stückes: muss eine Welt, die nur im Kampf verändert werden kann, nicht auch von einer Vorstellung von Diesseits und Jenseits getragen sein, in der ein solcher Kampf möglich wie notwendig erscheint.
Der Name, der ausgesprochen wird und immer wieder ausgesprochen wird wie eine Beschwörung, ist Claudia. Stephan wird ihn immer wieder in ihren Monolog, in ihre Arie hineinsprechen, ja eher rufen, sie aus ihrer Welt herauszurufen versuchen. Sie wiederum antwortet auf Japanisch. Wie eine beschwörende Formel steigert sich der Klang des Orchesters, vorangetrieben von der schreitenden großen Trommel, die wie ein Herzschlag das Orchester in die Höhe treibt und das Nō –Theaterstück Sumidagawa heraufbeschwört. In diesem ersten Nō -Theaterstück, das Claudia in Tokio gesehen hatte, ist eine Mutter auf der Suche nach ihrem Sohn, der entführt und ermordet wird. Am Ufer trifft sie auf einen Fährmann, von dem sie sich übersetzen lassen will, der als Bezahlung allerdings einfordert, sie solle „wie närrisch tanzen.“ Auf der anderen Seite des Flusses findet zu dieser Zeit die Bestattung eines ermordeten Jungen statt, der, wie die Frau nun erkennen muss, ihr Sohn ist.
Die Dialoge zwischen Stephan und Claudia sind in jeweils unterschiedlichem Duktus geführt: während die Gesangspassagen Claudias meist in der Prime gehalten sind, sie ihren Gesang kontinuierlich um einen Ton herum zu gestalten hat - Ausdruck ihrer festen und unverrückbaren Einstellung - versucht Stephan wiederum in großen Intervallen eindringlich auf Claudia einzuwirken. Nach seinem Auftreten tritt ein Kontrabassmotiv hervor, in dessen Zentrum der Tritonus steht, ein Motiv, das immer wieder und vor allem im Zusammenhang mit Stephan auftaucht. Nach oben gerichtet ist es vielleicht als Ausdruck seines ganz persönlichen Schmerzes zu hören, aber auch als ein musikalisches Bild des Ringens um den Verstand, der immer vom Schrecken gezeichneten Normalität. Auch an einer anderen Stelle taucht der Tritonus aber auf, vielleicht in Korrespondenz mit dem Schmerz Stephans, und gerade da, wo sich endgültig die Andersheit der Claudia anzeigt, da nämlich, wo Claudia als Antwort auf Stephans Bitte doch noch einmal zu tanzen, Claudia tatsächlich in das verfällt, was sie mittlerweile wohl als Tanz versteht: Im Tritonus, dem zentralen Intervall des närrischen Tanzens, das nach Stephans eindringlichen Aufforderungen, Claudia solle zurückkommen, in einer Abfolge aus einer Reihe seines kleinsten Partikels, einer Reihe von Sekunden von Claudia gesungen wird. Der Tritonus in der Eindringlichkeit, in der sie das Intervall wiederholt, erinnert als hoher Ausruf des Intervalls an das immer wieder und von allen Personen wiederholte Ausrufen ihres Namens, Claudia! Dieser „närrische Tanz“ wurde aber nie getanzt, auch im Nō - Stück nicht, nach mehrmaligen Aufforderungen Stephans, erscheint im Orchester und in ihrem Gesang das, was sie, die Schamanin als Tanz, als schamanischen Tanz vorstellt: Die ganze Szene dominiert erneut vom Tritonus und von der großen Trommel, die nicht nur einfach untermalt, die geradezu vor sich herpeitscht. Auch im griechischen Mythos muss der Fährmann für die Übersetzung des Toten in den Hades mit einer Münze unter der Zunge bezahlt werden. Als Bezahlung für die Überfahrt an den Fährmann in Sumidagawa war der Obolus in Gestalt körperlicher Ekstase eingefordert worden. Claudia löst die Bezahlung mit ihrer Zunge selbst, mit ihrem Gesang ein und das Orchester bildet den ekstatischen Rahmen, in welchem sich der Gesang entfaltet. Das ganze Orchester gerät in einen von der Trommel erneut getragenen Taumel, in den sich Stöße der Bläser, der Posaunen und Flöten bis zum Fagott einfügen, umspielt von einem rauschhaften Flächentaumel der Streicher, die am Ende geradezu abstürzen, um sich aus diesem Sturz wie ernüchtert erneut emporzuheben, wie gereinigt aus der Tiefe der Ekstase, aus dem magisch rituellen Tanz in die Wirklichkeit zurückkommend. Klar die Worte der Claudia danach: „Ich kehre nicht zurück. Hier ist mein Zuhause“, und sie ist es in beiden Welten, was ihr Gesang hier demonstrieren sollte.
Während Stephans Arie, „Du weißt, dass Max nicht mehr ist. Du bleibst, weil Max nicht mehr ist“, ist das melancholische Spiel einer Harfe zu hören. Dazu unregelmäßig in einen feuchten Echoraum Wasser hineingetropft, das Gegenstück zum Meeresrauschen. Hier kommt auch die Doppelgesichtigkeit dessen heraus, was als Eskapismus bezeichnet werden könnte: einerseits wird Claudia vorgeworfen, sie sehe die Wirklichkeit nicht, andererseits hat sie recht, wenn sie allen Anwesenden vorhält, dass die staatlichen Anordnungen die Situation noch verschärft hätten, und keiner will das an Wirklichkeit sehen, will sehen, wie verstümmelt die Leichen zurückgekommen seien, dass sie nur noch vom Zahnarzt identifiziert werden konnten. Mehrmals wird Claudia in ihrer Arie von Stephan und ihrer Schwägerin unterbrochen: „Hör auf!“ In diesen in sehr hoch hinausreichenden Intervallen, von Claudia gesungenen Passagen, die in den Höhen von der Piccoloflöte wie von einem Schatten umspielt werden, bricht im Orchester ähnlich konvulsivisches Wirbeln los, wie in der Passage, in der die transzendentale Kraft Claudias hervorgebrochen war, sie sich auf sie gleichsam besonnen hatte. Das wirbelnde Orchester öffnet hier eine andere Wirklichkeit, spielt vom Tod, aber auch von der ins Jenseits weisenden Kraft Claudias, oder von dem Ort, von dem her sie ihre Kraft gewinnt. Wie ein Sog zieht das Orchester in sie hinein, lässt dann aber auch aus dieser schmalen aber wuchtigen Öffnung eine andere Claudia und eine andere Welt hören, eine andere Welt aus der heraus dann erneut die verspielten Harfentöne zu vernehmen sind, eine kurzzeitige Versöhnlichkeit eröffnend, eine melancholische Besinnung, in der Claudia und Stephan gemeinsam die Stelle besingen, einen Ort an einer Kiefer, wo Max, der gemeinsame Sohn gespielt hatte, wo die Wucht und Potenz Claudias kurz vorher zu hören gewesen war und jetzt die Realität der Vergangenheit des Verstorbenen zu ahnen ist. Bläser, Holz wie Blech, mit Tönen teilweise auch Melodiefragmente im Cluster aus den Streichern heraus, die sich erneut in Clustern eingliedern, die ihre Individualität darstellen, um damit im Clusterganzen einzugehen, darin zu versinken. Auch die Streicher tauchen nicht immer als Kontinuität eines Clusters auf, auch sie sind parzelliert wie eine Stimmung, die nicht ganz verschwinden kann, die immer wieder auftaucht: Das Orchester in der magischen Szene nicht nur wie im Rausch, eher noch wie in einem Tanz. Das Orchester in der Szene der Leichenfunde im Trommelwirbel, der an den Anfang erinnert, an das Losbrechen der Katastrophe wie an den Riss, von dem aus alles anders werden sollte.
Claudia weist Stephan zurück, und tut dies mit einem gesungenen Motiv aus der magischen Tanzszene: “Nein, du verstehst mich nicht“, singt sie und singt es nochmals im Stil des närrischen Tanzes. Wenn Stephan singt ist im Hintergrund das Auf und Ab eines Violinglissandos zu hören, das jetzt an ein Schwindeln erinnert. „Ich bin nicht mehr die, mit der du getanzt hast. Ich bin nicht mehr die, die du einst geliebt hast…“ Sie singt es auf einem Ton und er antwortet ihr: „Du bist immer noch – Claudia. […] Die Mutter meines Sohnes!“ „Stephan, es ist vorbei.“ Erneut Trommelzwischenspiel nach der Aufforderung der Schwägerin an Claudia, ein neues Leben zu beginnen. Das soghafte Orchester, das erneut die Tür hierfür bereitet, für eine andere Welt allerdings, als Stephan und die Schwägerin erwarten. Von der Trommel erneut angetrieben und vom Chor gestützt noch einmal ein magischer Reigen, der das Mädchen, die Tochter des Fischers, auf die Bühne ruft und sie ihr Tanzen, ihre Pirouette, die sie Claudia stolz vorführt, sie vorführen lässt nicht der tote Sohn erscheint nach dem Anklingen des „närrischen Tanzes“, es erscheint das lebende Mädchen, das den Tanz ihrer Lehrerin Claudia fortführen wird.