Simone Kill; 2015, 41 x 36cm, Acryl auf Leinwand © Simone Kill

Die geschälte Zeit
Simone Kill und die Freistellung der Form

Ein Film aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Dass sie sich doch daran erinnern müsse, dass sie hier verabredet seien, dass sie sich letztes Jahr verabredet hätten. Sie aber verneint, sagt dass er sie verwechseln müsse: „Sie verwechseln mich.“ Und sie verneint diese Verabredung die ganze Zeit bis zu dem Moment, wo sie mit ihm das riesige barocke Hotel verlassen würde. Von Anfang an hatte er sie gedrängt, hatte sie gedrängt, das Hotel mit ihm zu verlassen, ihren Mann zu verlassen, mit ihm wegzugehen. Dieses riesige Hotel, dieses barocke Schloss aus einer anderen Zeit, wie er, der die ganze Geschichte erzählt, sie aus dem Off erzählt, von der ersten Szene an erzählt, wie er, der zugleich Erzähler und Figur ist, wie er also es aus dem Off beschreibt. Die Kamerafahrt durch Flure, barocken Zierrat, Säulen, Teppiche, durch Flure, Fluchten von Fluren. Die Kamerafahrt, die seine Stimme beschreibt, beschreibt woran die Kamera vorbeifährt, die Dinge, die im Bild zu sehen sind von der Stimme aufgezählt, Bild und Sprache parallel geführt, parallel wie der Erzähler, der zugleich der männliche Protagonist ist, der von der Frau immer wieder gebeten wird, sie doch zu lassen: „Lassen sie mich, ich flehe sie an.“

Die Geschichte einer Verabredung, die für die Frau keine war. Abwesend sie, abwesend zuhörend, hören ohne zu hören, aber wer wollte das behaupten. Geschehnisse, die keinen Halt finden, keinen Halt, um Wirklichkeit werden zu können. Kamerafahrten durch Flure und Fluchten, durch Türen und Säle, vorbei an Galerien an Zierrat, über schwere Teppiche. Unentschiedenheit von Traum und realer Wirklichkeit, von Vergangenheit und Gegenwart.

Die Kamerafahrt als Band, das Bilder aufsammelt, um in ihm eine Bestimmung der Wirklichkeit einzubinden. Bilder die erzählt werden, von denen der Erzähler erzählt und zugleich als Protagonist sich in ihnen bewegt. Erzählung eines vermeintlichen Geschehens, dessen Erinnerung Wirklichkeit hervorzubringen hätte. Und warum? Um mit ihm zu gehen, wie angeblich verabredet, mit ihm zu gehen. Sie würde sich nicht erinnern, sie würde sich zwar nicht an die Verabredung erinnern, aber sie würde mit ihm fortgehen, würde das barocke Hotel mit ihm verlassen.

Die Musik, vom Komponisten Francis Seyrig, einem Schüler von Olivier Messiaen, zwischen tonal und atonal angesiedelt, entleert sich aller Deutbarkeit, aller Greifbarkeit: Wie der Soundtrack zu einer Irrealität, die Reales wie Subreales in sich zusammenbringt, ein gleitendes Streifen verkörpernd, das, wie die Bilder eine Atmosphäre der Oberfläche erzeugt, die sich auf keinerlei Innerlichkeit einlässt, wie Simone Kill auch keinerlei Imagination im Vornherein zulassen will. Gerade deshalb der Versuch, ihren Bildern durch den Film von Alain Resnais Letztes Jahr in Marienbad sich anzunähern, einem Film, der nichts anderes ist, als die Beschreibung der Unentschiedenheit, ja der Unentscheidbarkeit. Die Beschreibung des Bildes in Bewegung, die in Bewegung die Unbewegtheit bildhaft beschreibt.

Wie sich die Bilder nur abdrücken, ihre Oberfläche aufnehmend, ohne nach dem inneren Körper zu fragen, wirken die Linien der Kamerafahrten wie Linien, die das Durchzogene nur berühren, ohne es aufzugreifen.

Keine Vergangenheit wird über ihre bloße Behauptung hinaus greifbar. Die Bilder in der Kamerafahrt wiederum werden nur zu Aufzählbarkeiten, entledigen sich aller Körperlichkeit. Wort und Bild in der Stimme vereint und doch nur, um sich aneinander endgültig zu entleeren.

Ein Hausprojekt in Frohnau, das der Malerin Simone Kill einen Raum als Atelier zur Verfügung gestellt hat. Sie habe Bilder in verschiedenen Stadien des Malprozesses zusammengestellt, die er alle anfühlen könne, wenn er wolle, begrüßt die Absolventin des Studiums der Malerei an der UDK in Berlin den Autor und seine Assistentin.

Zuallererst seien Bänder zu sehen. Bänder seien zu sehen, Bänder, die sich zu Körpern formten. An Mumien erinnerten Sie diese. Nein, antwortete die Assistentin dann aber, als er ihr seine Handspanne zur Aufzeigung der Breite dieser Bänder zeigte. Nein, vielleicht eher Linien, und die veränderten immer wieder ihre Breite, vor allem wenn sie sich krümmten, um etwas Plastisches herauszuarbeiten.

Simone Kill stellt in ihren Bildern zugleich die Interpretation dieser Bilder dar wie auch deren Vielfältigkeit. Dies gelingt ihr, indem sie zugleich Bewegung darstellt und die Unentscheidbarkeit der Richtung, in welcher sich die Bewegung orientieren sollte oder überhaupt könnte. In vielen ihrer Bilder steht das Moment des Zerfließens der Figuren, des Zerfalls im Mittelpunkt. Die Figur wird gleichsam zu Bändern geschält. Zugleich erscheint der Zusammenhalt dieser Figuren einzig durch die Bänder gewährleistet. Das Band stellt zugleich den Beginn wie das Ende der Figur dar, das Zusichkommen wie das Auseinandergehen. Es gibt einen Moment, der es den Figuren ermöglicht, sich zu bündeln und im Bündel aus dem Werden zu Sein zu kommen. Nur kurz, um dann in der entgegengesetzten Richtung wieder auseinanderzufließen, zu zer-gehen. Die Bewegung, die den Figuren eigen ist, kommt gerade aus der Unentschiedenheit ihres Status: sie gewinnen keinen Stand und wo sie ihn einnehmen dient er nur der Darstellung der Nichtfeststellbarkeit ihres Status als Figur, deren Bewegung darin besteht, dass sie sich gerade zusammensetzt oder zerfließt. Nicht die Figur selbst ist in Bewegung, eher ist es das Material, aus dem sie besteht oder vielleicht genauer: aus dem sie gewonnen oder gerade verloren wird. Das, was da zu sehen ist, überlässt es den Sehenden in ihrer Interpretation der Figur die Richtung zu geben, den Zeitpunkt ihrer Geschichte zu bestimmen, sich der Interpretation offensiv zu bemächtigen.

Einem Ding kommen so viele Sinne zu, wie Kräfte fähig sind, sich seiner zu bemächtigen, so der französische Philosoph Gilles Deleuze. Die Bilder von Simone Kill scheinen diesen Satz des Philosophen aus dessen Arbeit über Nietzsches Philosophie geradezu auszugestalten. In dieser Welt der Schwebe vermag sich die Form nicht zwischen abstrakt und konkret zu entscheiden, ist scheinbar immer auf dem Sprung vom einen ins andere. Sie wartet geradezu darauf, dass ihr die Betrachter_in ihr einen Zustand zuweist.

Diesen Überfluss an Sinnpluralität löst die Betrachter_in nicht in der vermeintlichen Präzision ihres Blickes, nicht durch ihr subjektives Entscheidungsvermögen. Eher ist der Schluss ein Ergebnis von Überwältigungsprozessen, in denen er zur Ruhe kommt, um daraus zu entscheiden, oder vielleicht entschieden zu werden.

Simone Kill nähert sich der Entstehung der Form metaphorisch, übersetzt die Bewegung der Entwicklung ins Bild, das sich anschickt, die Form zu häuten, oder zu schälen, wie man einen Apfel schält oder wie Ibsen seinen Peer Gynt eine Zwiebel schälen lässt, um sein vergangenes Leben sich reflektieren zu lassen, all seine Gedanken, seine Tränen und Taten in Naturerscheinungen ihm bewusst werden zu lassen, ihn an sie und damit an sich erinnern zu lassen, in einer existentialistischen Metapher ihn und sie herauszuarbeiten.

Andererseits resultiert diese Bewegung aus der Dualität von Linie und Fläche. Die Linie, die auf Formen um sich herum Kraft ausübt und dadurch selbst überhaupt erst zu Kraft kommt. Die Kraft und die Unbestimmbarkeit ihrer Richtung: verdecken die Flächen die Linien oder schieben sie die Linien unter sich und in sich hinein. Und warum tauchen die Linien aus den Flächen wieder auf. Tauchen sie tatsächlich auf oder werden sie von den Flächen hinausgeschoben, wenn nicht gar hervorgebracht oder ausgeschieden oder noch drastischer: hervorgewürgt.

Das Band als Binde, die auf das, was es umschließt ebenfalls Kraft ausübt, sich im Abdruck in seiner Kraft spürt und wie nebenbei eine Form abnimmt, die es aber eher im Sinne einer Verwandlung mumifiziert, also das was im altägyptischen Sinne tatsächlich unter Mumifizierung zu verstehen war: ein Übergang, eine Transformation, eine Schwelle, eine Verwandlung.

Linien stellen Kraft dar, etwa in der Vektorrechnung. Bei Simone Kill tauchen sie selbst als Kraft auf, die im Stande ist zu wirken, die Gliedmaßen verschiebt, den Umweg hin zur Form selbst übernehmend, um gehen zu können. Eine Kraft aber gibt es nie für sich allein, immer muss es eine Gegenkraft geben, an der sie sich entwickeln und entfalten kann. Diese Gegenkraft ist in Simone Kills Arbeiten die Fläche.

Form bringt in Gestalt der Gestalt einen Ausdruck hervor, die Ursache/Wirkung darstellbar macht. Zwei Pole eines Geschehens erscheinen im Bild zugleich sprachlich trennbar und in ihrer Interaktion erscheinen sie als Ausdruck, erscheinen sie als Ausdruck von Einem, erscheinen als Eines.

Wenn Simone Kill ein Vor-bild nimmt, nimmt sie weder seine Machart, seinen Stil, noch bedient sie sich seines Gehaltes. Es ist eine Bewegung, die sich in ihrem Körpergedächtnis eingeschrieben hat und immer wieder aufs Neue in der Wiederholung einschreibt, eine Bewegung oder eine Geste, eine Pose. Im Falle ihrer Darstellung der Ursula ist es lediglich eine kleine Bewegung hin zur Pose, hin zur Geste, ein Heben des Armes zur Abwehr, vielleicht zur Anrufung, zum Gebet, oder ein unwillkürlicher Ausdruck der Überraschung. Imagination wird in ihrem Körper, im Körper der Malerin spürbar, um dann erst in der Malerei Form werden zu können. Es gibt also vorher kein Bild, keine Imagination, der nachgestrebt wird. Eher ist es etwas, das sich eindrückt, das befällt, so sehr befällt, dass es im Ausdruck wieder losgeworden werden will.

Sucht man sich die Vor-bilder der Art der Imaginationen der Simone Kill vorzustellen, kommen die Tiere des Zarathustra von Friedrich Nietzsche in den Sinn. Die Tiere und die Bewegung, die sie in Nietzsches Werk vollziehen. Der Kreis und der Ring, dargestellt an der Art der Erscheinung der Tiere: dem seine Kreise ziehenden Adler und der Schlange, die um den Hals des Vogels sich ringelt „wie eine Freundin“. Nur dass sie den Kreis nicht machen genauso wenig wie den Ring, sondern dass sie sich in ihre Form hineinfügen. Ähnlich sollte man sich Simone Kills Imagination vorstellen, ein Bild, in das sie sich hineinfügt, es annimmt, wie etwas, das sie prägt, dem sie sich überlässt, es in ihrer Malerei ausdrückt, indem sie ihm aber nicht einfach nachgeht. Sie erspürt dabei nicht allein ein Bild, das Bild wird in ihrer Schau zu seinem Werden und findet dabei ein Bild des Werdens überhaupt, das im Bild zu seinem Sein kommt. Wie eine Traumwandlerin geht sie der Vision nach, die zugleich den Zusammenhang, das Ineinander von Bild, Geschehen und Sprache aufdeckt.
Das Gemälde des Martyriums der heiligen Ursula von Peter Paul Rubens ist es, in welchem die Heilige den rechten Arm hochreißt, während sie den anderen wie zur Abwehr nach unten hält, in dessen Hintergrund die Gefährtinnen der Ursula von den Soldaten der Hunnen mit dem Schwert ermordet werden. Es ist nur dieser hochgerissene Arm, der in Simone Kills Gemälden immer wieder erscheint, ohne dass sie diese Pose einfach nachmalte, die sie in ihrem eigenen Werk immer wieder entdeckt, im Nachhinein entdeckt, um sie dann herauszuarbeiten, sie zu pflegen.

Ohne irgendwelchen inhaltlichen Bezug drängte sich Alain Resnais Film Letztes Jahr in Marienbad auf, zu dem der Schriftsteller Alain Robbe-Grillet das Drehbuch geschrieben hatte: endlose Kamerafahrten durch endlose Räume, deren Bilder von leeren Sälen, leeren Fluchten durch leere Gänge sich in ihrem Ins-Bild-Kommen sich selbst entleeren. Bilder die nur Oberfläche zu sein scheinen. Dialoge, die in keinerlei Tiefe hineinführen. Eine Zeit die ihre Vergangenheit dadurch abstreift, dass sich an sie niemand als der Erzählende erinnern kann, eine Zukunft die angekündigt, die aber nicht stattfindet, weil die beiden Protagonisten einfach aus dem Lauf der Bilder gehen.

Zeit, die sich der Zeit im Bild entledigt. Wo das Bild nichts als Oberfläche ist, keine Körperlichkeit aufweist, in der sich etwas wie Geschehen zu Geschichte verdichten könnte, und damit zu Erinnerung. Wo Geschehen ohne Geschichte erscheint, bleibt nur die Geschichte seiner Erscheinung. Diese Art der, nennen wir es, zweiten Genealogie erscheint als das, was in Simone Kills Bildern dargestellt wird, verlangt aber erneut eines Bildes, und zwar das Bild der Zeit im Zerfall, das zugleich das seines Werdens ist. Wie in Resnais Film Letztes Jahr in Marienbad entwickelt sich ein Geschehen, dessen Verlauf an nur einem Punkt seines Stadiums, seiner Entwicklung darstellbar ist: der Faktizität seiner Bilder, deren Genealogie immer eine Hypothese bleiben muss, die erfunden sein will, wie Simone Kill die Geschichte ihrer Figuren aus einem erfundenen Material und dessen erfundener Zeit erfindet.

Wo eine Genealogie der Form imaginiert wird, ruft das Bildgeschehen in der Betrachter_in sich freilich ebenfalls ihre Geschichte in die Einbildung, ruft die Einbildungskraft des Erblindeten hinein in die Sprache.

Und so befallen da auch Aldous Huxleys Die Teufel von Loudun die Erinnerung, die des Buches wie die seiner Verfilmung durch Ken Russell, in deren Zentrum die Äbtissin eines Ursulinenklosters in Loudun steht, die ihre erotische Leidenschaft zu einem Mann, der diese Leidenschaft zu erwidern nicht gewillt ist, und den sie deshalb als Ketzer diffamiert, und als ihren Verführer, ihre eigene Sehnsucht imaginär verwirklichend, auf den Scheiterhaufen bringt, seine Hinrichtung durch den Feuertod betreibend und erwirkend.
Historischen Begebenheiten nachspürend, stellte Aldous Huxley ein sehr durchtriebenes Bild einer der Nachfolgerinnen der angeblich 11.000 Jungfrauen dar, die der Ursula gefolgt waren und von den Hunnen vor Köln getötet worden waren. Historischen Gegebenheiten im Loudon des Mittelalters folgend, arbeitet Huxley Leidenschaften von Frauen, die sich dem Gelöbnis der ewigen Jungfernschaft verpflichtet haben, am Beispiel einer Äbtissin eines Ursulinenkonvents in seinem Roman heraus, die, ähnlich wie das legendäre Vorbild der Ursula, ewige Jungfernschaft geschworen hatten. Anhand der Äbtissin des Klosters entwickelt er die Verlogenheit und zerstörerische Leidenschaft des Gelöbnisses an dem Punkt, wo es nicht gebrochen werden kann, weil das Objekt der Begierde kein Interesse am Beischlaf mit der Begehrenden hegt.

Simone Kill; 2015, 41 x 36cm, Acryl auf Leinwand © Simone Kill

Band und Bündel Geste und Pose
Linien und Linienbündel, die irgendwoher kommen und irgendwohin führen. Was wenn von einem kollektiven Gedächtnis auszugehen wäre, einem Gedächtnis, das mit Binden bestimmte Vorstellungen verbindet, woran erinnert sich der blind Sinnende bei Bändern, die Körperformen umwickeln, wenn nicht an die Mumie als Konservierung und damit als Teil eines Überganges vom Leben hin zum Tod. Was aber, wenn der ganze Prozess umgekehrt wäre, wenn die Bänder die Figur nicht nur konservierten, wenn sie sie überhaupt erst hervorbrächten.

Aber vielleicht nochmal und zuerst zum Dargestellten, zu seiner Genealogie. Was ist der Urgrund der Pose als Zeichen, als allgemeine Handhabbarkeit eines Ausdruckes durch den Körper. Was in einem Kulturkreis macht sie für alle erkennbar. Worin geht die unwillkürliche, intuitive Geste in ihrer Deutbarkeit und Bedeutung über den jeweiligen Kulturkreis sogar hinaus. Die Geste der Abwehr und die der Anrufung, die hier zusammenfließen in Situationen der Not, Ausdruck eines Gedächtnisses, das über das individualisierte Gedächtnis hinausgehend allgemein verstehbar wäre, verstehbar über die Sichtbarkeit der Szene des Massakers hinaus, verstehbar noch, wenn der historische Anlass, das Ermorden der Frauen selbst, entfällt, noch nicht einmal er dabei erinnert wäre, wenn einzig der hochgerissene Arm gesehen würde, kondensiert nun in dieser Intuitivität selbst, in einer Geste, die zur Form würde, einer Pose würde, Zeichen würde.

Das, was sich dann aber wiederum an Linien zufällig findet und bündelt wird aber willentlich herausgestellt, oder wie die Malerin sagt: „Es bleibt dennoch vage, wird nicht zu konkret. Ein Effekt in der Art: Mensch taucht, kommt aus dem Wasser raus und hat aber noch eine Schicht obendrüber.“

Einerseits führt also die Herauslösung der Geste aus der Situation, dem Kontext zur handhabbaren Pose. Führt aber andererseits auch zum Zeichen von etwas, das erinnert wird. Einer Erinnerung, die Situationen austauschbar erscheinen lassen könnte, die zu einer Art allgemein verstehbaren Ausdruck der Körpersprache sich niederschlagen könnte, zum Kondensat des individuellen Gedächtnisses mit seinen ganz individuellen Schrecknissen, die in einem jeden Körper, zwar von unterschiedlichsten Vorkommnissen rühren können, anders sich äußern könnten, damit aber dennoch die Austauschbarkeit solcher Zeichen trügen oder tragen könnten, in die hinein sich Sinn und Bedeutung ergössen.

Die Bänder aber sind vor der Figur da, sie finden in der Regel die Figur, manchmal sind auch Flächen vor der Figur da, aus denen sich diese findet. Anstatt dass vor dem Bild die Imagination vorhanden wäre, das innere Bild da ist, dem die Imagination nachfolgt, um es einzuholen, finden sich im Malen Linien oder Bänder und Flächen vorher, um sich aneinander abzuarbeiten, einander zu stören, einander zu verdecken, einander freizustellen und damit einander wiederum zu betonen.

In einem kreativen Prozess erwirken sich die Keimzellen der Form bei Simone Kill, die Linie oder das Band, die letztliche Form selbst. Die Malerin und ihre Hand sind nur ausführende Organe des inneren Körperbildes in ihr, ohne dass es eine klare Imagination vorher gegeben hätte. Band oder Linie finden sich zu Bündeln, bündeln sich zu Formen, die Figuren ergeben oder ergeben könnten.

Was dann von der Malerin gesehen und was sie verstärkte, was sie „pflegte“, erwirkt in der Betrachter_in ihre jeweiligen erinnerten Inhaltlichkeiten, derer sich die Malerin in der Art ihres produktiven Vorgehens zu erwehren hätte. Zwar ist Ursula in der Darstellung von Rubens Teil ihrer ganz individuellen Erinnerung, allein in der Sprache, im Sprechen vom Bild kann sie die Erinnerungen des Betrachters zurückweisen, die diesen mit Ursula oder Rubens befallen. Und dennoch wird sie auch diese womöglich nicht wieder los, schreiben sich auch diese auf die eine oder andere Weise in ihr zukünftiges Malen ein.

Form, Material und Farbe
Dann eine andere Figur bestehend nur aus Kopf und Rumpf. Der Mund aufgerissen, von der Beschreibung an Bacons Papstportraits erinnernd. Was aber wäre ein Mund hier denn anderes als ein Loch, eine Auslassung des Materials, oder noch genauer: ein Rückzug des Materials, das ja selbst als Form hier dargestellt ist und damit ein Dazwischen zwischen Form und Material eröffnet, Bändern die zurückgezogen werden können, oder könnten. Anders und im Gegensatz dazu eine Fläche, die sich in die rechte Kopfhälfte hineinschiebt, die als Augenhöhle verstanden werden könnte. Einerseits also die Auslassung in Gestalt des Loches, andererseits die Kollision einer anderen Art von Form mit den Bändern, die Fläche. Kollision also des Hintergrundes mit dem formbildenden Material, Einbruch des Außen ins Innere. Andererseits Sich-Selbstverweigern der Form in seiner eigenen Auslassung, seiner Nichtung als Loch, in das hinein sich die Form selbst zurücksaugt, um endgültig in Material hinein zurückzufallen.

Auseinandersetzungen zwischen Linie und Fläche, am Beispiel des Gesichtes etwa. Linien verschwinden, etwas verdeckt sie, sie werden aber wieder herausgeschoben. „Sie haben aber auch wieder die Kraft zu verschwinden, oder etwas hat die Kraft, sie herauszuschieben.“ Was löst die Dialektik aus, wovon geht die Kraft aus, woher kommt der Impetus, was ist Ursache, was ist Wirkung. Zu sagen „Er hebt den Arm“ besagt, er hat die Kraft, die Rolle des Subjekt auszufüllen, das zu einer solchen Handlung vonnöten ist. Bei Simone Kill sind solche Potenzen nicht notwendigerweise den dargestellten Gestalten zu eigen. Umgekehrt bekommen Linien die Kraft malerisch zugesprochen, um sie als wirkmächtig auszuzeichnen.

Den Grundstoff des Bildes sichtbar werden lassen bedeutet, ihn nicht einfach als Materialität eines Stoffes sichtbar werden zu lassen, wie etwa eine Farbe, die dann hinter der Form einfach wieder verschwände. Es bedeutete aber auch nicht einfach den Grund zum Vorschein kommen zu lassen, ihn ins Bild herüberzuziehen. Es bedeutet, zwischen Form und Material eine Materialität zu bilden, die sich zwischen Form und Material schiebt, um in letzter Konsequenz ihr Verschwinden darstellbar zu machen. Das Material muss selbst zu einer Form werden, deren Formcharakter etwas Labiles, etwas Fragiles an sich hätte, das ihm im Prozess der weiteren Formbildung wieder entzogen werden könnte. Das Dargestellte wäre dann nicht einfach der Bruch zwischen Dargestelltem und Darstellung, es wäre die Bildung eines Gegenstandes aus einem bereits gebildeten Material und erinnerte an einen zu behandelnden Urstoff, der bei Simone Kill allerdings in der Tendenz immer auch sich zu verselbstständigen in der Lage wäre. Eine Materialität fände sich so, die eine gewisse Vorformung erfahren hätte, die mit einer Art Beseelung verwandt wäre, die es der Figur ermöglichte, sich der weiteren Formung zu widersetzen, sich aus ihr zu lösen und auch die aus ihr zu bildende Form aufzulösen.

Das Außerhalb und woher die Bilder kommen
Dann aber die Frage, was hielte das Bild als Bild bei sich, stabilisierte es über alle eher abstrakte Auseinandersetzung von Kraft mit sich selbst, machte diese Auseinandersetzung zu einer bildhaften Erscheinung. In Simone Kills Werk gibt es eine Art Grundposition von Bild zusammengezogen auf eine Bewegung, eine Geste. Es spiegelt sich in einem Bild von Rubens, das Martyrium der heiligen Ursula, wo die Heilige den einen Arm nach oben hebt, mit der anderen Hand sie eine abwehrende Geste nach unten vollführt. Die beiden Arme gehen diagonal auseinander. Diese exaltierte Pose, diese Geste der Abwehr und zugleich Anrufung des Herrn, tauche in ihrem Malen immer wieder auf, ohne dass sie sie gewollt hätte, sie gerufen hätte. Sie tauche auf, ohne dass sie sie zunächst überhaupt erkennen würde, sie erkannt hätte. Erst im Blick darauf, im Blick auf das eigene Gemalte, erkennt sie und sieht: das ist Ursula. „Und dann sehe ich sie und arbeite sie wieder heraus, weil ich mich lange mit ihr beschäftigt habe. […] Das sind die Erinnerungen, die wir alle so abgespeichert haben. Das rubenssche Bild hat sehr viel mit mir zu tun.“ Es sei keine typische Rubensfigur. Sie hat aber vor allem ein Kleid an. „Aber darum geht es überhaupt nicht. Es ist einfach die Pose, die mich damals und immer noch fängt. Ich suche nach maximaler Spannung in einem Bild, und wenn es dann so Posen gibt, die diese Spannung schon ausdrücken, berufe ich mich dann gerne wieder darauf.“

Genauso wie man davon sprechen könnte, dass die Linien oder Bänder eine Figur fangen oder die Figur sich in den Bändern verfängt, spricht Simone Kill davon, dass die heilige Ursula sie selbst fange, dass sie aber erst im Nachhinein dies feststellen könne, dass sie wieder aufgetaucht sei, ohne dass sie sie gerufen hätte. Was ruft da in uns Bilder hervor, ohne dass wir etwas dazu tun würden, dazu getan hätten. In Erscheinung aber treten sie erst in unserem Blick im Nachhinein, in dem Moment, da wir sie erkennen und sie in ihrem Erkanntwerden uns überraschen, uns in ihrer Anwesenheit an einem ganz anderen Punkt unserer Anwesenheit, unseres Bewusstseins verblüffen oder irritieren. Was spricht da zu uns, was kommt da zu uns und aus welcher Vergangenheit, aus welchem Leben. Andererseits: was in uns gibt uns die Kriterien an die Hand, ästhetische Urteile zu fällen über das, was wir in der Umsetzung, in der Realisierung der Bilder, in denen wir uns verfangen haben, in denen wir uns kreativ bewegen, uns und unsere Bilder weiterzuentwickeln.

Etwa wenn Simone Kill erklärt: „Eine Vorstufe der Ursula wurde wieder übermalt und gerade deshalb, weil sie sich nicht wehren konnte. Sie war zu fest geworden. Der Arm sollte ursprünglich kein Arm sein, es sollte ein Kontakt zu einem Außerhalb der Leinwand sein, eine Art, ich füge mich zusammen, ich werde auseinandergezogen. Der Versuch einer Kontaktaufnahme zum Außerhalb des Bilderrahmens. Das könnte auch bei dem hier sein, wo es eher nach unten zieht.“

Dieser vermeintliche Arm wäre also dann genau das, was in der Rubensfigur tatsächlich dargestellt ist, eine Kontaktaufnahme mit dem Außerhalb, jedem Übersinnlichen, das vom Rahmen der Arbeit auch als außerhalb des Rahmens Darstellung fände. Die Geste könnte dann aber überhaupt als Urform der Kommunikation gesehen werden, als Hinzeigen auf das Außerhalb, das Andere, das in der Geste als Anrufung nochmals sein Bild des Anderen imaginär veränderte.

Simone Kill; 2015, 104 x 96cm, Acryl auf Leinwand © Simone Kill

Freistellen und Ausschließen
„Im Freistellen betont sich das, was herauskommt. Dass die Figur dabei umfasst wird und herauskommt. Auf der anderen Seite, soll dabei der Hintergrund beruhigt werden und hierüber die Figur mehr herausgeholt werden. Die hat da auch noch zig Bänder um sich herum.“

Wir sehen nur etwas, wenn wir etwas fixieren und damit das Umfeld des Fixierten ausblenden. Wir blenden damit aber auch nicht selten den Umfang des Fixierten aus. Genauso funktioniert ja auch Sprache: vom Buchstaben über die Silbe bis zum Wort schiebt sich etwas nach vorne und lässt anderes in seinem Schatten verschwinden. Simone Kill ergänzt in diesem Gespräch, dass man nur höre, worauf man sich konzentriere.

Damit stellte Simone Kill den Prozess der Wahrnehmung dar als etwas, das immer übersehen muss, um überhaupt wahrnehmen zu können oder vielleicht auf einer anderen Ausdrucksebene: die Arbeit des Begriffes, der sich immer aus seinem Kontext herauszuschälen hat, um im Wort singulär zu sich zu kommen.

Exklusiv aber ist auch die Abstrahierung der Pose von oder aus ihrem Kontext, sowohl ihres historischen wie ihres narrativen Kontextes. Von Ursula bleibt lediglich eine exaltierte Haltung, eine Pose, die als Geste sich ins repetitive Repertoire einschreibt, Gedächtnis der Malerin wird.

Der Hintergrund verdeckt die Herkunft, die Art der Herkunft, das aber so, dass Spuren davon noch sichtbar sind. In dieser Art der Freistellung wird Erzählung überhaupt ermöglicht, bekommt die Herkunft Erzählbarkeit von Geschichte, dessen erzählerischer Kern eine Erzählung darstellt, um sein Inneres in Kommunikation verlassen zu können und es zugleich zu bewahren, es aufzuheben.

Damit aber zerfällt die Zeit in eine des Dargestellten und der Darstellung, der Zeit des Malaktes, dessen Abbild als die Ganzheit der Lasierungen gesehen werden könnte, die Betrachtbarkeit seiner Schichten als Bild. Das Bild wird so zu einer Darstellung von Zeit, der diversen Schichten, der Mal- und Lebenszeit, die sich wiederum nochmals an der Geschichte und dem Geschehen auf der Leinwand bricht. Gebrochen aber nochmals an der Betrachtung der Betrachter_in, deren eigene Zeit und Erfahrung sich im Dargestellten brechen.

So entwickelt sich aus den Freistellungen eine andere Geschichte, die der Lasierungen, der Verdeckungen, der Übermalungen, die zumindest teilweise auch immer durchschimmert. Eine jede Übermalung weiß vom Scheitern davor, spricht zumindest zur Malerin, die davon erzählt. Die Übermalung der Ursula, die übermalt wurde, weil sie sich nicht wehren konnte, stellt die Auseinandersetzung der Kraft mit sich selbst nochmal auf eine ganz andere Ebene, eine Ebene innerhalb des kreativen Prozesses.

Die Sichtbarkeit des Inneren, das sich in der Zeit des Malprozesses manifestiert und damit zu einer Sichtbarkeit abstrakten Geschehens überhaupt wird. Eine ganz andere Herangehensweise ist hierin zu sehen, als setzte die Malerin sich selbst eine Imagination vor, der sie dann zu entsprechen suchte. Die inneren Bilder entstehen erst im Malprozess selbst, die Sichtbarkeit wiederum wird erst im Gemalten sichtbar und ruft erst von hier aus einen kreativen Prozess hervor, der damit immer etwas reaktives beibehält, der sich erst im Prozess zur subjektiven Handlung vom Bild emanzipieren muss.

Wie alle Vorstellung im Vorfeld ausgeklammert wird, lässt Simone Kill auch alle Psychologie im Malprozess verschwinden, auch die, die in der Ursula selbst mitschwingen könnte. Nur die Geste bleibt, die in der Alleinstellung des Armes auch ihre Erdung in der Abwehr verlöre, alle Geste des Psychologischen damit freilich auch. Einzig die Oberfläche des Bildes trägt weiter.

Dem gegenüber aber soll immer klar sein, immer gewusst werden, wo die Figur herkommt, den Imaginationen nicht vertrauend, stattdessen eine Genealogie verfolgend. Über die Genealogie dann aber auch den Umgang, die Interpretation der Linien und Flächen sehen können. Beispiel: ein Loch als Mund bei einer Figur die Simone Kill selbst als gruselig sieht. Während bei Bacons Päpsten das Mundloch eine Höhle darstellt, ist es bei Simone Kill die Materiallosigkeit, die erschreckt. Das Grauen scheint eben gerade von der Materiallosigkeit auszugehen. Eine Mundhöhle hätte eine Begrenzung, Materiallosigkeit ließe ins bodenlose Nichts stürzen. Derartiges klaffendes Nichts ist nur darstellbar, wenn das Material selbst eine Geschichte hat, die abbrechen kann, um vom Material aus alles in Frage zu stellen, was über die Infragestellung durch die Form weit hinausgeht. Ansonsten bliebe ohne die Geschichte des Materials nur ein Loch, das schlimmstenfalls als Klecks von der Betrachter_in oder als Karikatur eines Mundes abgetan werden könnte. Simone Kills Mund stellt keinen Mund dar. Was da an der Stelle zu sehen ist, an der normalerweise ein Mund zu sehen wäre, ist die Darstellung des Undarstellbaren, die nur deshalb als solche in Erscheinung tritt, weil das Material sich aus aller Form zurückgezogen hat, und nur so und ohne alle Versuche Undarstellbares erneut in Darstellung zu verraten, erscheint etwas in Imagination, das einzig dort seine flüchtige Behausung findet.

Eine andere Figur besteht nur aus Kopf und Rumpf. Die Figur hat etwas Aufgehobenes aber auch etwas Erschreckendes. Um sie herum ist eine fliederfarbene Aura. Sie hat etwas Aufgehobenes, weil sie bei sich ist, vielleicht in sich ist. Eine andere Figur fließt aus und das findet die Assistentin erschreckend, weil über die Bänder etwas aus ihr ausläuft, weil sie einen Teil ihrer Materialität in Gestalt der Bänder verliert. Unten sind die Bänder offen und es könnte sich dabei auch um Rippen handeln. „Die Figur beobachtet dich, sie schaut dich auch an.“

Eine andere Figur in einem anderen Bild tritt aus dem Hintergrund heraus, sie hat man schneller gefasst. Bei der erschreckenden Figur des davor betrachteten Bildes kippt die Wahrnehmung, man kann sie nicht fassen.

Die Figur aber, die da vermeintlich ausläuft, läuft sie aus oder fängt sie sich nicht gerade und käme damit erst zu sich. Jenseits des Ablaufes, der nur im Film umgekehrt werden könnte, wird Malerei zum Medium, das Zeit in sich verkehrt, ähnlich den Texten des Nouvel Roman bei Alain Robbe-Grillet, dessen erzählte Bilder immer anders gesehen werden können und dessen Erzählung immer von der Gleichzeitigkeit all der Sichtbarkeiten ausgeht, aus ihnen sich sein immer wieder wiederholendes Erzählgewebe knüpft.

„Wenn ich von der Übermalung der Figur ausgehe, wenn ich sie herausschiebe, habe ich interessante Wechselwirkungen innerhalb der Figur, interessante Flächenwirkungen. Das kann ich alles nicht bewusst produzieren.“ Wenn sie mit einer Figur nicht weiterkommt, übermalt sie sie, um mit dem zu arbeiten, was sich daraus ergibt. Wenn das Chaos alles überwuchert, muss sie dagegen eingreifen. Bilder, die die Sprache betastet als handelte es sich um das Abgebildete selbst. Dreidimensionales, das aus seiner zweidimensionalen Ab-bildung heraustritt, sie aufsprengt und dabei die Erzählung eine ganz andere Wendung nehmen lässt, aus der anderen Betrachtung des Gegenstandes selbst heraus sich doppeldeutigen Blickwinkeln, sich widersprechenden Eindrücken überlassend, einer hintergründigen Bildstruktur ergeben, die der realistische Blick sonst ausblendete.

Von hier aus und unter dem Eindruck des zeitstauchenden Films, die Frage nochmals so: in welche Richtung bewegen sich die Bänder, in welche Richtung verläuft die Zeit. In der Malerei gibt es nur die Zeit der kreativen Verausgabung, die Zeit der Betrachter_in ist die Frage ihrer Entscheidung.

Nahe Künsten, in denen Zeit eine Rolle spielen kann, wie in Musik oder Film, die die Auffassung hervorrufen können, dass Zeit sich real zurückentwickeln könne, gelingt es Simone Kill in ihren Bildern einen Schwebezustand hervorzurufen, in welchem Zeit anwesend ist, ohne dass sie sich für ihre Richtung entschieden hätte, oder mensch eine solche definitiv ihr zusprechen könnte.

Gerade in dieser Unentscheidbarkeit zwingt die Zeit die Betrachter_in dazu, Zeit selbst in ihrer Betrachtung als Eigenzeit zu verstehen, um ihr dann aber im nächsten Moment wieder in ihrer eigenen Betrachtung zu wiedersprechen.

Was löst eine solche Entscheidung aus. Die Unentscheidbarkeit der Interpretation, ob gruslig oder nicht, begänne in der Zeitrichtung, die eingeschlagen. Der einzig feste Punkt ist der, an welchem die Figur als Figur erkennbar wird.

Dabei aber nochmals: die Imagination steht nicht am Anfang, es ist die Linie oder das Band, die hin- und hergeschoben wird. Die Imagination taucht aber immer wieder auf, wird erkannt: „Oh das ist ja die Ursula“. Der Arm wird entdeckt, die Ursula kommt ungerufen wieder. Sie muss erkannt werden, entdeckt werden und gepflegt werden. Aber wenn das Bild nicht so aussieht wie es aussehen soll, muss sie wieder verschwinden. Was entscheidet über ihre Verwerfung. Simone Kill trifft da eine klare Entscheidung: „Wenn die Figur nicht mehr durchlässig ist, wenn sie zu fest geworden ist.“ Am Beispiel des betrachteten Bildes prognostiziert sie: „Es wird wahrscheinlich so sein, dass der Unterkörper sich nach links verschiebt, und dass er halbliegend ist und dann ist es schon keine Ursula mehr.“ Die Ursula wird dann zu einer Art Nucleus, von dem aus sich alle möglichen Figuren in ihren Posen entwickeln können, auf den sie zurückgeführt werden können. Der Arm als ein Linienbündel von oben oder nach oben. Was aber entscheidet, dass das ein Arm ist.

Der Kontrollverlust und die zwei Arten der Linie
Aus der Geste entstünden so durch Drehung der Leinwand die verschiedensten Figuren, deren Bleiben von ihrer Durchlässigkeit abhängt, davon, dass sie sich nicht verfestigt hätten.

In ihrem bewussten Spiel mit dem Kontrollverlust in ihrer Arbeit nimmt Simone Kill einerseits ihre eigene Subjektivität zurück und überlässt ihr Schaffen etwas, das aus ihr heraus schafft, nimmt sie einen passivischen Aspekt ins Werk mit herein, etwas, das sie einerseits nicht in den Griff bekommt, das aber ihre Kreativität übersteigt, das dennoch aus ihr kommt, sich ihrer bedient. Etwas, das sie in ihrer Imagination nicht zustande bringen könnte. Das „überwuchernde Chaos“ ist ein Sumpf, aus dem es sich zu befreien gilt, es ist aber andererseits eine Fruchtbarkeit, in der es sich mit Kraft aufzuladen gilt.

Das Ganze bewegt sich immer am Rand des Kontrollverlustes und das durchaus gewollt. Von daher beginnt die Malerin ihre Arbeit nicht selten mit Pinseln in beiden Händen, um dann im Verlauf festzustellen, wenn etwas sich ergeben hat, das sie stabilisieren möchte und der Willensakt den Anfang der eigentlichen Figur bestimmt, allerdings ohne ihn durch Imagination zu verfolgen. Das Diktat kommt aus der Malerei, aus Urformen der Form wie der Linie und der Fläche. „Entweder ich nehme zwei Pinsel oder ich mach die Augen zu oder ich dreh die Leinwand einfach um oder zur Seite.“

„Das hier wirke wie ein Aquarell“, sagt die Assistentin und zur Erklärung antwortet die Malerin, dass da Wasser drauf gegossen worden sei und die ganze Figur wäre dadurch verschoben worden. Das sei aber dadurch schwierig zu beschreiben: „Da schimmern mehrere Farben durch und du hast dann eine Reihe von Übergängen. […] Das Bild hier wiederum war nur oben geweißt worden, unten wurde es immer lasierender, und dann ist es ausgelaufen. Zum Kopf ist es schon kompakter. Unten hat man den Eindruck, die Figur kommt aus dem Hintergrund heraus, da sieht man noch die breiten Pinselstriche, das sind dann die Linien wie sie sich gebündelt haben, und das ist gut, dass man die noch sieht. Bei dem anderen ist es ein zu fester, deckender Hintergrund, da werde ich mit etwas Hellem drübergehen und dann nochmals lasieren.“ Die Figuren seien letztlich abstrakt: „Das könnten auch Landschaften sein“, so die Assistentin.

Grundsätzlich zu den Farben: Mehrere lasierende Schichten seien meist übereinander gelegt und daher sei gar nicht mehr zu entscheiden, um welche Farbe es sich handelt. Es gibt keine Unterscheidungen zwischen Hintergrund und Figur. „Ich fang gerne mit leuchtenden Farben an. Dann werden die deckender weil einfach mehrere Schichten übereinandergelegt werden. Leuchtende Farben schimmern durch, sind nicht dominant, schimmern aber durch, sind dann eventuell nach den Lasierungen nur noch an einer Ecke zu sehen. Etwa das Bild mit dem geweißten Oberkörper, wo Grün Rot und Ocker durchschimmern, oder dann eben auch das weiß lasierte, man kann da gar nicht mehr sagen, um welche Farben es sich da handelt.“

Grundsätzlich zu den Linien: „Es gibt verschiedene Arten von Linien, da gibt es die anfänglichen Linien. Demgegenüber gibt es gewollte Linien, plastische Linien, Linien die sehr präzise fassen und die Figur festhalten wollen. Darauf können dann wieder suchende Linien kommen. Diese Linien male ich nur mit einer Hand. Diese Linien benutze ich, um vage eine bestimmte Form wie einen Arm hinzubekommen. Zuerst also der unbewusste Prozess, der sich mit zwei Pinseln auf den Kontrollverlust einlässt, der dann aber unterbrochen wird, weil etwas entschieden wird: so jetzt will ich aber! und dann arbeite ich das Entschiedene heraus. […] Dann bleibt aber oben in einer Ecke vielleicht noch etwas Leuchtendes, Magenta etwa und das kommuniziert dann mit anderen herausleuchtenden Stellen auf dem Bild.“

Resnais Film als Epilog
Menschen, die im Park wie Skulpturen stehen, versteinert sie, nicht minder wie die in Posen versteinerten Skulpturen, zu einem Ambiente gehörend wie der Zierrat, wie die von der Decke hängenden Lüster.

Keine Zeit, die eine Entwicklung auswiese, die Handlung auflöste. Dialoge, die oberflächlich über Menschen hinwegstreifen, ohne sie als lebendig auszuweisen, ohne dass sich in ihnen Menschen als Personen ausweisen könnten. Ein Mann und eine Frau, von deren Beziehung zueinander er betont, es sei nicht Gewalt gewesen. Ein Mann und eine Frau, die am Ende des Films zusammen weggehen, ohne dass irgendetwas erwiesen hätte, warum und wohin.

Nur die Bilder weisen aus, dass überhaupt etwas geschehen sei, dass es eine Vergangenheit gegeben habe, die als Einziges tatsächlich im Bild bestätigt wäre, die es gegeben hätte, unklar woher sie gekommen und in welcher Beziehung die Personen zu ihr stünden, zueinander geschweige zu sich selbst.

Genauso wenig malt Simone Kill etwas, das über die Figuren hinausginge, malt sie Figuren, die nicht zu Personen werden können, die sich in Gesten auf Vergangenheit beziehen, eine Vergangenheit allerdings, die es nur legendär gibt, die in nichts in dieser Vergangenheit historisch belegt wären und nicht von ungefähr bezieht sich die Rubensgeste auf eine Figur, die es wahrscheinlich nie gegeben hat. Das einzige, das es gegeben hat, war ein Konvent, der sich auf ihre Legende bezieht, die sich allerdings gerade nicht an das den Konvent stützende Gelübde hielten, es in jeder Hinsicht verraten haben.

In ihren Bildern trennt die Malerin nicht nur eine jede Bewegung von etwas, das man als Person bezeichnen könnte, entledigt jede Figur aller Vergangenheit, und bezieht sich in einer Art Zitat doch explizit auf sie, bezieht sich auf ihre Unschärfe, letztlich auf die Unschärfe von Zeichen überhaupt. Nimmt in der Art, wie Gottfried Benn den modernen Menschen als etwas beschrieben hatte, der nur noch von seiner Kleidung zusammengehalten wird, alles darin und darunter existiert nicht. Das Zeichen und sein Bezeichnetes werden haltlos. Weder das eine noch das andere haben etwas, das sie gültig in Historie verankerte.

Simone Kill; 2015, 41 x 36cm, Acryl auf Leinwand © Simone Kill