Gerald Pirner/Diana Sprenger: Berührte Zeit. Hamburg, Oktober 2015.

LESEPROBE

Vom Dunkel
oder wie der Finger aufhört zu zeigen

Einige Jahre zuvor: Eine minimalistische Bühne in deren Mitte die Sopranistin, in eine Kluft mit hohem Stehkragen eingezwängt, die ihr dieselbe Unbeweglichkeit beschert, wie einer anderen Figur Becketts, die in den zwei Akten von Glückliche Tage langsam in einem Sandhaufen versinkt und jetzt: die Musik, deren statische Enge in der Sommerhitze des Theaters den Klängen eine drückende Atmosphäre verleiht. Dabei ist es weniger der Raum, der hier in Morton Feldmans Vertonung des Beckett-Textes Neither/Weder solche Statik erfährt, eher ist es die Zeit, die das Aus- und Einatmen der engen Sekundencluster von Bläsern und Streichern, gepaart mit Ostinati von Bass und Schlagwerk, in ein Nicht-Mehr-Vom-Fleck-Kommen gerinnen lässt.

hin und her in Schatten von innerem zu äusserem Schatten / von undurchdringlichem Selbst zu undurchdringlichem Unselbst durch Weder / … (Samuel Beckett: Neither/Weder. in: Sebastian Claren: Neither. Die Musik Morton Feldmans. Hofheim 1996, S. 22.)

Eine glatte Fläche, kaum Pinselführung zu spüren, und dann abrupt, ohne Übergang, eine raue grobe Fläche, ein ganz anders gearteter Farbauftrag. Das sei ihre Stirn, sagte Sie, nahtlos der Übergang, oder vielleicht solle man konturlos sagen. Aber nicht nur am Rand, sagt er, insofern man überhaupt von einem Rand sprechen kann. Das ist beispielsweise auch hier der Fall. "Was berührt der Finger?" "Das ist ein Auge, es ist das rechte Auge." "…und auch hier ist dieselbe Rauheit zu tasten." "Das ist der Mund, genauer, das Dunkel hinter den Lippen, oder zwischen ihnen."

*wie zwischen zwei lichten Zufluchten deren Türen, sobald nähergekommen sacht schließen, sobald abgewandt sacht wieder öffnen / vor und zurück gelockt und abgewiesen /achtlos des Wegs, gerichtet auf den einen Schimmer oder den anderen / ungehörte Tritte einziger Laut /… *(Samuel Beckett: Neither/Weder. in: Sebastian Claren, 1996, S. 22.)

"Du siehst zunächst nichts. Du siehst eine dunkle Fläche und du gehst näher und je näher du kommst, treten aus dem Dunkel Formen, die du nicht erkennst. Dann trittst du ganz nahe heran und alles verschwindet wieder in diesem Dunkel, das so dunkel doch nicht ist."

Der Blinde hört Ihre Stimme. Sie kommt an ihn heran. Er hört, wie Sie sich bewegt, hört an Ihrer Stimme, wie Sie an etwas herantritt, das Ihre Stimme dämpft, das Ihre Stimme leicht zurückwirft reflektiert oder besser bricht. Er hört Ihre Stimme abgewandt, dem zugewandt, von dem Sie spricht, das Sie zu beschreiben sucht und was zwischen Ihrer Stimme und ihm, das ist Sie selbst: Sie steht Ihrer Stimme im Weg, zweifach im Weg, das woran sich Ihre Stimme tatsächlich bricht, das ist Ihr Körper, an dem sie sich teilt und das hört er, hört, dass Sie nicht direkt vor dem Bild steht, eher etwas seitlich, dass Sie langsam hin und her sich bewegt. "Und dann siehst du es, und es schaut dich an, schaut dir nach, schaut deinen Bewegungen nach…"

Dann dreht Sie sich um und nimmt seine Hand, führt sie wieder zur Leinwand. Feuchtspeckiges ist da in der ersten Berührung zu tasten, eingerahmt von leicht Schroffem, eine Art See in Waldigem, unterschiedlich dichter Farbauftrag, unterschiedlich stark verdünntes Öl der Farbe, etwas ist dicker hier, vielleicht mehrere Farbschichten übereinander: die andere Seite des Nicht-Sehens, das Zuviel-Sehen, das Überschwemmtsein mit Bildern, die kein Bild davon abhält hereinzubrechen. "Keine Konturen, eher Kontraste, die sich aus Helldunkel-Übergängen ergeben“, sagt Sie.

bis endlich still für immer, fern für immer vom Selbst und vom Anderen / dann kein Laut / dann schwaches Licht unnachgiebig auf jenem unbeachteten Weder / unaussprechliches Heim. (Samuel Beckett: Neither/Weder. in: Sebastian Claren, 1996, S. 22.)

Was aber bleibt, wenn die Bilder verschwunden, wenn ein wiederholtes Tasten sie verscheucht hat, wenn die Haut das wieder vertrieben hat, was eine erste Berührung hervorgerufen hatte.

Das Nachtasten nach einem Verschwinden, das sich wiederholt. Ein Erscheinen und Verschwinden, ein Dazwischen, eine Bewegung dazwischen, etwas, das sich letztlich nicht entscheiden kann, ob es kommt oder geht.

Die Beschreibung kreist beim Tasten eher um sich, umkreist das Berührte, kommt nicht weiter, erreicht kein Ende und jede Zäsur ergibt sich allein aus der Oberfläche, rührt vielleicht von einer Farbüberlagerung zur Verdickung, vielleicht einem fettigen Fleck, der innehalten lässt, der dem Gespürten nachspüren lässt, rührt von rau herausgeschabtem Grund oder von Kohlepartikeln, die unterbrechen, an denen die Arbeit Spuren hinterließ, die im gesehenen Bild keine Entsprechung finden müssen. Der Finger führt das Empfinden im Gespür zurück zum Material, führt zurück zum Grund, der nie wirklich verlassen wurde, der immer wieder hereinbricht, etwa am Mund oder den Augen, an Öffnungen also, die aus sich das strömen lassen, was hinter dem Gesicht liegt und da liegt tastbar das, was nach dem Tod übrig bleibt, ein grausiger Schädel, der sich durch die Haut bereits heute als das tasten lässt, was unsere zukünftige Gestalt sein wird, wo das Dunkel erneut hereinbrechen wird, von dem wir eigentlich herkommen. Verabschiedet wird das Anderswo, was bleibt ist ein Nirgend-Wohin-Mehr, objektlos und damit zeitlos oder genauer Werden ohne Zeit. Werden, das keinen Gegenstand mehr hat, an welchem es Entwicklung zu sich bringen könnte. Die Sprache benennt solche Vorgänge mit und im Infinitiv, es gibt keine finite Verbform mehr und das gilt zuallererst für die Verben der Wahrnehmung, das Sehen etwa, das nichts mehr zu sehen scheint als das Beobachten seines Sehens. Der Prozess des Sehens, der vom Finger immer wieder unterbrochen wird, der sich vom Finger befragen lassen muss, wo ein sinnliches Register ein anderes durchkreuzt, der zwischen Blindem und Sehendem zu einem Dialog wird, um das, was zu erfahren, zu erspüren ist.

Ein Gespräch in einem kleinen französischen Café in der Reichenberger Straße in Berlin über die Fragen, warum der tastende Autor dieses Textes den Eindruck nicht loswerde, dass sich das Dunkel immer wieder in Gestalt der ölgetränkten Kohlepartikel im Gesicht noch durchsetze, dass es in das Gesicht hereinwuchere, als käme das Gesicht nicht von seinem Ursprung los, wäre es nicht in der Lage, sich aus dem Dunkel herauszureißen. Ohne es zu strukturieren, ohne es zu konturieren wiederhole es sich wie ein Zitat, das einzig auf seine Unaussprechlichkeit beharre, durch seine bloße Anwesenheit darauf poche. Letztlich nicht in eine Struktur und nicht durch eine Funktion als Kontur in das Bild integrierbar, fühlt es sich wie ein Riss an, wie ein Riss hinaus in ein unbestimmbares Nichts, das eigentlich keinen Ort hat.

Als sei das Auge halb geschlossen und es sei nur ein dunkler Strich zu sehen: "Es ist nur ein dunkler Strich zu sehen“, sagt Sie und leicht fährt er mit dem Zeigefinger über die Stelle, zu der ihn Ihre Hand hingeführt hat.
“Sie ist rauer als die Stelle hier", sagt er.
"Partikel sind zu spüren", dass das Reste der Kohle sein müssen, die die Malerin an den dunkleren Stellen benutzt habe, wie sie sagt, und dass die sich mit dem Öl vermischt hätten, das sie an dieser Stelle mit Lavendelöl vermischt habe, weil sie das terpentinhaltige Malmittel nicht vertrage. "Es ist einfach giftig," hatte sie gesagt, und dass sie eine ganze Weile mit Verdünnungen herumexperimentiert habe, bis sie bei Lavendel geblieben sei.

Die Figur trägt immer Spuren dessen an sich, woher sie kommt. Die Schatten in Diana Sprengers Bild entwickeln sich aber nicht, sie sind auch nicht integrierbar, weder als Konturen noch als Produkt von Lichtverhältnissen. Sie tauchen eher als Zitate eines Raumes oder einer Zeit auf, als Reste eines vorherigen Zustands, als etwas, das nicht zurückgelassen werden konnte, das am Gesicht haften blieb als Spur einer vorherigen Materialität, die nicht abfiel, die nicht abgeschüttelt werden konnte, von der das Gesicht nicht loskommt. Dunkle Flecken, auf die die Finger immer wieder stoßen: wovon zeugen diese Reste eines Dunkels, aus dem das Gesicht sich sichtbar heraushebt, oder in das hinein es versinkt. Sind es Reste des Raumes davor, oder der Zeit davor, eines Zustands vor der Heraufkunft des Gesichts, das als Raum wie Zeit Spuren hinterlassen hätte, die vom Davor oder vielleicht vom Danach sprechen.

"Man nimmt ja immer den Raum um sich ein, dementsprechend verbinden sich die Schatten aus dem Gesicht mit dem Hintergrund, mit dem Drumherum, genauso wie Licht sich aus dem Raum heraus entwickelt." (Diana Sprenger)

Was aber, nähme man das Bild als Abdruck mehrerer Zustände, sähe man sie zusammen, gewänne sich in ihrer Zusammensicht nicht das Bild einer Bewegung, oder allgemeiner: das Bild von Zeit im Raum, das Bild einer Entwicklung, vielleicht das Aufeinandertreffen von mehreren Zeiten, die verschiedene Zustände ausdrückten, die, sich entwickelnd, aufeinander verwiesen. Und in ihrem Zusammen im Bild eine Art Bewegung, eine Bewegung aus dem Raum heraus, einem Raum, der durch keinerlei Perspektive gegliedert ist, der dadurch wie bloße Materie wirkt, bloße ungeformte Materie, aus der heraus sich ein Gesicht schiebt, ihr entsteigt, und allein in diesem Vorgang, in diesem Vorgehen, erwirkt sich dieses Gesicht das, was der Materie fehlt: Perspektive und damit Zeit, was sich im ursachenlosen Spiel von Licht und Schatten äußert, denn was das Schwarze ja so schwarz macht, ist die Schwere, die Licht als Materie nicht von sich loslässt, und damit Zeit als Vorgang verhindert: Schwarze Löcher Orte im Kosmos, die Licht zum Verschwinden bringen, weil sie ihm keine Zeit geben, von ihm los zu kommen.

"Ein Teil der Betrachter des Bildes sagt, das Gesicht erscheine, der andere sieht es verschwinden." Aber vielleicht trifft ja beides zu, und vielleicht gleichzeitig, eine Auf- und Abbewegung zwischen Erscheinen und Verschwinden, ein- und ausatmen eines Raumes von Materie, aus dem heraus, in den hinein das Gesicht geht und kommt.

Das Sehen beobachtet sich beim Sehen
Er legt seine beiden Hände auf Ihr Gesicht. Er hatte es nie gesehen und versucht über die Finger und die Hände zu Ihrem Aussehen zu kommen, es sich vorzustellen. Einzelnen Formen nach gelingt es, er fühlt Ihren schmalen Mund, Ihre schmale Nase, aber als Ganzes will das Gesicht nicht in seine Imagination. Umgekehrt scheint seine Berührung alles Leben aus Ihrem Gesicht zu ziehen, scheint sie das Lebendige in etwas Maskenhaftes zu verwandeln, und wie bei einer Maske, lässt seine Berührung die Augen aus, lässt, wie bei Diana Sprengers Bild die Augen aus. Die Berührung durch den Blinden lässt die Berührte erstarren, sie wird zur Maske, und was, wenn nicht Sie, befindet sich hinter ihrem Gesicht, und doch: etwas lässt an Edgar Allen Poes Erzählung denken, an den Maskenball der Pestgesellschaft, bei der, in blutverschmiertem Gewand, eine Gestalt maskiert auftaucht, hinter deren Maske nichts mehr zu finden ist, als ihr die Maske heruntergerissen wird. Die Berührung des Blinden spart genau die Partien aus, die auch das Portrait von Diana Sprenger ausspart. In Augen und Mund öffnet sich, was sich nicht öffnet, was als Undurchdringbarkeit getastet, oder untastbar alles dahinter zum Verschwinden bringt.

Diana Sprengers Bild ist der Versuch, Sehen mit malerischen Mitteln nachzuspüren: nicht etwas wird gesehen, eher wird dem Sehen beim Sehen zugesehen, wird zugesehen, wie Sehen im Sehen scheitert, wie alles Gesehene immer blinde dunkle Flecken enthält, die von Wünschen und Träumen sprechen, aus dem im Gesehenen immer die Sehnsucht spricht, immer etwas spricht, das es unvollkommen, und letztlich unerreicht und unerreichbar erscheinen lässt. Denn nicht nur der Finger scheitert in seinem Versuch, das Bild sichtbar zu machen. Auch den Augen gelingt keine endgültige Feststellung des Portraits. Vielleicht stellt die Malerin aber auch kein Portrait im engen Sinne dar, vielleicht stellt sie ja eine Beobachtung dar, ein Beobachten des Sehens beim Versuch zu sehen. Indem dem Auge der zu fassende Gegenstand immer wieder entwischt, hinterlässt das Sehen im Sehen genau dieses Entgleiten, und indem es dieses Gleiten beobachtet, beobachtet das Sehen sich beim Sehen, materialisieren sich im Dunkel all die dunklen Flecken, die blinden Flecken, an welchen das Sehen aussetzt, und sie materialisieren sich als die einzige Sicherheit, die einzige Gewissheit, rufen das auf was fehlt, die Wünsche, die Sehnsüchte, die den Träumen so nahe sind, für Ernst Bloch die Reste des unfassbaren Anderen, aus dem das ganz andere einer anderen Welt zu träumen bleibt, das, woraus sich Das Prinzip Hoffnung speist.

Nie ist das Bild das, was in seinen Rahmen gespreizt abschließbar fassbar wäre. Im Sehen wird das Bild zu Sprechen, wird zu Erzählung, der der Bildrahmen ein Ende setzt, es daran hindert Das Sprechen: unendlich (Michel Foucault) zu werden, es dazu werden zu lassen. Das Bild ist ein kondensiertes Gebiet, das zu sich alle möglichen Bilder ruft und bei sich hält, um ihnen einen Ort zu geben, auf dem sie sich überlappen, überlagern, sich mischen und verlieren können. Im Sprechen vermischen sich noch obendrein die äußeren mit den inneren Bildern, an denen sie sich anreichern. Blindheit bedeutet, nicht mehr über das gesehene Bild zu verfügen, nicht mehr dieses disziplinierende optische Bild zur Verfügung zu haben. Blindheit ist kein zu wenig an Bildern, es ist ein Zuviel, ein Zuviel an inneren Bildern, das kein gesehenes Bild in Schranken hält, das ordnend eingriffe, das ausschlösse, das sortierte.

Sie hatte ihm den Raum beschrieben, den Schreibtisch, hinter dem die Sekretärin saß, einige Pflanzen, die Türen, die zu den Veranstaltungsräumen führten. Hinter ihr etwas, das Ihr Beschreiben verstummen ließ, das Sie stehenbleiben ließ, und so stand Sie inmitten des Empfangsraumes und schwieg, schwieg auf etwas blickend, oder eher auf etwas starrend, das hörte er, das erkannte er, hörte es an der Art, wie Sie dastand, hörte es an der Art, in der Sie atmete, hörte Ihren geschlossenen Mund, den gleichmäßig aus der Nase strömenden Atem. Die Sekretärin war verstummt, in der Art, wie sie verstummt war, wie sie sich nicht mehr regte, nicht mehr geregt hatte, hörte er, dass sie Sie ansah, ansah und schwieg. Bereits tags zuvor hatte Sie mitgeteilt, dass er das Bild berühren würde und dass dies mit der Malerin abgesprochen sei, dass er einen Text über die Malerin schreiben wolle, über die Malerin und ihr Bild.

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Gerald Pirner/Diana Sprenger: Berührte Zeit. Hamburg, Oktober 2015.

Hardcover: ISBN 978-3-7323-6404-6 Paperpack: ISBN 978-3-7323-6403-9

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