Judith - Tragödie von Friedrich Hebbel © Thomas Aurin

„Der Tod ein Ding, um dessentwillen wir das Leben lieben“

Frank Castorf inszeniert Friedrich Hebbels Judith an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

Das ganze Parkett ist mit Brettern abgedeckt. Das Publikum nimmt auf der Bühne Platz, sitzt vor einer Steigung, auf der normalerweise das Gestühl angebracht ist.

„Dieser Gott, Elagabalus, der dem Berg Entstammende.“

Zwischen Bühne und einer künstlichen Berglandschaft aus Sitzkissen drei orangefarbene Zelte aus Plastikplanen. Ein Teich in einer schwarzen Plastikeinbettung trennt das Publikum von der Theaterlandschaft.

„Gegenüber hat der Chor bereits Platz genommen,“ sagt die Assistentin.

„Die sind nicht echt“, sagt die Frau auf der anderen Seite des Autors zu ihrem Begleiter, ohne dass sie die Bemerkung der Assistentin gehört haben könnte. „Das sind keine Menschen.“

Dass es Puppen sind und diese wiederum Reste aus einer anderen Frank Castorf-Inszenierung sollte sich nach der Vorstellung und bei der Lektüre von Materialien zur Inszenierung herausstellen.

Anfangen. Zu Beginn einfach nur der Beginn des Anfangens. Am Anfang wäre aber nicht das Wort, es wäre der Laut, es wäre einfach nur das Öffnen eines Loches und das Geräusch, das dieses Öffnen verursacht. Ein tiefer akustischer Stoß, der alle Geräusche außerhalb seiner Realität verschlingt, die Stimmen, das im Gehen suchende Getrappel derer, die die Bühne füllen, die ihren Platz suchen ohne zu bemerken, dass dies bereits der Anfang ist auf einer Bühne, die heute der Zuschauerraum ist, gehört von einem Blinden, dessen Imagination sie ihm möblieren.

„Und vielleicht nennt er sich in einer alten phönizischen Kosmogonie das Verlangen, […] da es aus den langsamen vielfachen Vermischungen der Prinzipien hervorging, die tief im Atem des Chaos erstrahlen.“

Elektronisches Getose von einem Moment zum anderen hereingebrochen, rhythmisch in sich wummernd, konvulsivisch sich selbst ein- und ausatmend. Ausgestoßene Zeit zu einem Fortgang hervorgewürgt. Um sich selbst stolpernd zieht sich ein rauh dahin geratschtes Schlagzeugband durch elektronische Töne, die wie von einer Posaune klingen, die dann wieder wie eine weibliche Stimme klingen, die von tiefen Eruptionen aus dem akustischen Abgrund hinaus gestoßen werden. Später wird der Rhythmus von Tablas übernommen werden, wird unter elektronischen Zimbeln und mit elektronischen Männerchor zum ersten Einsatz der Frau hinführen, hinführen zu der Frau, die die Rolle der Judith übernehmen soll, aber soweit sind wir noch lange nicht.

Erst soll akustisch und mit einem Text des Theaterberserkers Antonin Artaud der geistige Boden einer Region skizziert werden, vielleicht eher umgeackert werden, aus dem heraus eine vollkommen abstrakte Gottheit würde entstehen können, ein Boden, auf dem zugleich aber auch die göttliche Sinnlichkeit des männlichen und des weiblichen Prinzips und deren absolute Unvereinbarkeit, ihre Widersprüchlichkeit, ihre Auseinandersetzungen, ihre offene Dialektik würde theatral entstehen können.

Antonin Artaud, der in seinem Heliogabal eine leibhaftige Versammlung der spätantiken Widersprüche auftreten lässt, sie in sich gleichsam vereinigt und sie als eine Mischung aus Größenwahn und Erotomanie und zugleich Askese vorführt, die die Aufspaltung in Mann und Frau überwindet, um tatsächlich alles zu werden und in sich zu verkörpern.

Aber auch die Unmöglichkeit einer noch so unmöglichen Dialektik wird sich im Verlauf der folgenden fünf Stunden als unmöglich erweisen, wird Theatersinnlichkeit werden, die alle Anfälligkeit eines wie auch immer gearteten Textes für Abstraktionen oder Abstrahierungen in sich einschmelzen wird.

Und hier sind wir schon mitten drin in einer Inszenierung der Judith von Friedrich Hebbel durch Frank Castorf, einer ganz körperlich geführten Auseinandersetzung zwischen Sinnlichkeit und Abstraktion. Man könnte die Inszenierung aber ebenso gut als Auseinandersetzung zwischen Mann und Frau, oder genauer: zwischen dem männlichen und dem weiblichen Prinzip verstehen, könnte sie als Befragung der Attraktivität des Monotheismus für den sinnlichen Polytheismus betrachten, könnte Macht und Gewalt befragen und die Rolle, die diese bei all diesen Prozessen in der Spätantike zwischen Emesa/Homs und Rom gespielt haben dürften.

Das erste Bild, das der Regisseur in die Bühne von Bert Neumann gestellt hat, stellt eine Art lebender Metapher dar, stellt Zeit als Eigenzeit, als Zeit der Produktion von Theater dar, Darstellung vergangener Zeiten von noch immer im Gedächtnis lebendigen Inszenierungen von Frank Castorf selbst. Hauptdarstellerin und Hauptdarsteller, Birgit Minichmayr und Martin Wuttke kraxeln an einem Berg von Sitzkissen rauf und runter, einem Berg von schwarzen Sitzkissen, auf dem in Frank Castorfs letzter Inszenierung das Publikum sechs Stunden den Brüder Karamasow gefolgt war: gestauchte Zeit als Gedächtnis, Überwindung des Vergangenen im Neu-Hervorzubringenden, allerdings ohne Dialektik, oder wie es Martin Wuttkes Holofernes sinngemäß in der Judith-Inszenierung sagen wird, dass er den Tag gestern zerhackt habe um ihn an den Tag heute zu verfüttern.

Zugleich oder von einem anderen Punkt aus: Judith und Holofernes laufen zu Beginn die ganze Zeit den Kissenberg rauf und runter und erzählen die Geschichte des Sonnenkultes von Homs während auf der Leinwand jenseits der Zuschauer Bilder des syrischen Palmyra zu sehen sind und das aus einer Zeit, als die Bulldozer von DA‘ESCH sie noch nicht geschleift hatten. Bilder, die das Erzählte untermalen, wie die Erzählungen über die Mütter von Elagabal, Mutter, Großmutter und Tante, die als historische Figur die Mutter des Kaisers Caracalla war, aus dessen angeblicher Blutsverwandtschaft die drei Frauen die Legitimität der Herrschaft des Elagabal herleiten werden.

Die beiden Mütter Elagabals, die eben genaugenommen drei sind, von denen die eine, Julia Domna zugleich Diana, Artemis, Ischtar und Proserpina verkörpern soll, griechisch-römisch-altbabylonisch die Göttin, die zugleich eben Göttinnen der Oberwelt und mit Proserpina die Herrin der Unterwelt darstellt.

Jahrhunderte bevor Elagabal überhaupt geboren sein wird, vollzieht sich eine legendenhafte Episode um eine hebräische Witwe, die ihre Stadt vor einem General des Nebukadnezar, der diese Stadt aus Rache für die Verweigerung des Vasallen- sprich Kriegsdienstes für seinen Herren vernichten will. Die Geschichte von der Verführung des Generals durch eine hebräische Witwe, um ihn nach dem Beischlaf umzubringen, hat die Judith berühmt gemacht. Frank Castorf erzählt die Geschichte etwas anders und stützt sich dabei auf Judith von Friedrich Hebbel. Für beide steht freilich dennoch der Mord im Zentrum der Handlung, der da geschehen wird, aber der Auslöser des Besuches von Judith im Lager des Holofernes ist in Frank Castorfs Inszenierung die Leidenschaft, ist das Begehren.

Die Reste vergangener Produktionen in die Inszenierung hereingenommen, sie übersteigen lassen, sie von der Frau, vom Mann übersteigen lassen, das übersteigen gelassen, was von dem, was gesehen wurde übrig ist, was sich davon materialisiert hat, um überstiegen zu werden, überstiegen werden zu können. Nochmals und von dieser andren Seite her, wie sagte es Holofernes: „Ich zerhacke den Tag zuvor und füttere damit den Tag heute“.

Zeit hat nichts mehr mit Kontinuität zu tun, aber auch nicht mit Dialektik. Zeit ist einerseits Vereinnahmung durch den Betrachter und die Betrachterin, ist zugleich die Anwesenheit und immerwährende Präsenz allen Geschehens. Nichts ist vergangen, nichts ist vergessen: eine geradezu unheimliche Vorstellung und das nicht nur unter dem Vorzeichen, dass immer und jeder Zeit all dem Unvergessenen die Vereinnahmung droht.

In einer Art lebendiger Zeitbilder versammelt Frank Castorf Fragmente der Handlung, der Inszenierung in abgeschlossenen Räumen wie den Zelten der Belagerungsarmee des Holofernes, um die Figuren isoliert vom Theaterraum in Intensität zu einander zu bringen.

Protokolle dieser Intensitäten sind Videoübertragungen auf Leinwand, die Einblicke geben in Fluchträume, in Refugien, wo Judith etwa sich drei Tage zurückziehen wird, um die Entscheidung zu treffen, dass die Rettung über die Sünde vor sich gehen muss, eine Entscheidung, die ihr Gott eingeben soll. So wird der Innenraum zum Innenraum der Personen, nur dass es auch ein gemeinsamer Innenraum sein wird, in welchem Auseinandersetzungen zwischen den Figuren stattfinden.

Eine solche Auseinandersetzung ist und ganz zentral, die Auseinandersetzung zwischen dem Plädoyer für das transzendentale Prinzip des Einen und der Argumentation für eine Sinnlichkeit, in der die Dualität aufgehoben sein soll und zwar aufgehoben im sinnlichen orgiastischen Ausleben der weiblichen und männlichen Kräfte.

Die Schnittstelle, an der diese orientalischen Vorstellungen in das Denken des Abendlandes hereinbrachen, war der Versuch, die syrische Verehrung des Sonnengottes in den Riten von Emesa in Rom einzuführen. Der dies versuchte war ein Priester des Sonnenkultes von Emesa/Homs selbst, ein wunderschönes Kind, ein Knabe, den die konservative römische Religion aus sich ausspie, den sie in den Latrinen der Soldaten mitsamt seiner Mutter ertränken ließ.

Und vielleicht ist dies der Punkt, an welchem der Zugang von Frank Castorfs Lesart der Hebbelschen Judith sich noch am ehesten erschließt: die Sinnlichkeit, der Körper, der Tod und die Nähe dieser drei zueinander, deren Kräfte durchschritten werden müssen. Hebbel stellt nämlich keine reine Heroine dar, obschon Judith dies auch ist, und gerade mit ihren Ansprüchen an Männer, die für sie nur als Helden akzeptiert werden, Ansprüche, die sie noch durch ihre Ansprüche an sich selbst zu übertreffen sucht. Sie ist aber auch eine Frau mit einer weiblichen Sinnlichkeit, zu deren Befriedigung sie sich auf einen Mann einlässt, mit dem sie nur schläft, weil sie ihn begehrt und weil sie von ihm begehrt werden will. Obschon Jahrhunderte vorher geschichtlich verwurzelt, kann sie so in Frank Castorfs Inszenierung zur Figur der spätantiken Auseinandersetzungen um den Synkretismus in seiner Sinnlichkeit werden, obschon einer der Protagonisten dieser Zeit, das Christentum, noch gar nicht die Bühne der Geschichte betreten hat. Das Gleiche gilt freilich auch für den wunderschönen Knaben, dem später der Beiname Elagabal gegeben werden wird und der zwischen seinem 14. und seinem 18. Lebensjahr Kaiser von Rom unter der Vormundschaft seiner Großmutter und seiner Mutter werden soll.

Der Wahrnehmung des Menschen entsprechend, trennt Frank Castorf die Wahrnehmung des Außen von der Wahrnehmung des Inneren, der inneren Monologe, trennt die Auseinandersetzungen mit Gedanken und Ideen von der Wahrnehmung der Außenwelt, in der Figuren auftreten, die von einem Chor mehrstimmig gesprochen werden, etwa des Verehrers der Judith, Ephraim, um dessen innere Widersprüchlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Die Reproduktion dieses Innenraumes wirkt auf die Betrachterin und dem Betrachter realer als die Außenwirklichkeit, die gerade in ihrer Zerrissenheit dargestellt wird.

Die Entwicklung innerhalb einer Figur wiederum reißt das Stück auseinander, um es von der Entwicklung einer anderen Figur aus wieder bei sich, aber an einem vollkommen anderen Ort, bei einem anderen Sich, ankommen zu lassen. Zuerst verfällt Judith dem Holofernes, um dann durch die Auseinandersetzungen innerhalb Bethuliens, der Entscheidung dem Holofernes die Tore erst in fünf Tagen zu öffnen, dazu gebracht zu werden, ihren Liebhaber umzubringen.

Der Text, dem Frank Castorf Teile von anderen Texten implantiert, leistet den Fortlauf von Handlung und Stück eher wie eine Art Mosaik, das an das Mosaik zu Beginn von Federico Fellinis Satyricon erinnert. Kontinuität braucht Umwege, um sich an den verschiedensten Schichten von Denken und Körper anzureichern.

Andere Umwege neben Antonin Artaud sind Jean Baudrillards Überlegungen zum Hass und Heiner Müllers Revolutionsstück Der Auftrag, genauer, Erinnerungen an eine Revolution, wie sein Untertitel heißt: In seinen Zeitbildern lässt Frank Castorf die Gedanken zu Imaginationen gerinnen. Er spielt dabei mit der Virtualität gleichzeitig als dem Gegenstück von Imagination, verabschiedet die alte Einbildungskraft in ihrem Double.

Nun ist die Imagination des Blinden allem Bild genau so verfallen wie dessen Double, dessen Virtualität: alle Bilder kommen nur in Erzählungen zu ihm und nur in Erzählungen scheidet er deren vermeintlich unterschiedliche Realitätsgehalte voneinander, wie er nur durch Imagination das absolut Unmögliche vollbringt, die Wirklichkeit von ihren Doppelgängern und ihren Einbildungen zu trennen, und es ihm vielleicht gar nicht auffällt, dass ihn das misslingt. Aber selbst dies ist Imagination, vor allem eine solche, die ihm da aus der Imagination wieder heraushilft, oder genauer: heraushelfen soll.

Und doch, es ist da noch etwas ganz anderes in diesem Theater: es ist nicht einfach nur die Erzählung. Es sind die Töne, die Geräusche, di Musik, es sind ihre Bilder, wie sie im Inneren des Blinden hervorgerufen werden, es ist ihre Richtung, in der sie bei dem Blinden ankommen, in die sie hinausführen, die sie ihn unterscheiden lassen, ihre Körperlichkeit und deren Differenzen ihn spüren lassen. Die Statik des Innenraumes, die Bewegung und Beweglichkeit in der Außenwelt: all dies ist hörbar, ist spürbar.

„Eine Kanone groß genug, um die Welt hineinzuladen und sie Gott ins Gesicht zu schießen“.
„Opfer!“
„Welchem Gott?“
„Welchem haben wir gestern geopfert?“
„Wir losten auf deinen Befehl und das Los fiel auf Baal.“
„So ist Baal heute nicht unrecht.“

Martin Wuttke, in der Stimme eine Mischung aus Mann und Frau, fistelnd, wenn er zornig schreit, wenn er wie verwundert vom Krieg zwischen dem männlichen und dem weiblichen Prinzip spricht und dabei seine Stimme in den Diskant kippt. Ruhig philosophiert er über das transzendente Eine, ohne zu sagen, woran sich das eine wie das andere manifestiere oder genauer, ohne das abstrakte Prinzip erneut an reale Figuren verraten zu lassen. Zärtlich wird sie geradezu, wenn sie Judith gegenüber zum machtbewussten Herrscher wird, der sich seiner erotischen Ausstrahlung durchaus bewusst ist.

Birgit Minichmayr zunächst als Propagandistin antiker Kulte und deren Vermischungen, die dem Hörer auch dann noch im Ohr mitschwingen, wenn sie die Rolle der hebräischen Witwe übernommen hat, die sich voller Lust auf ein Liebesabenteuer mit dem Schlachter ihrer Stadt einlässt, bevor sie ihn töten wird, um eben gerade dieses Schlachten zu verhindern. Was da in der Stimme mitschwingt ist eine Erotik, die nicht allein im Theater um den Mordplan herum aufgeht. Berechnende Entschlossenheit und Zärtlichkeit dicht ineinander gewoben: ein Spiel das gespielt werden muss, aber so gut gespielt wird, das das Spiel durchschaut wird, zumindest von der einen Seite der Stimme her, der Stimme, die dem Holofernes abgewandt ist.

Jasna Fritzi Bauer als Mirza, als der Schatten der Judith, das reflektierende Gewissen und zugleich deren vertraute Freundin, eine jugendliche Stimme, die als alter Ego der Hebräerin auch deren innere Zerrissenheit ausdrückt, in ihrer Sicherheit aber einen Optimismus zu verströmen vermag, der das Vertrauen in das Gelingen des Plans stimmlich glaubwürdig erscheinen lässt.

Die Ermordung des Holofernes trennt Frank Castorf von den Nächten des Beischlafes, um ganz klar herauszuarbeiten, wie stark die Anziehung des Generals auf Judith wirkt, um also darzustellen, dass die was miteinander hatten und das, ohne den angeblich einzigen Grund des tête-à-tête, nämlich die Stadt zu retten. Es ist eben nicht nur die Pflicht, die Sünde auf sich zu nehmen, um die Stadt zu retten.

In der Figur der Judith kommt zwar auch die Rettung durch die Sünde zu sich, sie kommt durch den Tod und durch die Leidenschaft zu sich. Frank Castorf widerspricht dieser heiligen Unschuld aber, die er vorher in der Ehe der Judith als Ehe ohne allen Sex beschrieben hat. Umso heftiger packt die Witwe jetzt aber in der Begegnung mit Holofernes eine solche Leidenschaft und die Bereitschaft sich ihr vollkommen hinzugeben, Judith taucht bei Holofernes auf, um mit ihm ins Bett zu gehen. Deshalb trennt Frank Castorf die Liebesszenerie von der Liquidierung, lässt sie Judith wie Holofernes auskosten, lässt Judith ihren Geliebten am nächsten Morgen fragen, ob er sie noch liebe, bevor sie ihm später den Kopf abschneidet, nachdem sie nochmals mit ihm ins Bett gegangen ist.

Nichts wird davon mehr aber überwunden, wie im Christentum noch vorgestellt, weder der Tod noch die Sünde. Diese vom Christentum noch zu erreichen geglaubte Heiligkeit wird die Lust selbst, eine heilige Lust, wie sie Georges Bataille propagiert und darstellt. Nur so ist das Paradox zu verstehen, das Antonin Artaud seinem Heliogabal als Untertitel beigefügt hatte: Der Anarchist auf dem Thron. Nur gewaltsam konnten die verschiedenen Schichten, aus denen sich der Monotheismus gebildet hat, zu einem Denken und Handeln verschmolzen werden. Nur in der Grausamkeit des/der alles um sich herum sich einverleibenden Mann/Frau gewinnt sich etwas wie die Möglichkeit von Utopie, die sich als alles sich einverleibende Zeit darstellt. Keine Utopie also mehr als Ort, nirgends und niemals. Frank Castorf unterteilt seine Realität auf einen versteckten Raum des Innen und den des realen Theateraußenraumes. Während der Innenraum in den Zelten bespielt wird, die er mit Kamera und Mikrophon ausleuchten lässt, die also, obwohl im Verborgenen, durch Leinwand und Lautsprecher viel näher scheinen als der Rest des Theaterraumes, gehört dieser den eigentlich symbolischen Bildern, den Bildmetaphern, die sich vor allem mit dem Problem der Zeit befassen.

Durch das Wasser des Kunsttümpels gezogen, zwei Frauen, Judith und ihr Alter Ego, von denen nur eine spricht, das Außen der Beziehung zwischen beiden Frauen, ein Bild, das kein Dialog besser herausarbeiten hätte können. Dem gegenüber ein mikrofonverstärkter Innenraum, deutlichst die Dialoge. Andererseits zerfletterte Akustik im realen Außen, die immer vorhandene Unfassbarkeit des Sichtbaren im Akustischen ausgedrückt. Im akustischen Hintergrund schwelt immer wieder ein undeutliches Dröhnen, ein leises unheimliches Tosen wie von einem sich nähernden Großbrand. Die akustische Nähe der Innenräume, die Entfernung die sich einstellt, sobald die Figuren diese Innenräume verlassen, hörbar aus einem Innenraum in ein reales körperliches Außen getreten.

In seinen Zeitbildern, die Frank Castorf auf unterschiedliche Weise organisiert, treten uns einerseits Bilder seiner Eigenzeit entgegen. Andererseits organisieren sie eine Art Einfärbung der Inszenierung: nachdem im Außen der Welt zu Beginn der geistige Boden abgesteckt war, der Nebukadnezar genauso außer Acht ließ wie die Zerstörung des Tempels in Jerusalem, der andererseits mehr Zeit auf eine Erstellung einer Art geistiger Stimmung im Theatersaal wertlegte, die das Folgende einbetten sollte in eine Art Synkretismus, der die Vermischung der Kulturen ganz sinnlich Theater werden ließ, war ein atmosphärischer Rahmen geschaffen, der alle weitere Handlung in seine Farben tauchen würde.

Wie nebenbei lässt Frank Castorf ein Bild des Denkens des Abendlandes überhaupt erscheinen, einer Mischung aus verschwiegenem Innenraum und einer Parallelhandlung, und als was erscheint das Denken im Abendland hier anders als eine Parallelhandlung, die alles was außerhalb ihrer Rationalität erscheint als ihr Außen auszuwerfen sucht.

Dass das Denken noch ganz anders praktiziert werden könnte, zeigt gerade Frank Castorfs Judith auf, wo der Regisseur mit dem grandiosen Volksbühnen-Ensemble ein sinnliches Denken praktizieren lässt, in dessen Körperlichkeit er auch eine Art zeitüberwindender Utopie, vielleicht aber eher das, was Heiner Müller als Uchronie bezeichnet hatte, lebendig werden lässt.

Damit freilich wäre von Utopie das lediglich übrig, was man mit dem französischen Philosophen Jean Baudrillard das Grab der Zeichen bezeichnen könnte. Ein Grab aber vielleicht auch, in welchem sich tatsächlich das alles auf einmal der Artaudschen Ekstase wiederfände, das in aller Wucht den alten Tod überstiege.

Judith - Tragödie von Friedrich Hebbel © Thomas Aurin