Leiko Ikemura, tokaido-scape, in Besitz der Künstlerin © Leiko Ikemura, VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Das Erspüren des Bildes

Zur Ausstellung PRELUDE: Leiko Ikemura - Utagawa Hiroshige im Haus am Waldsee

Das Bild bereitet auf das vor, was kommt. Ohne Bild ist vieles, was auf den Menschen zukommt nicht zu erwarten. Selbst was gehört wird, was gerochen werden kann braucht zu beträchtlichem Teil seine Entschlüsselung im Bild, das die jeweilige Situation einordnet, einschätzt. Alles, was auf den Menschen zukommt, birgt latent für den Blinden einen Schrecken in sich und wenn es nicht der Schreck ist, ist es die Überraschung dessen, was eintrifft, auf das er immer gefasst sein muss, ob es nun angenehm oder unangenehm ist.

Alle sinnliche Wahrnehmung mündet zunächst in Erwartung. Notwendigerweise und geradezu automatisch bildet der Blinde, und noch viel mehr als der Sehende, Bilder aus Imaginationen von all dem, was ihn erwarten könnte, was auf ihn zukommt. Umgekehrt dazu: Eine jede Begegnung mit einem Gegenstand wird zu einer aufgewendeten Zeit, setzt sich ein jedes der begegnenden Dinge im Kopf aus Eigenschaften erst zu einem Bild zusammen. Zugleich: jede Eigenschaft ruft Imaginationen und Projektionen hervor. Das entstehende Bild nimmt all diese Bilder in die Imagination des Gegenstandes mitherein.

Alles, worauf der Blinde triff, begegnet ihm in den seltensten Fällen als Begriff, zeigt sich ihm als Bedeutung, es sei denn es stößt ihm zu, fällt ihm zu als Unfall. Daher verwandelt der Blinde alles Gegenständliche zuallererst in Zeit, seine Zeit, die Zeit, die ihm das erklärend eröffnet, was das ist, was da ist. Der Blinde erarbeitet sich den Begriff des Gegen-Standes, dessen was ihm entgegen steht, sei es Ding sei es Mensch oder Natur in den Eigenschaften, die er von ihm berührt. Ungesehen, unbegriffen ist der Gegenstand in diesem Moment reduziert auf die vollkommen von ihm losgelöste Eigenschaft, die aber niemals ganz vom Gegenstand losgelöst ist, deren Trägerschaft er nicht ablegen kann. Auf der anderen Seite werden all die Bilder, die in der Ungewissheit und im Schrecken auftauchen, zu einem Reservoir der Bild- und Denkmöglichkeiten, die in der Erzählung sich ihre Wirklichkeit suchen oder sie verwerfen. Eine jede Eigenschaft des Gegenstandes führt so immer Projektionen in den Bildern mit sich, die sich für den Blinden in den Begriff des Gegenstandes ebenso eingraben wie Material oder Form.

Der Blinde, aus reiner Überlebensnotwendigkeit, muss in Zeit die Welt sich erkennen. Die Breite, in der er seine gesamten übrigen Sinne hierfür einsetzt, blendet der Begriff, der aus der ausschließenden Wahrnehmung der Sehenden kommt, aus. Was da aber ausgeblendet ist, ist durchaus nicht verloren: ist in unseren Körpern auf Dauer abgelegt, und kommt, ohne dass wir darüber Gewalt hätten, in dem, was Proust als mémoire involontaire bezeichnet, in uns und unserem Körpergedächtnis zurück.

„In Prousts Madeleine-Erlebnis wird die Zeit überwunden. Meine Madeleine war mein Hiroshige. Es ist eine Reise in mein Gedächtnis, in mein Gedächtnis aber auch ins kollektive Gedächtnis.“

Von Taktilität gehe ihre Kunst aus. „Die meisten Menschen mit guten Augen sind blind, sie sehen nichts. Sie sehen nur Bedeutungen, sehen nur Begriffe. Sie sehen nicht, was wirklich ist. Aber was ist wirklich zu sehen. Es ist schwer. Um sehen zu lernen, müssen sie erst einmal blind werden“, sagt die Malerin.

Wir sitzen im Café im Haus am Waldsee und die japanische Malerin Leiko Ikemura spricht über die Art ihrer Arbeit, spricht über ihre Ausstellung in der Galerie in Zehlendorf im August 2015, spricht über das Kernstück dieser kurzen Ausstellung, die nur eine Art Vorlauf einer größeren Ausstellung im Haus im Februar abgeben soll.

Im Mittelpunkt der Ausstellung im August steht der Dialog zwischen ihren Arbeiten und Holzschnitten von Utagawa Hiroshige und die Art, wie sie ihre eigenen Pastelle aus eben einem solchen Dialog mit dem Künstler aus dem 18. Jahrhundert entstehen hatte lassen.

„Es gibt eine Vorlage, was ich normalerweise nicht mache. […] Das heißt, es gibt ein visuelles Reizmittel, wonach man geht. Es ist so ein bisschen indirekt. Direkt wäre, so zum Beispiel wenn Cezanne oder solche Leute direkt vor Blumen oder einer Landschaft malen. So ist es nicht, weil ich genau das thematisiere, dass das, was wir sehen, wir nicht wirklich sehen. Also ich misstraue dem, was ich sehe. Dieser Baum, dieser große Baum, er ist wunderschön. Was sehe ich, das ich weiß es nicht. Ich muss mich zuerst blind machen und dann aus mir heraus. […] Das was ich aufnehme, muss zuerst durch mich durchgehen und dann erst arbeite ich. Und zwar ist das eine Art Filtration durch mich, das heißt durch meinen Körper. Das Visuelle ist ein Ursprung und am Ende, das mag ja sein. Aber dieser Prozess ist wie ein äußeres Element in mich reinkommt und dann von mir in etwas anderes transformiert wird. In diesem Fall ist Hiroshige […] eine Vorlage. Ich habe diese Vorlage und sehe diese Vorlage wie eine Landschaft und nicht weil es eine Landschaft ist, sondern als Element das ich vor mir habe und diesem visuellen Element gehe ich nach. Ich gehe ihm nach, ich sage nicht ich kopiere. Dieses ich-gehe-nach ist etwas nur Physisches, etwas Taktiles, etwas mit Pastell, Pigment. Ich arbeite aber so, dass ich nicht wiedergebe was ich sehe, ich sehe eher Farbflecken, Farbflecken und ein paar Linien. Ein Pastell ist noch nicht einmal wie Bleistift, mit dem Pastell hast du keine Distanz, du bist direkt in Kontakt mit dem Papier: Papier Finger. Und damit gehe ich dann mit dem Papier sehr taktil um. […] Ich gehe den visuellen Elementen taktil nach, es ist wie ein Hauch, es ist nicht viel da auf dem Papier zu sehen. Es sind hauptsächlich Farbflecken. Du erkennst natürlich etwas Figurenartiges, etwas Bergartiges, etwas Flussartiges, aber das sind nur Striche: manchmal mit dem Finger, manchmal mit der Kante des Pastellstiftes gezogen. Es ist immer aber nur wenig Distanz zwischen mir, meinem Körper, meiner Hand und dem Papier. Das Ganze ist eigentlich eine kleine Skizze. Auch die Bilderformate sind klein. […] Landschaft denkt man immer nach außen, und das ist ein nach innen gerichteter Blick, der mit Erinnerung zu tun hat. Das heißt, diese Vorlage bringt eine bestimmte Erinnerungsstufe hervor. Ich karikiere sie nicht, ich male nicht einen Baum nach, aber einen Baum, den Hiroshige empfunden hat, möchte ich nachempfinden. […] Hiroshige hat sehr viele Naturphänomene thematisiert, hat keine Naturdarstellungen gemalt sondern eher Naturphänomene kreiert: Regen und Wind etwa.“

Leiko Ikemura setzt das Bild ein, um durch es hindurch zur Erinnerung zu kommen: Wie ein Schleier, durch den hindurch Spuren durchschimmern, die eher gespürt werden wollen, die ein taktiles Sehen hervorrufen, ein Sehen, das vielleicht mehr mit Berührung zu tun hat als mit der optischen Distanz eines Fernsinnes. Das Bild schiebt sich vor den Weg zum Bild, erinnert aber zugleich an ihn. In einer unaufdringlichen Überblendung wechselt dann aber das Wahrnehmungsregister vom Visuellen in die spürende Haut, einem Musikstück nicht unähnlich, das unmerklich in eine andere Tonart transponiert wird. Die Taktilität durchdringt das Visuelle ohne es zu usurpieren. Schiebt sich in seiner Unmittelbarkeit vor es; das, was das Bild ausgrenzt holt es wieder ein, nicht wie etwas Verdrängtes, eher wie etwas zur Seite Geschobenes, das eigentlich gleichberechtigt neben ihm existiert, etwas, das immer schon wie die Eindrücke anderer Sinne existiert, aber vom Zentralsinn ausgeblendet wird, etwas, das aber erinnert werden kann.

Das Bild schiebt sich einerseits vor Dinge und die von ihnen ausgehenden Geschehnisse, andererseits hält es die Spuren der Dinge und ihrer Erscheinungen und Vorkommnisse in sich versammelt, bewahrt sie.

Wahrnehmung wird vom Blinden als Ausgrenzung und Ausschluss von Bildern begreifbar. Der Blinde begreift diesen Ausschluss von der Welt des Bildes als Einschränkung von Möglichkeiten. Unterschwellig schwingen so aber auch in einem Souterrain der Bilder (Dietmar Kamper) eine Unmenge von Bildern mit, die dem Blinden in seiner Erwartung, in Bildern von Erwartungen und deren Möglichkeiten präsent sind. Dies alles deutet eine ganz andere Art von Bildern an, die vom Visuellen nicht mehr verdeckt werden würden. Ein Plädoyer für die Blindheit bedeutete, akzeptieren, dass auch die Eindrücke der anderen Sinne Bilder bergen, die aufgespürt werden wollen, Bilder, die innere Bilder sind: Eindrücke, die unser Gehirn als Bilder ablegt, vielleicht auch codiert, die aber nach Sprache suchen, einer Sprache, die über den Begriff hinausgeht, die zu allen Seiten um ihn herum sich ansiedelt. Die im Bild hervorgerufene Erinnerung holt so einerseits die Erinnerung als Bild hervor, andererseits die Erinnerung an die Zeit, in der das Bild verschwunden war, die Zeit seines Vergessens. Indem die Malerin das im Holzschnitt Gesehene gleichsam zu Malerei nachtastet, ertastet sie auch ihre Erinnerung, ertastet sie sich ihr Gedächtnis.

Die Pluralität des Gedächtnisses
Was da mit der Imagination, die die Bildbeschreibungen der Assistentin auslösen, kommt, sind eben nicht einzig visuelle Bilder, es sind Bilder, die von anderen Sinnen hervorgerufen werden, Bilder, die gespürt werden, die sich aus dem Taktilen ergeben, die empfunden werden.

In der Doppelausstellung von Leiko Ikemura mit einigen der Holzschnitte des japanischen Künstlers Utagawa Hiroshige stellt sich nicht das Original und seine Verdopplung dar, eher ist es der Blick auf ein einzelnes Werk und die Empfindung, die bei solcher Betrachtung empfunden wird und sich in Malerei ausdrückt.

„Ein jedes Körperteil hat sein eigenes Gedächtnis“, so die Malerin.

Hat aber ein jedes Körperteil sein eigenes Gedächtnis, so versammelt sich im Menschen eine Vielzahl von Gedächtnissen. In einem jeden Moment der Erfahrung riefen Momente des Erfahrenen Organe auf, um sich in ihnen erinnert wiederzufinden, um an ihnen ihre Erscheinung zu reflektieren, ihre Veränderungen, ihre Geschichte. Die Geschichte des einzelnen Menschen und seiner Biographie zeigte sich so als eine gebrochene, erzählt von einem jeden Organ in seiner eigenen Weise, in all seiner jeweiligen Widersprüchlichkeit, darin liegend die Widersprüchlichkeit des Erfahrenden, dessen, was als Selbst bezeichnet würde.

Aber vielleicht sind es nicht nur die Organe, die ihre Geschichte haben, vielleicht sind es auch die verschiedenen Sinneseindrücke, die ganz allein für sich und um sich herum, und wie ein in der Erde verborgenes Stück Fragment, eine zu bergende Welt, eine zu bergende Zeit bei sich halten. Damit brächten die Gedächtnisse, und immer im Plural sie, mit sich nicht nur ihr Gedächtnis hervor, hielten und behielten sie ein solches und zugleich ließe sich die Geschichte dieser Erinnerung erhalten, ihre ganz eigene Erzählung, in die das Erinnerte, das jeweilige Gedächtnis, eingewoben ist.

Von der Figur
Dann andererseits tatsächlich dargestellte Figuren. Alles sei in Bewegung, so die Assistentin, die dem blinden Autor die Bilder beschreibt. Alles bewege sich in eine Richtung, werde getrieben von außen in gewisser Weise, von etwas wie Wind, der, Mensch Tier wie Pflanze, vor allem aber Bäume, nach sich ausrichte, sie, von einer Kraft aus gedacht, gleichmache.

Die Anwesenheit von Mensch und Menschen allein, um etwas darzustellen, das in der Natur wirksam ist. Der Zusammenhang von Ursache und Wirkung und seine Logik wird dadurch umgekehrt, dass jede Art der Bewegung Bewegtheit in der Natur selbst darstellen soll: Natur oder genauer, ihre Erscheinungen sind nur deshalb da, um ein in der Natur wirksames Prinzip, eine Kraft aufzeigen zu können. Das Sehen, das die Malerei dazu bringen will, durch die Erblindung über das bloße Sehen von Bedeutungen hinauszukommen.

Was nie geschrieben wurde, lesen heißt es bei Hugo von Hofmannsthal und Walter Benjamin zitiert diese Textstelle aus Der Tor und der Tod in seinem Passagenwerk an der Stelle, wo er den Begriff des Flaneurs einführt. Was aber da zu sehen und in gewisser Weise von Leiko Ikemura in einem neuen Bild aufgelesen wird, ist das sich Entfalten einer Spur der Inschrift, die sich bei ihrer Betrachtung von Utagawa Hiroshiges Holzschnitten in ihrem eigenen Körper eingrub, die in ihrem Körper aber sich auflud um in einem kreativen Prozess sich als der Ausdruck der Empfindung, die ihre Betrachtung in ihr auslöste zu entfalten: was nicht gesehen wurde malen, um es so zum Sehen zu bringen.

Der Rand des Malgrundes, der immer wieder auftaucht, der die Dinge und Menschen ihres Kontextes beraubt, der sich an dessen Stelle setzt, sie in gewisser Weise geschichtslos macht, sie als reine Erscheinung darstellt, sie in gewisser Weise ins Irreale stößt. Vielleicht sind dies die Momente, an denen sich das Gedächtnis seiner selbst erinnert, Momente, die Bestimmtes und, herausgelöst aus aller Erscheinungsbedingtheit, das Bild in begrifflicher Reinheit darzustellen sucht. Vielleicht ist es aber auch das Bestehen auf die Eigenständigkeit der Dinge und Menschen, die von ihrem Begriff nicht gefasst werden können, wie die Künstlerin es selbst im Gespräch formulierte: „Der Sehende sieht nur Bedeutungen, nur Begriffe.“

Flüchtig der Strich, der eher wie ein Hauch der Berührung der Finger leichte, fast zum Verschwinden dünne Spuren hinterlässt, Spuren wie Absonderungen des Denkens, durchsichtig wie der Schleier der Erinnerung, der nicht einfach sich an anderes anschließt, der eine Gleichzeitigkeit ermöglicht, ein Vergessen, das der Erinnerung immer ganz nahe ist, gleichzeitig zu ihr existiert.

Prousts unwillkürliche Erinnerung stößt ja im Geschmack der Madeleine eine ganze Welt der Vergangenheit auf, erinnert nicht allein ein Stück Kuchen. Das Stück Kuchen öffnet ihm nur die Tür. Leiko Ikemuras Erinnerung ist ein eher isoliertes Erinnern an Dinge, deren Kontext bewusst ausgeklammert ist, indem der Grund selbst auftaucht, um die Rolle des Kontextes zu übernehmen. Daher begibt sie sich wie Proust auf die Spur des Gedächtnisses, geht aber, ausgehend von ihrer Kunst der Malerei, im Gegensatz zur Literatur, von einer anderen Seite aus an das Gedächtnis heran. Während Proust zu Beginn seiner Recherche die Tür aufstößt, die ihm die Welt eröffnet, um sie im weiteren Verlauf des Romans sich entfalten zu lassen, sind Utagawa Hiroshiges Holzschnitte die Tür, die Leiko Ikemura ihrer Malerei öffnet, um sie von ihrem Gespür her sich entfalten zu lassen. Was also erinnert wird, ist nicht die Fortsetzung der Welt von Utagawa Hiroshige und ihrer Geschehnisse, es ist die Spürbarkeit, das Empfinden, das die Malerin bei der Betrachtung der Holzschnitte befällt.

Die Tür, die sich für Leiko Ikemura öffnet ist nicht die Erinnerung an Utagawa Hiroshiges Welt, es ist die Erinnerung an ihre eigene Welt, ist das Erinnern ihres Gedächtnisses, genauer: es ist die Erinnerung an die Empfindungen ihrer eigenen Vergangenheit, der Vergangenheit in welcher Utagawa Hiroshige eine bedeutende Rolle spielte, es ist die Erinnerung nicht an Landschaft sondern an die Darstellung von Landschaft. Die Tür, die aufgestoßen wurde, öffnet sich nicht allein zu Vergangenheit, es ist nicht die Tür zur Fortführung von Zeit, zur Erzählung wie in Prousts Roman, es ist eher der Weg hinein in einen Raum als Innenseite von Zeit, der den Zeitraum durchaus in Frage stellt, indem er Zeit untergräbt, vom Gedächtnis her untergräbt.

Leiko Ikemura bringt in ihrer Malerei damit auch die Darstellung des Ursprungs ihrer Kunst zum Ausdruck, indem sie sie als Gedächtniskunst erscheinen lässt, einen Schritt gleichsam zurück, um das Entstehen des Bildes in ihr zu beobachten, eines Bildes, das zu seiner Erscheinung ihre eigene Erblindung erforderte, wie sie es selbst beschrieben hatte.

Wie erzählen, wie das Beschriebene sich aus dem Bild herauslöst, wie es erneut zum Bild wird. Die Ausstellung zeigt in einigen Arbeiten das Gesehene und das Gespürte, zeigt das, was zu sehen und das, was erblindet da heraus zu spüren ist. Sie könne das nur verstehen, weil sie vorher die Bilder Utagawa Hiroshiges gesehen habe, so die Assistentin beim Besuch der Ausstellung, die dem Blinden sowohl die Holzschnitte Utagawa Hiroshiges beschreibt wie auch die Bilder Leiko Ikemuras.

„Das Format ist so klein, da nimmt man nichts anderes auf. Das Format konzentriert.“ Seine Erblindung durch Retinitis pigmentosa hatte mit einer solchen Einschränkung begonnen, das Ausblenden der Weite, des Kontextes, der Komplexität. Der optische Horizont war auf die Größe einer kleinen Münze zusammengeschrumpft. Dinge, die begegneten, hatten keine Zeit mehr zu erscheinen, sie erschienen von einem Moment auf den anderen, die Zeit ihrer Entwicklung, ihres Näherkommens stürzte in ihre bloße Anwesenheit. Umgekehrt gab es keine Zeit mehr, um zu entkommen, es gab keine Wege mehr, nur noch den Moment des Standes, des Zustandes: der sah sich wiederum so nah bei sich, dass es genau aus diesem Grund keine Zeit mehr gab. Der Blinde musste die Bilder in all ihrer Intensität in sich aufnehmen, sie in sich eindrücken lassen, um der einzige Weg zu sein, der den Bildern verblieben war. Er musste, erblindet wie er war, diese Bilder selbst werden, musste der Weg heraus und hinein in seinen Körper werden.Damit aber musste der Blinde die Zeit selbst werden, die Zeit, in der die Dinge in ihm sich in Welt entfalten.

Die Frage nach Sein und Haben würde so sich an der Schnittstelle zwischen Vorlage, Erinnerung und Malprozess vollkommen neu stellen: Zwischen der beobachteten Vorlage und der Beobachtung der Empfindung im Moment, in welchem die Malerin diese zu Papier brachte, schien ihm die Erfassbarkeit der Trennung von gelebter Eigenzeit und Erinnerung ästhetisch gelöst, schien beides künstlerisch voneinander trennbar, schien einen Punkt der Wiederholung zu thematisieren, einer Wiederholung, die alles in einem ganz antiken Sinne der Wiederholung berührte, sich als diese darstellte.

„Wenn man auf dieses Viereck konzentriert ist, nimmt man nichts anderes auf, man ist ganz konzentriert auf dieses Viereck. Es ist eine Welt, in die kein anderer Einfluss reinkommt. Man ist direkt, unmittelbar: Finger Körper und damit verbundene Gedanken. Strom und Gedächtnis.“

Aber dann Wiederholung vielleicht doch nicht im antiken Sinne und eher im Sinne Nietzsches und seiner ewigen Wiederkunft, eine Ansicht, die man fassen könnte als: dass alles schon einmal da war, jeder Augenblick aber dennoch immer vollkommen neu ist.

Die Suche nach dem Bild: Leiko Ikemura geht in Utagawa Hiroshiges Welt hinein, sie interpretiert sie nicht wie einen Gegenstand der Natur, etwa einen Vogel. Utagawa Hiroshiges Bild ist eine Welt, ist vermittelt, ist überarbeitet, und Leiko Ikemura macht sich mit ihrer Malerei auf den Weg hinein in diese Welt. Es ist nicht Landschaft, was sie malt, es ist ein Aufspüren von Empfinden von Landschaft. Sie nimmt die Spuren eines Holzschnitzers auf, in sich auf, lässt die Holzschnitte in sich wirken, nimmt nicht ihre Eindrücke von Natur auf, sondern die Spuren, die Natur im Sehen eines Holzschnitzers hinterlassen haben.

Sie schreibt diese Spuren fort. Ihre Empfindung nimmt das Gesehene auf, und das Empfundene schreibt sich ein, und aus den Bewegungen, die die Empfindung hervorrufen, lässt sich das Empfundene schauen.

Eindruck, einschneidende Erfahrung, Einschneiden des erfahrenen Eindrucks in Holz. Dagegen die Unmittelbarkeit des Empfindens des Bildes, die Unmittelbarkeit von Gedächtnis, Körper, Farbe und Papier.

Aber worauf stützt sich das Bild, woher kommt es. Bevor das Bild sich gefunden hätte, würde der Pinselstrich so zur Geste, die aus dem Körper spricht, die sich die Bewegung ihres Vollzuges sucht, sie veranlasst.

Bild und Spur
Ein Blinder sucht dem Prozess der Bildwerdung nachzuspüren. Der Körper der Malerin übersetzt die Betrachtung in Gesten, die nicht ein Bild nachzeichnen, die Bewegungen ihrer Erschaffung, Übersetzung nachahmen, und aus diesem körperlichen Nachtasten eines Bildes und den Spuren seiner Entstehung entsteht ein Bild, als Nachspüren des Nachtastens einer Spur, die nicht einfach imitiert, die nachgeht, einem Bild nachgeht. Aber was geht da wem nach: ist es tatsächlich der optische Eindruck, der, eingeschrieben in den Körper, seine erneute Umsetzung im Körper sucht, oder ist es nicht vielmehr die Bewegung, deren Spuren im Körper sich wiederfinden, sich gleichsam erinnern, sich an sich selbst erinnern. Ist es vielleicht der Blick der Künstlerin, der die Linien des Bildes nachempfindet, die diese Linien in ihrem Körper spürt, die Gesten spürt, die unter den Pastellen Spuren hinterlassen, die dann als Bilder für andere sichtbar würden.

Ist es also der Körper, der das Gesehene in seine eigenen Gesten übersetzt, das Bild in sich sich einschreiben lässt. Ist das Bild damit die Übersetzung in Schwingungen und was da schwingt hinterlässt Spuren, die sich aufzeichnen lassen. Das Bild ist die Sammlung der Spuren der Empfindung, die Spuren der empfundenen Betrachtung.

In Anlehnung an Benjamin könnte von einer Mitteilung durch das Bild gesprochen werden im Gegensatz zur Mitteilung im Bild, als einer nicht einfach beschreibbaren Durchdeklinierung von Eigenschaften. Im Gegensatz zur Mitteilung durch das Bild ist mit der Mitteilung im Bild eine Ergriffenheit gemeint, eine Art der Totalität, die den ganzen Körper packt. Zwei Arten der Aufnahme der Empfindung und ihrer künstlerischen Verarbeitung, ihres Ausdrucks: die präzise Ausleuchtung der Landschaft durch den Blick und seine Übersetzung in einzelne Bildeinheiten, die im Holzschnitt aufgegriffen werden, im Druck ver- und aufgearbeitet werden, andererseits und im krassen Gegensatz dazu, das Empfinden des Bildes, das sich als Ganzes in den Körper einschreibt, um empfunden im Körper wiedergefunden zu werden, erinnert zu werden. Einerseits das Sujet vor Augen, das ästhetisch analysiert wird, andererseits das Gesehene, das sich im Körper eingeschrieben hat, dessen Spuren sich im Körper ein neues Bild suchen, angeregt und aufgeladen von der Empfindung, die das Bild und sein Anblick ausgelöst hat. Zum Dritten aber die Beobachtung des Prozesses der Bildwerdung im Gehirn eines Blinden, in dem Sprache und Begriff Bilder evozieren, evozieren als Aufrufen, als Ansprechen. Die Beobachtung der Ergriffenheit der beobachtenden Malerin, ihre erforderte phänomenologische Genauigkeit.

Was wirkt also im Blick der Malerin bei ihrer Betrachtung, ist es das Bild, das sich seinen körperlichen Ausdruck in ihr sucht und in ihrem Malen findet. Was gibt sie wieder und vor allem da, wo sie konstatiert, dass ihr Herangehen das Gegenteil dessen ist, was Utagawa Hiroshige tut. Ist aber nicht etwas in der Darstellung der Bewegung durch das Bild, das sich der Habhaftwerdung durch den Begriff entzieht. In der Präzision des schwärmenden Gewimmels liegt etwas, das eine noch so genaue Bildbeschreibung nicht zu fassen vermag. Der Begriff verweigert die Fassung oder ist es das Geschehen, das sich seiner Feststellung entzieht. Indem sie etwas wie das Gewimmel von Menschen darstellt, eine Pluralität, die die Singularität des Begriffs nicht zu fassen vemag, beharrt das Bild dem Begriff gegenüber auf seine Undarstellbarkeit, beharrt darauf, dass es über den Begriff hinausgeht. Nicht einfach Figuren, die beschrieben werden könnten, eher wie hingeschüttet, Ausdruck von einer Gegebenheit, einem Objekt, das vervielfacht nicht abgebildet wird, das eher in seinem Auftauchen als Schwarm erfasst wird, aufgefasst wird, an die erste Erscheinung der Mädchen in Prousts Roman in Balbec erinnernd.

Der Übergang vom präzisen Holzschneiden zur Geste des Malens scheint der Versuch, weitest möglich die Vermittlung durch das Material auszuklammern, das Material, das seine eigenen Gesetzmäßigkeiten dem Künstler aufzwingt, das zuallererst sich vermittelt und den Umgang mit ihm. Leiko Ikemura legt Wert auf die Feststellung, dass zwischen ihrem Körper und dem Papier nichts liegt, letztlich dass Körper und Ausdrucksmittel und Dargestelltes weitestgehend eins werden, dass ihre inneren Bilder keiner Vermittlung bedürfen.

In den Blinden schreibt sich die Beschreibung ein. Diese Inschrift, ein Ansprechen ein Anrühren, bringt spürbar ins Schwingen, wovon das Bild spricht. Spürbar wird seine Stimme, die Stimme des Bildes. Das Vorbild im ganz wörtlichen Sinn, die Vorlage von Utagawa Hiroshige: Sie wird gesehen, das Gesehene schreibt sich in die betrachtende Malerin ein, diese Inschrift wird von ihr empfunden, das Empfundene ist die eigentliche Vorlage des dann zu malenden, die Empfindung, die bei der Betrachtung empfunden wird, ist das Vorbild.

Die Blindheit als Voraussetzung zu sehen. Die Blindheit als Aufspüren des Bildes. Das Bild, das empfangen werden muss. Die Blindheit als Sehen, die Ausblendung, um dem Sehen als Blendung zu entgehen. Der Autor, selbst erblindet, spricht nicht für Geburtsblinde. Er hat einst gesehen, er hat dereinst Farben gesehen. Für ihn ist alles Sprechen über Malerei immer Erinnerung, eine Erinnerung aber, die durch die Erblindung sehr intensiv mit der Wahrnehmung seiner übrigen Sinne verquickt ist, von ihnen gar nicht getrennt werden kann. Farbe wird auf dem Weg der Erzählung zu ihrem Gespür, wird gehört, wird gefühlt, ja wird geschmeckt und Farbe erhält einen Geruch, einen Geschmack.

Die Malerei als Skizze des Ausspruches, der Erzählung, eine Skizze, die erst im Verlauf der Erzählung zu sich findet. In der Erzählung werden alle ihre Faktoren zu Zeit, werden Empfindung und Gefühle zu Zeit, in der alle Faktoren von Farbe, Rhythmus und Gehalt die Dreidimensionalität ausschreiten, die ihre Zweidimensionalität als Fläche umriss. Das Bild schlägt den Raum der Bewegung vor, die Erzählung sucht sie auszufüllen, das Bild gibt der Erzählung in und innerhalb ihres Rahmens ein Ende. Die Erzählung gibt der zweidimensionalen Fläche Fülle und Volumen.

Für den Blinden besteht die Imagination in der eben imaginären Vervollständigung der unter seinen Fingern zerrissenen Partikeln des Bildes, und ein jedes Ding, ein jedes Wesen zerreißt unter ihnen. Zum vollständigen Bild trägt ebenso die Imaginierung des Erzählten bei, zum inneren Bild einer im Begriff manifest werdenden Illusion. Die Malerin als Medium des Empfangens des Geschauten. Der Finger als Offenbarung solcherart Gesehenen. Die Sprache als zu Sich-Kommen der Imagination.

Das Ansprechen als ein Schlüssel. Was wird angesprochen. Wodurch wird angesprochen: durch die Figur, die Farbe, die Konstellation. Wie findet die Übersetzung, die Vermittlung, die Übertragung statt. Wie wird dem Blinden das Bild vermittelt. Welche Rolle spielt das Gespür, das Gefühl, was spricht solches an. Der Bruch zwischen der Vorlage, die gesehen, aber nicht abgezeichnet. Was bleibt im Sinn bestehen, was gibt das Gedächtnis wieder.

„Nochmals: wir sehen das, was wir nicht wirklich sehen. Ich misstraue dem, was ich sehe. Was sehe ich eigentlich? Ich weiß es nicht. Ich muss mich zuerst blind machen und dann aus mir heraus. […] Das was ich aufnehme, muss zuerst durch mich durchgehen.“

Für den Blinden freilich stellt sich die Frage, was trägt die Blindwerdung der Sehenden zur Wahrnehmung seiner Bilder bei, wie verändert sie sie. Das Medium der Bilder des Blinden ist die Sprache. Wie kann sie über die Erzählung von den Bildern zur Magie der Bilder kommen, oder andersherum: wie kann die Magie der Sprache eine Magie der Bilder imaginieren, die das aufgreift, wovon die Bilder sprechen, ohne die Art ihres Sprechens, ihres Stiles zu verraten.

Hin zu spekulativer Imagination
Die Malerei Leiko Ikemuras, die Art, wie sie zu ihren Bildern kommt, gibt dem Blinden vielleicht einige Wegmarken, die ihn auch zur Bildproduktion seiner Bilder hinführen helfen. Leiko Ikemura kommt etwa zu ihrem Bild, indem sie ein Bild betrachtet, um es malerisch wiederzugeben. Das Bild des Blinden ist das Produkt einer Erzählung, die ihm sein Körper als Inschrift einschreibt. Das zu malende Bild muss durch den Körper der Malerin hindurchgehen und wird in einem Prozess durch ihren Körper transformiert.

„In der Vorlage sehe ich es wie eine Landschaft, nicht weil es eine Landschaft ist, sondern ein Bildelement, dem ich nachgehe. Ich kopiere nicht, ich gehe nach. Dieses Nachgehen ist etwas allein Physisches, etwas Taktiles. Ich gebe nicht wieder, was ich sehe. Ich sehe nur Farbflecken, Farblinien, Pastell, Pigment. Pastell ist nicht wie Bleistift, da hast du keine Distanz zum Papier, du bist direkt mit den Fingern auf dem Papier. […] Ich sehe meine Farbflecken, Farblinien.“ Sie kopiere Utagawa Hiroshige nicht, sie suche die Naturphänomene, die er darstellt zu empfinden und aus ihrer Empfindung sie wiederzugeben, ihre Empfindung wiederzugeben. Sie muss blind werden, um diese Empfindung zu sehen.

Was empfindet der Blinde aber, der vor den Bildern die Bilder beschrieben bekommt, dessen geistiges Auge sich Wort um Wort, Gestalt um Gestalt um Gestalt mit Momenten des Bildes anfüllt, um etwas wie es vor sich zu haben. Das Taktile wird hier in der Beschreibung zu einem Erfassen auch der Malstruktur, in die er sich hineinversetzt, und die tatsächliche Berührung der mehr oder minder hervortretenden Pinselstriche werden gespürt, ohne berührt worden zu sein. Das in der Beschreibung reproduzierte Bild wird damit zum Model blinder Reportage, dem Rücktrag einer taktilen Erfahrung von Erspürtem, das in Sprache ausgären muss, um gereift die Inschriften der Empfindung in ihrer Bildwerdung imaginativ nachzuzeichnen.

„Hiroshige als Holzschnitzer arbeitete unglaublich präzis, genau das Gegenteil von meinem Arbeiten. […] Ich nehme zwar auch Motive auf, gehe aber dem Taktilen nach. Ich komponiere nicht, ich konstruiere nicht. Bin im Bild Reisende.“

Im Gegensatz dazu Leiko Ikemuras Versuch möglichst ohne Vermittlung zu arbeiten, den Körper den Finger den Pastellton und das Papier eins werden zu lassen. Es gibt immer nur zwei Arten von Bildern: die Bilder, von denen wir sprechen und sprechen können oder könnten, und die Bilder, die sich in uns unaussprechlich eingraben, eingegraben haben. Letztere sind es freilich, die andere unaussprechliche Bilder aufrufen, sie in uns auftauchen lassen, sie mit den aussprechlichen verknüpfen lassen, die alles Aussprechliche mit dem Unaussprechlichen verknüpfen.

Das Gespräch eines Blinden mit einer Malerin. Der Blinde, der einstmals gesehen hat, der erblindet ist und damit keinerlei visuelle Bilder in sein Sehen hinzukommen sieht. Die Malerin, die blind werden will, um sehen zu lernen. Welche Art der Bilder werden bei diesem Sehenlernen ausgeklammert, welche Art von Bildern werden gesucht.

Die Bilder, mit denen die Sehenden tagtäglich überschwemmt werden, bilden ein Reservoir, hinter denen das Unaussprechliche sich versteckt, hinter denen es lauert. Es ist aber auch ein Reservoir von Bildern, die das Unaussprechliche absorbiert, sublimiert.

Gedächtnis und Erinnern
Bevor Proust zu der berühmt gewordenen Passage seiner Recherche kommt, in welchem ihn der Geschmack einer in Tee getauchten Madeleine an eine bestimmte Zeit seines Lebens erinnert, räsoniert er über den keltischen Aberglauben: Die Seele eines lieben Verstorbenen zöge sich in ein Ding, eine Pflanze oder einen Baum zurück, um bei Zeiten den vorrübergehenden Überlebenden anzusprechen oder vielleicht zu befallen. Vielleicht ist diese Lektüre ein Moment, in welchem Leiko Ikemura ihre Bilder findet, in welchem Personen etwa aus einer Landschaft Utagawa Hiroshiges heraus sie ansprechen, sich aus ihr lösen, um in ihrem eigenen Bilde ihr eigenes Wesen wiederzufinden.

Während aber Proust dem Zufall es überlassen sieht, dass Menschen an den jeweiligen Orten vorbeikommen, an denen in Dingen einwohnend die Seelen ihrer Liebsten auf sie warten, lässt Leiko Ikemura durch Bilder Utagawa Hiroshiges Bilder ihrer Erinnerung zu sich kommen, um sie in und durch ihren Körper anzureichern, um sie den Empfindungen ihrer Betrachtung in ihrer Malerei wieder zurückzugeben.

Wenn ein jedes Körperteil sein eigenes Gedächtnis hat, was ist dann aber das Organ, das die Erzählung des Geschehens erzählt. Es kann nur das Bild sein, aufgenommen im Gespür, vermittelt in der Stimme, in der der Körper als die Idee von etwas zusammenkommt, dem es die Blindheit ermöglicht, Idee bleiben zu dürfen, ohne sich im Konkreten zu verraten.

Detaillierte Beschreibung eines Holzschnittes. Beschreibung der malerischen Erinnerung, diese erkannt am Aufbau der Bilder. Nur annähernd sind sie einander ähnlich, zumindest entnimmt der Blinde dies der Erzählung, den Beschreibungen der Assistentin. Allererste Frage, woher die Ähnlichkeit erkannt wurde, ob sie und worin sie bestehe. Aber vielleicht zuerst: worin besteht der Unterschied. Ist die Lücke, die zwischen beiden Darstellungen und ihrer Form klafft, der Erinnerung geschuldet oder der Darstellung der Erinnerung. Geht die Malerin in der Darstellung ihrer Erinnerung auf andere Sinne zurück, deren Darstellung sie verfolgt, zulässt, nachgibt.

Und dann geht die Malerin näher ran, die Erinnerung vergrößert das Betrachtete, wiederholt das im Gedächtnis gesehene, lässt die Ähren in den Hintergrund treten, vergrößert die Ruderin, holt sie in den Blick der Betrachtung. Aber was geschieht da im Kontext der Erspürung des Betrachteten, die ja nicht näher an ihr Objekt herantritt, ist es nicht erneut die Proustsche Erinnerungstechnik, die ja auch immer wieder wiederholt, wieder holt, die in ihren Erinnerungen immer präziser an die Gegenstände der Erzählung herantritt. Während sich aber bei Proust auf diese Weise eine ganz andere Bewegung, eine gesellschaftliche nämlich, zu entfalten beginnt, der Zerfall einer ganzen Epoche, kommt in Leiko Ikemuras Bild die Bewegung zum Stillstand, gewinnt eine Präzisierung der Betrachtung, um weg von der eigentlichen Natur zum Menschen, zur Frau zu kommen, die Trägerin einer Bewegung ist, die im Bild festgehalten als Stillstellung und in dieser Stillstellung als Individuum, das der Natur und der in sie hineinverwurzelten Betrachtung ihrer Gestalt in diese Natur das Singuläre einer Frau heraustreten lässt. Die Relationen bleiben dieselben, die Proportionen aber verschieben sich, der Mensch tritt innerhalb der Natur in den Vordergrund.

Ein anderes Bild: du erkennst kein Gesicht aber du denkst, dass da ein Gesicht sein muss, weil du die Haare erkennst. Halbprofil nach links schauend, das Kleid ist verwischt und vermischt sich mit dem Hintergrund.

Leiko Ikemura erhält die Eigenschaften wie Farben wie Konturen, verliert aber teilweise die Substanzen, an denen die Eigenschaften zu Tage treten. Nicht dass das Gedächtnis diese herauskondensierte, eher ist es die Empfindung, die sich über die Präzision der Figuren und Formen legt, oder genauer: Spuren, die in den Figuren und Formen mitschwingen, die sich im Betrachter manifestieren und die sie zentral zu Bild kommen lässt.

Es ist vielleicht die Bewegung, in welcher sich das Gesehene in der Empfindung, im Spüren niederschlägt, um wie in einer lichtempfindlichen Platte aufgegriffen werden zu können. Die Bewegung, die in den Bildern von Utagawa Hiroshige wie von Leiko Ikemura auch als Naturvorgang immer wieder beobachtet wird, in seiner Flüchtigkeit im Bild eingefangen.

Leiko Ikemura, tokaido-scape, 2013 © Leiko Ikemura