Die Schönheit der Blinde 2015 © Karsten Hein

Der gespürte Blick
oder
An der Grenze zwischen Subjekt und Objekt

Die Schönheit der Blinden, eine Ausstellung in der Brotfabrik in Berlin-Weißensee mit Arbeiten von Karsten Hein und Arbeiten der Teilnehmerinnen seines Fotoworkshops

Ein Bild, das es nicht gibt, vorher nicht gab, ein Bild das vielleicht mehrere Bilder ist, das ein-gebildet ist, das nur in seiner Sprache existiert. Er sieht es vor sich, sieht vor sich, wie eine Frau das Gesicht einer anderen Frau berührt, eine Frau, die ihre Augen geschlossen hält, eine Frau mit geschlossenen Augen, berührt von einer anderen mit ebenfalls geschlossenen Augen. In seiner Imagination bittet er seine Assistentin zu Hilfe, bittet sie die Szene zu beobachten, bittet Sie die Szene zu beschreiben: Zwei Frauen, in gleicher Größe, beide vermeintlich in ähnlicher Haltung und doch unterscheidet sie etwas, von dem sie im ersten Moment nicht hätte sagen können, was es sei.

Er wartet, hört Ihr nach, hört wie Sie schaut, obwohl das nicht möglich ist, und doch glaubt er zu hören wie Sie schaut, ohne zu atmen, ohne dass er Ihr Atmen hörte.
„Die eine ist blind“, sagt Sie ruhig und wartet eine Weile.
„Woran siehst du das.“
„Sie lächelt ein wenig, hat den Kopf leicht gesenkt und scheint zu nicken, so als würde sie etwas wiedererkennen.“
„Wiedererkennen?“
„Nicht einen Menschen, eher etwas, das sie in sich sieht, das in ihr erscheint, das sie in sich wiedererkennt.“

Stellt das Foto das Festhalten eines niemals wiederkehrenden Momentes dar, ist die Beschreibung des Bildes die Wiederholung dieses Augenblickes in seiner Beschreibung, aus dem sich der Blinde die Blinde sein ihr blindes Bild entfaltet.

In der gesprochenen Beschreibung wird etwas wieder lebendig, das die Stillstellung der Personen, ihre im Bild verortete Erstarrung verflüssigt, sie in gewisser Weise in die Bewegung, ins Leben zurückversetzt.

Eine Ausstellung mit Bildern aus einer Modenschau, die die getragenen Kleider gleich mit ausstellt, versucht eine Art doppelter Realitätsebene, die nämlich, etwas aus dem Bild ins Leben herüberzuretten. Unwillkürlich unterstreicht sie vielleicht damit den Zusammenhang von Fotografie und Tod, wie ihn der französische Schriftsteller Roland Barthes in seinem letzten Buch, Die helle Kammer, entwickelt hatte, und dies an einem Foto seiner verstorbenen Mutter. Dies erscheint als der Versuch, etwas von einem Moment, der, nimmt man die fröhlichen Gesichter, das Lächeln und Lachen der Beteiligten ernst, ein wunderschöner Moment gewesen sein mag, aus dem es vielleicht auch etwas in die Gegenwart herüber zu holen gälte.

Dazu kommt in dieser Ausstellung ab und an eine Art Collage von Körperteilen, die natürlich nur ein vom Foto verursachter Ausschnitt aus einer Szene ist: da ragt eine Hand herein, da taucht ein Oberkörper auf, da ein lachendes Gesicht und alles hervorgerufen und zusammengehalten durch die Berührung von Stoff, teilweise mit Brailleschrift bestickten Stoff, bei einer Modenschau für Blinde, vorgeführt von blinden Menschen, die in Momentaufnahmen eine ganz ungezwungene Art der „Haute Couture“ zu demonstrieren scheinen.

Was empfindet ein Blinder eine Blinde, der die fotografiert wird, was empfindet er sie während des Fotos, was danach, bei der Beschreibung seines ihres Bildes - und hier spielt uns die Sprache bereits den Schabernack ihrer Doppeldeutigkeit, denn welches Bild ist gemeint, das des der Fotografierten oder das des Fotografen der Fotografin: Was bedeutet „sein ihr Bild“. Andererseits:Was empfindet eine Sehende, die von einer Blinden fotografiert wird. Was macht der Blick mit uns und was geschieht, wenn es den Blick nicht gibt. Roland Barthes beschreibt den Moment, in welchem er fotografiert wird, als den Moment, in welchem er sich vom Subjekt in ein Objekt verwandelt. Aber könnte einem solchen Objekt eine solche Feststellung überhaupt zu eigen sein, wo es doch noch seiner Selbst, damit seines Bewusstseins im Objektstatus ent-eignet wäre, wo es letztlich in Gänze verdinglicht wäre. Wäre die Feststellung einer solchen Transformierung nicht bereits der erste Schritt sich von ihr zu lösen, wenn nicht von vornherein sie zu verhindern.

So sehr die Fotografie hier als Erinnerung für die damals Beteiligten fungieren mag, so sehr irritiert sie diejenigen, die an der dokumentierten Berührung nicht beteiligt waren, was die Ausstellung gerade für sie durchaus verstörend wirken lässt, verstörend, aber dadurch gerade umso lebendiger, lebendig auf eine untergründige, dunkle Weise. Das berührte Kleid, das er oder sie hier das erste Mal vor der Fotografie einer Frau berührt, die es trägt, tritt in sein Empfinden so massiv herein, dass alles Abbild und alle Beschreibung des Abgebildeten zugleich eine Art der Wahrhaftigkeit erfährt und eine Art Hierarchie der Realitätsmomente sich durchsetzt. Die Ausstellung des Kleides auf einer Schneiderpuppe vor einem Bild, wo es getragen wird, hat etwas Unheimliches an sich, die die Modenschau vergessen lässt und zuerst die Frage nach dem Verbleib der Frau stellt. Unwillkürlich tritt die Erinnerung an eine Erzählung der Schweizer Schriftstellerin Unika Zürn ein, in der diese ihre Schizophrenie-Erfahrungen aufarbeitet: eine Frau, die sich gegen eine Vergewaltigung zur Wehr setzt, wird in eine armlose Schneiderpuppe verwandelt.

Die aus dem Kleid verschwundene Frau taucht im Bild wieder auf, mehrere der an der Modenschau beteiligten Frauen tauchen auf Bildern auf, und das berührte Kleid weist sie als die Trägerin des jeweiligen Kleides aus. Die Frisur, die Haarfarbe des Models kehren wieder, die berührenden Finger, die schwarz lackierten Fingernägel tauchen wieder auf, werden als Erkennende wiedererkannt.

Namen von Beteiligten werden genannt, die Bilder dokumentieren eine Modenschau, die in der Wiederholung der berührenden Finger, in der Wiederholung der Körper und Gesichter der Models darauf beharren, nichts anderes als Teil einer Modenschau von blinden Models für blinde Betrachter und Betrachterinnen zu sein, ausgestellt mit den Arbeiten von blinden Teilnehmerinnen eines Fotoworkshops.

Andererseits erinnert die Ausstellung der Kleiderstücke an einen Fetisch, ein Stück Stoff, das der die Begehrte trug, das sich als Relikt einer Zeit oder eines Wunsches mit Imaginationen auflädt, das Wünsche in sich aufbewahrt.

Vielleicht stellt der Titel der Ausstellung und des dazu veröffentlichten Katalogs das ganze Problem so provokant zur Diskussion, dass Blinde und Sehende auf zwei Seiten der Wahrnehmung und damit auf die Subjekt- und die Objektseite sich gestellt fühlen könnten. Vielleicht entwickelt sich in und mit der Modeschau aber auch eine ganz andere Erfahrung dieses alten Subjekt-Objekt-Problems, dessen Kritik an Machtstrukturen und Hierarchie zunächst mit Sicherheit in keinster Weise beabsichtigt war, die auf einer sinnlichen Weise und gerade mit Blick auf den französischen Semiotiker Roland Barthes zu einem Denkexperiment anregen könnte, das im Zentrum dieses Textes stehen soll.

Von der Aura des Blinden
Bemerkenswert zu allererst, dass bei allen abfotografierten Models es sich um junge Menschen handelte, und dass sie jung sind, versäumte keine der Bildbeschreibenden zu erwähnen, zumindest nicht bei den Frauen. Anders bei den Männern, da war das Alter keiner Beschreibenden auch nur einer Erwähnung Wert.

Bei den Bildbeschreibungen findet dann auch bei den Frauen sich allermeist die Eigenschaft schön, wunderschön oder dergleichen, als ob die Beschriebene erstmal sprachlich mit einer Aura eingerieben werden müsste, die sie gegen die „falschen“, und falsch hier in Anführungszeichen gesetzt, Imaginationen des Blinden immun machen müsse, die den Blinden zudem auf ein Ereignis der besonderen Art einstimmen soll, wo er doch optisch dieser Empfindung in jedem Fall entgehen würde.

Aber nehmen wir doch dieses Phänomen auf und versuchen wir es in einem produktiven Sinn weiterzudenken: eine Art Aura wird hier mittels Worten wie „schön“ „wunderschön“ versucht hervorzubringen, oder und hier im Sinn eines Philosophen, der in einer ganz ähnlichen Weise die Fotografie zu denken versucht hatte, Jean Paul Sartre nämlich, für den in seinem Text über Das Imaginäre der Betrachter die Betrachterin des Bildes in der Betrachtung das Dargestellte zum Leben erweckt. In diesem gleichsam magischen Akt, für einen Materialisten wie Jean Paul Sartre ein ungewöhnlicher Gedankengang, vollzieht sich eine Art infektiöser Verwandlung, die die Voraussetzung eines Verständnisses des Bildes bildet. Versuchen wir diese Art der Infektion, wie ich es nennen würde, oder wie Sartre es beschreibt: „Wir haben das Bewußtsein, in irgendeiner Weise das Foto zu beleben, ihm sein Leben zu verleihen, um ein Bild daraus zu machen“, versuchen wir diese Art der Betrachtung für die Beschreibung von Bildern für Blinde nutzbar zu machen.

Als Kern der vorgeschlagenen Bildbetrachtung von Sehenden für Blinde könnte man also eine Art der Verzauberung verstehen. Es wäre also durchaus ein Moment einer Objektivierung, einer Art des Verlustes meiner Subjektivität als Betrachter Betrachterin, der die verzaubert nicht mehr nach seiner ihrer subjektiven Ansicht agiert, sondern eben vom Betrachteten verzaubert agiert. Jean Paul Sartres Zitat könnte man wie folgt zusammenfassen: Einerseits also die Belebung des Gesehenen als Ergebnis der Faszination, andererseits die erneute Stillstellung des Belebten in der Feststellung im Bild.

Faszination könnte hierfür der richtige Begriff sein, nur dass für Blinde hier eher von einer Faszination aus zweiter Hand gesprochen werden müsste, die freilich in ihrer Beschreibung nichts mehr von der beschriebenen Faszination an sich behalten hätte.

In einer solchen Interpretation bekommen die ausgestellten Kleidungsstücke eine vollkommen andere Bedeutung, einen anderen Wert. Während die Bildbeschreibungen, sowohl die der Ausstellung als auch die der Assistentin des Autors im Blinden eine Art der Stimmung hervorrufen, für die der blinde Autor auch durchaus empfänglich ist, bricht die Berührung der Kleidungsstücke in seine Wahrnehmung herein, reißt die durch die Stimme verzauberte Empfänglichkeit auseinander. Was aber geschieht da eigentlich mit dieser blinden Empfänglichkeit, was zeichnet sie aus: vielleicht ist eine solche Stimmung noch am ehesten mit der Wirkung von Poesie oder von Musik zu vergleichen, eine Öffnung der Aufmerksamkeit, ein Durchdringen der Bedeutung der Worte, um etwas zur Geltung zu bringen, das nicht hinter den Worten zu suchen wäre, weil es gar nichts anderes ist, als eben die Worte und ihr Spiel, das sie mit dem Hörer der Hörerin, mit dem Leser der Leserin treiben. Die Worte nicht entkommen lassen, sie an ihren Verkettungen hindern, sie ganz schwer werden lassen, dass allein ihr Gewicht sich neue und andere Verkettungen sucht. Die Worte bei sich gehalten bis sie sich in sich spiegeln. In diesem Zwischenraum etwas auftauchen lassen, dessen Unfassbarkeit sich zwischen den Worten einlöst.

In einem Zusammenspiel von Beschreibung und stofflicher Berührung wird zunächst in Sprache eine Art sinnlicher Raum erzeugt, etwas, in das hinein der Blinde die Blinde sich versetzen lässt, das aus nichts anderem besteht als in Sprache gefasster Bildlichkeit, die in der Stimme der erzählenden Beschreiberin eine Materialität wiedergewinnt, die nichts anderes ist als die Wiedergabe eines Eindruckes des Gesehenen, das sich eben zu solchen Äußerungen wie „schön“, „wunderschön“ hingerissen fühlt, und dennoch muss die Beschreibende dem optischen Eindruck gegenüber zugleich offen sein.

Die Berührung aber hinterlässt immer eine vollkommen andere Empfindung als das Gehörte, sei es als Sprache oder als Ton. Wenn also die Haut der Hand oder des Fingers das Kleid selbst berührt, zerreißt die blinde Imagination, die die Beschreibung vorher hervorgerufen hatte.

Zu Beginn dieses sinnlichen Kurzschlusses entsteht aus der Beschreibung ein Bild der Imagination, das im nächsten Moment in der Berührung sogleich wieder zerrissen wird: Die Verzauberung durch die Beschreibung die von der Berührung wieder entzaubert wird.

Letztlich stellt die Ausstellung in der Brotfabrik die Bewegung von Blinden selbst dar, eine Bewegung durch Räume etwa, deren Bild durch Hören, durch Geruch und das Tasten der Schritte sich entwickelt und die in dem Moment abreißt, wenn die ausgestreckte Hand auf eine Wand, eine Tür oder ein Möbel stößt.

Der Katalog zu der Ausstellung Die Schönheit der Blinden von Karsten Hein versammelt Beiträge von Blinden und Sehbehinderten zu ihrer Vorstellung von Schönheit. Unter ihnen ein Text der blinden Fotografin Kathrin Dinges, deren allererste Bemerkung sich darauf bezieht, dass die Erfahrung von Schönheit etwas ist, das mit anderen Menschen zu tun hat, etwas, das nicht nur mit ihnen geteilt wird, zu deren Erfahrung die Anwesenheit von anderen Menschen zu eben dieser Erfahrung beiträgt: „Schön ist, wenn etwas fließt zwischen Menschen (…).“ Der Fluss ist es aber ohnehin, was Kathrin Dinges an Schönheit gemahnt, Wind, Wasser, Wellen, und dann sehnt sie sich einen Menschen mit Kamera herbei, wenn sie einen Moment erlebt, an dessen Existenz sie nur glauben mag, wenn ihn jemand anderes festhält. Was da ersehnt wird, ist aber weniger das fotografische Festhalten als die Gemeinsamkeit des Erlebens, die Ängstlichkeit, dass im nächsten Moment alles wieder vorbei ist, und dass es wenigstens noch einen weiteren Zeugen gibt, der dann bestätigt, dass das wirklich war, wenn es auch vorüber sein mag. Das was Kathrin Dinges da als schön empfindet ist letztlich nicht zu fotografieren. Aber das war nicht die Fragestellung.

Dann sind da andererseits Ereignisse, die hereinbrechen, die überwältigen, die kleine Ekstasen auslösen oder das, was den Augenblick beschreibt. Dinge also vor allem auch, die zusammen mit anderen erlebt werden, die aber vor allem in Fluss sind. Und dann, bemerkenswert für eine Blinde: eine Konversation ohne Sprache ist schön. Einerseits wird der Fluss in Zusammenhang mit dem gemeinsamen Fluss gestellt, von ihm überhaupt in Fluss gebracht. Andererseits entzieht sich der Fluss gerade der Feststellung, auch der durch das Bild. Obschon das Bild nur durch Sprache für Blinde in Existenz tritt, wünscht Kathrin Dinges sich die Sprache, in der nicht gesprochen wird, das Erspüren des Augenblickes, der keiner Worte bedarf. Das wortlose Sprechen scheint ihr selbst zum ersehnten Fluss zu werden, das Bild zieht sich ins Innere zurück, von dem aus es nicht mehr sprechen muss.

Das was das Bild umspült, was es selbst in Fluss bringt und hält ist das Sprechen, nicht die abstrakte Sprache, sondern die Zeit des ausgesprochenen Wortes. Und auch hier wieder die Gemeinsamkeit jedes Sprechens, die Stimme, die um das Ohr bittet, um im Anderen sich zu hören, oder wie es der griechische Philosoph Aristoteles ausdrückte: „Sprich zu mir, damit ich dich sehe!“

Das Gedächtnis, dieser Versammlungssaal der Sinne, das mit den Bildern der Erblindeten verquickt, die ihnen geblieben sind, Bilder des Erinnerns und Bilder, die die anderen Sinne auf ihre Weise in uns hervorrufen, in die sie uns wiegen wie etwas Gespürtes, wie etwas Gerochenes, etwas, in das hinein uns unsere Schritte führen, bis wir die Stimme hören, die wir nicht erwarteten, die wir hier, nicht hier erwarteten, an diesem Ort, an diesem Platz, nicht in dieser Verfassung, nach der wir uns drehen, bis sie uns berührt, ihre Haut, ihre Hand, bis wir ihre Haare spüren, ihren Geruch riechen, in den sie und ihr Kommen uns taucht, bis sie unsere Hand nimmt und zum Mund führt, bis wir kurz ihren Atem spüren und dann das Wort, das die Lippen formen, bis wir dieses Wort hören ganz nah, bis es verstummt, weil es die Hand an den Lippen zum Verstummen bringt, weil es sie küsst.

Modenschau
Das Berühren der Stoffe, die Stoffe über Schneiderpuppen. Der Schnittpunkt zwischen Berührung und Berührtsein. Von den Stoffen berührt werden. Das Fragen nach der Beseeltheit des Stoffes, der den die Bekleidete umgibt, das Gesehenwerden, das gespürt wird, gespürt werden von Sehenden, von ihren Blicken abgetastet, gespürt werden . Die Frage, ob es eine Unschuld im Blick gibt, um nicht zu sagen, ob es eine Objektivität des Blickes gibt, um dann auch eben gerade nicht auf den normalisierenden Blick des medizinischen Blickes zu kommen.

Letztlich andersherum: was macht den sehenden Blick unangenehm für einen Blinden eine Blinde. Was unterstellt er, woher kommt diese Erfahrung, ist sie für einen Blinden eine Blinde erfahrbar, ist der Blick zu spüren, und woher kommt das Wissen um den Blick im Blinden.

Erblindet hatte der blinde Autor auch eine Phase der Sehbehinderung zu durchleben. Noch intensiver war ihm damals das Zerbrechen des Bildes bewusst geworden, was für sein späteres Denken als Blinder grundlegend sein sollte, der Gedanke nämlich, dass allem Bild etwas zugrunde liegt, das es auch für die Sehenden nicht gibt, das Ganze. Nur die Imagination eines ganzen Tisches, eines ganzen Hauses lässt von einem Tisch oder einem Haus sprechen. Diese gleichsam anthropologische Konstante wiederum ist es, die Blinde und Sehende miteinander kommunizieren lässt, ermöglicht es, dass Blinde und Sehende verstehen, wovon sie sprechen, wenn sie Haus oder Tisch sagen.

Ein anderes Projekt, das Karsten Hein ins Leben gerufen hat, ist Bilder für die Blinden: Fotografien die Blinde gemacht haben, werden von Sehenden beschrieben. Letztlich geht das über das blinde Wahrnehmen weit hinaus, bringt Sehen und augenlose Wahrnehmung miteinander in Beziehung. Dies spielte auch auf Überlegungen innerhalb der Hirnforschung an, dass es kein Sehen von Bildern geben könne, wenn ein solches nicht gelernt, wenn es nicht er-sprochen sei. Sprache und Bild oder genauer, Erzählung und Bild sind ineinander verschränkt. Vielleicht könnte man etwas pointiert sagen, dass das Bild den Rahmen setzt, innerhalb dessen die Erzählung zu ihrem Ende kommen kann. Der Schnitt, innerhalb dessen, was Michel Foucault in seinem Essay Die Sprache: unendlich ausführte, was der Unendlichkeit des Flusses der Sprache zu einem Ende verhilft, wo in der Feststellung durch das Bild sich die Unendlichkeit der Sprache in der Beendbarkeit zu eben einem Ende verspiegelt.

Andererseits aber eröffnet die Betrachtung des Bildes und seine Beschreibung nicht nur sein Fortleben. Man könnte die Wahrnehmung selbst als den Fluss verstehen, der in einer jeden Betrachtung erneut in Fluss gebracht wird, und auch für die Blinden in der Erzählung in Fluss gebracht werden kann.

In den Texten der Kathrin Dinges wird die Bewegung heraus aus der sensorisch wahrnehmbaren Erscheinung in die Spürbarkeit der Metapher hinübergeführt. Texte ergeben sich so, die auf sinnliche Weise der „Lesbarkeit der Welt“ und ihrer haptisch-taktilen Übersetzungen augenlos nachspüren. Es sind keine einfachen Ereignisse oder Objekte, die sie, gleichsam apodiktisch als schön hinstellte. Sie lässt sich auf einen Wirbel ein, lässt sich von ihm herumreißen, lässt sich von ihm den Kopf verdrehen und all das von einer Blinden bemerkt, die keine optische Aus-richtung zur Verfügung hat, die ihr provisorisch das „Leben rettet“ oder zumindest ausrichtet.

Gesetzt, das Bild trifft die Gedanken der Blinden genauso stoßartig wie auf die Sehenden es das Bild tut, wäre der Vorgang im Bereich der Sinne in zwei Phasen zu unterteilen, eine der Berührung eben, in welcher das, was zu-stößt gespürt wird, und eine der Worte, die das, was da stoßartig hereinbricht zu verstehen versuchte, sich in Worten eine Beschreibung umrisse, oder in Beschreibungen durch eine Stimme einen Raum umreißen ließe, in welchem Verstehen sich ansiedelte, um aufgenommen werden zu können.

Unter den in der Brotfabrik ausgestellten Bildern von Karsten Hein ist eines, auf dem eine Blinde das Kleid befühlt, das sie trägt. Sie befühlt hier also das, was sie berührt und indem sie dieses fühlt verstärkt sie die Berührung ihres Körpers durch das Kleid.

Umgekehrt und diese Berührung des eigenen Körpers ist ja eine Bewegung in zweierlei Richtungen. Einerseits spürt die Hand die Formen des Kleides wie die Formen des Körpers unter dem Kleid. Andererseits spürt der Körper das Kleid wie die Hand, die es und ihn berührt, spürt aber auch, wie die Berührung des Kleides durch die Hand verstärkt wird.

Nun ist das Kleidungsstück nicht überall am Körper immer und gleichmäßig spürbar, es ist nicht die ganze Zeit in gleicher Weise zu spüren, es erscheint an manchen Stellen dichter am Körper an anderen lockerer und weniger dicht oder hängt lose und macht damit die Bewegung deutlich, verdeutlicht sie dem eigenen Körper als die seine, als das Spüren der Bewegung in gewisser Weise von außen.

Nicht nur der Körper erspürt sich im Anderen, auch seine Bewegungen, in denen er sich als Handelnder selbst deutlich wird, erfährt er durch das Andere. Der Blick der Blinden, der spürbar über den Stoff gleitet, der einen eine Blinde bekleidet. Die Berührung hier doppelt erfahren, die Berührung des Stoffes, die, indem ihr von außen nachgespürt, eine Verstärkung des Stoffes und seines Berührtsein oder eine Erspürung des Körpers und der Haut.

Die Berührung des Erspürens des Berührtwerdens: sich versuchen zwischen beiden anzusiedeln. Welcher Raum öffnet sich da, und wie lebt der spürend Gespürte dazwischen. Ist die Verdopplung der Berührung, in welcher die Hand die gespürte Bekleidung wiederholt, nicht genau eine sinnliche Metapher. Worin liegt die Empfindung von Stoff und berührender Hand, worin ihr Unterschied.

Das Kleidungsstück allein berührt den ganzen Körper, der vom eigenen Auge nicht zu sehen ist. Das Kleidungsstück erfüllt auch für den Sehenden die Sehende die Funktion das Gespür der Haut an die Stelle des Auges zu setzen, indem es das Gespür, das Objekt der Haut wird. Das, was da gespürt wird, kommuniziert mit dem Spüren, am Gespürten spürt sich der Spürende selbst und erfährt die Unmöglichkeit seines Tastsinnes ohne das Andere, das Außerhalb von ihm ist, überhaupt sich selbst wahrzunehmen. Es gibt das Eigene nicht ohne das Andere. Diese Re-flektion der Haut, in dem das Sich des Selbst dieses Selbst und das Sich überhaupt spürt, ist also ohne das Andere überhaupt nicht wahrzunehmen, es existierte ohne dieses überhaupt nicht und das noch vor einem Begriff, ohne ein Wort der Sprache. Alle noch so pathetisch daherkommende Subjektivität, aller Omnipotenzwahn erfährt seine Nichtigkeit bereits in dem Moment, wo der so Omnipotente seine Klamotten anzuziehen beginnt. Denn dieses Andere umgibt den Körper und umgibt ihn immer und umgibt ihn spürbar und wenn es nicht die Kleidung ist, dann sind es Boden, Wind, Staub und Luft, ist es Sonne, Wasser oder welche Elemente auch immer.

Während es für die Sehenden in der Fotografie um das Spiel mit der Entfernung und der Umgebung, dem Raum geht, um das Spiel mit dem Fernsinn, könnte es für die Blinden um das Foto als Protokoll der Überwindung des Fernsinnes gehen. Das Sehen der Sehenden ist letztlich nicht fassbar, noch nicht einmal, ob der Blick der Sehenden nach innen oder nach außen gewandt ist. Die Blinden sind in ihrem Sehen zu beobachten, nicht nur der Prozess des Sehens ist zu beobachten, auch ihre inneren Reaktionen sind an ihrem Gesicht zu beobachten, nur freilich eben nicht für die Blinden. Die Fotografie macht das Sehen der Blinden sichtbar und damit hörbar, reflektiert es in der Beschreibung des Bildes für sie, lässt die Blinden in der Beschreibung auch ihres Gesichtes zu einem Spiegel in Worten kommen. In dieser Spiegelung erspürt der die bespiegelt Beschriebene sich, spürt seine ihre Züge in der Beschreibung und erkennt darin vielleicht den Kern des infektiösen Befalls, einer Art von Faszination, die ihn sie als Blinden Blinde bei der Beschreibung von Bildern packen kann. Und vielleicht geht die Faszination in einer Art Einswerdung mit dem vermeintlichen Objekt noch über sich hinaus und das vermeintlich blinde Objekt, als welches sich Blinde nicht selten fühlen können, kommt in dieser Bildwerdung wieder zu seiner Subjektivität zurück.

Das Erscheinen des Bildes in der Sinneswahrnehmung der Blinden ist so vielfältig wie die Sinneseindrücke des Menschen überhaupt. Kein Geräusch, kein Geruch, kein Gefühl, kein Geschmack, der nicht unter imaginären Bildern ins Bewusstsein tritt und nicht selten erscheint noch vor der vermeintlich realen Wahrnehmung ein Bild, das das, was kommt ankündigt und begleitet, was die begleitende Emotion einfärbt oder deren Ausdruck darstellt.

Aber bleiben wir nochmals bei dem Moment der doppelten Berührung und was ihn auszeichnet: ist es nicht ein Dazwischen, ist es eben gerade nicht die Scheidung zwischen Subjekt und Objekt, hält dieser Moment in einer Schaukelbewegung nicht beides sich offen und zusammen? Verschmilzt in ihm nicht Subjekt und Objekt, hebt sich diese Trennung nicht in ihm sogar auf? Könnte von hier aus nicht sogar die abendländische Grundkonstruktion von Denken in eine emanzipative Richtung eingeschlagen werden, ein Ansatz über Macht und tatsächliche Inklusion angegangen werden, ein Versuch die Grenzen des mächtigen, handelnden Subjektes und des ohnmächtigen, behandelten Objektes aufzulösen.

Der Fotoworkshop und seine Teilnehmerinnen gehen über die Vermittlung hinaus, indem sie zwar Schönheit als gemeinsames Produkt mehrerer Menschen anerkennen, aber auch auf die anderen Sinne der Blinden, auf die, die gerade ihre Welt eröffnen, eingehen. In ihren Fotografien ertasten sie das „Objekt“ und machen es zu etwas, das beides bei sich belässt, es gleichsam unangetastet lässt, obwohl sie es berühren. Es ist eben nicht einfach das Bild des der Betrachteten, es ist beides, das Bild und die Betrachterin und zudem der Akt der Betrachtung, die Berührung.

Niemals wird so eine Fotografierte sagen, man habe sie zu Tode fotografiert, wie Marlene Dietrich dies tat. Hier spürte eine Sehende die Gewalt des Angeschautwerdens und dass ihr ihr Bild einfach genommen wird, ihr ab-genommen wird und das ist ein Gewaltakt, dessen sich die Sehenden mit ihren Augen zu erwehren verstehen: der Blick, der ein NEIN ausdrückt. Den Blinden fehlt diese Möglichkeit solcher Abwehr, fehlt der Blick gegen den Blick als Abwehrmaßnahme.

Freilich bedarf der die Blinde erneut eine sehende Zeugin, die diesen Augenblick beschreibt, der Moment aber hinterlässt in der Berührten wie der Berührenden zwei Protagonistinnen, die sich eben über den Augenblick austauschen. Jedes Bild wird so umso mehr zu einem gemeinsamen Moment, der zudem etwas anderes schafft, das Erleben der gemeinsamen Produktion eines Bildes in all der Intensität, die in diesem Moment steckt, in welchem Sehen und Spüren, gegenseitiges Spüren und vom Gegenüber Gespürtwerden, Beschreiben und Beschrieben werden ineinander greifen, sich überlappen, sich überlagern, einander tragen und vorwärtstreiben, hinein in immer neue Bilder, gesehene wie gespürte.

Die Schönheit der Blinden, 2015 © Karsten Hein