Das leere Kleid
Zur Ausstellung ALLES, WAS MAN BESITZT, BESITZT AUCH UNS von NEZAKET EKICI im Haus am Waldsee Berlin
Er steht mit Ihr am oberen Rand des abschüssigen Ufers hinab zum See. Geraschel auf seiner rechten Seite von hinten. Wogend, wiegend: „Das ist sie“, sagt Sie. Er horcht dem Geräusch nach, das an seiner rechten Seite an ihm vorüberschwingt, Schritt um Schritt. Er denkt an die Pfauenmännchen, die in einem jeden Schritt ihre langen Schwanzfedern in einem ähnlichen Geräusch hinter sich herschleppen und Schleppe nennt sie den langen Ausläufer des roten Kleides, das Schritt um Schritt hinter ihr her bauscht, sich füllend um wieder auszulaufen, kleine feuchte Geräuscheruptionen in einem Atemrhythmus, nur dass es ihr Schritt ist, genauer, ihr Schreiten. Dass sie ganz anders aussehe als tags zuvor, sagt Sie, ganz anders als sie sie in der Ausstellung gestern gesehen hatten, mit ihr gesprochen hatten, gestern, über die Möglichkeit für einen Blinden, ihre Arbeiten zu erfahren. Sie wirke jetzt ganz streng, wirke älter, die schwarzen Locken glatt nach hinten gekämmt. Eher eine Priesterin in einem liturgischen Ritualamt denn eine Performancekünstlerin, denkt er bei sich.
Mit dem Wohnhaus der Fabrikantenfamilie Knobloch aus den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, liefert die Villa am künstlich angelegten Waldsee in Zehlendorf architektonisch die Grundstruktur für die thematisch unterteilten Arbeiten von Nezaket Ekici, die sich in den Räumen von Parterre und Obergeschoß des Hauses ausbreiten. Nezaket Ekici nimmt die Zimmer auf, um sie wie ein Zuhause, als Teile ihrer Biographie mit Installationen zu beleben, sie einzurichten. Hierzu nutzt sie auch die alte Aufteilung der Räume und widmet sie gleichsam um.
In einer Art Empfangssalon tritt mensch in eine Fülle von Photographien, ein Leben im Zeitraffer des Bildes, spotlightartig einen Kontext ausspannend, in welchem sich die Ausstellung bewegen wird. Und das führt von Jugend und Familie, von Vater Mutter Tochter, führt über Kindheit und rebellischer Punkjugend in Berlin zur Lehrerin Marina Abramovic an der Kunstuni in Braunschweig. So eingestimmt in einer Art Salon bringt uns die Ausstellung in ihrem nächsten Raum dem Titel gleich näher: Alles, was man besitzt, besitzt auch uns. Einen ersten Eindruck dessen, was alles Besitzanspruch sein könnte, gewinnt mensch im Mädchenzimmer, oder Damenzimmer wie es auch genannt wird: Nezaket Ekici macht es zu einem ersten intimen Raum ihrer Ausstellung, bringt uns das hier bereits näher, was uns immer wieder begegnen wird: eine ganz sinnliche Nähe, eine Berührung, die noch von Bildern und Gegenständen her zu uns spricht. Sie küsst mit Hunderten von Küssen den ganzen Raum ab, spart nur die Decke aus, beküsst aber dafür auch das Mobiliar und die Kleider. Der Titel der Ausstellung bekommt da sofort ein ganz anderes Gewicht, eine nochmal andere Bedeutung. Der Kuss hinterlässt seine Spuren, hier in Gestalt von Lippenstift, der sich an den Gegenständen und den Räumen abdrückt. Diese Lippenstiftabdrücke sind aber nur die Sichtbarmachung dessen, was mit einem jeden Kuss sich vom anderen in uns einschreibt, eine Sichtbarmachung einer Berührung, die uns anrührt und in dem Moment wenn sich die Lippen des anderen, der anderen von uns lösen noch lange nachwirkt. Für den Blinden, der den Kuss nicht im Kontext zu einem Bild des/der anderen sieht, mit dessen Aussehen er ihn in Verbindung bringt, steht diese besondere Art der Berührung in Verbindung zu einem besonderen Moment, den die Stimme einfärbt, die Berührung der Hand bestimmt, der Geruch des/der anderen ausfüllt und die, losgelöst von inhaltlichen Verbindungen Imaginationen und Bilder des Blinden aufrufen, die sich im Körpergedächtnis mit dem Moment einschreiben. Verstohlen lässt der Blinde sich von Ihr die Hand führen, streicht leicht über einen der „bestimmt Tausend“ Lippenstiftabdrücke, spürt eine leicht fettige, kaum spürbare Erhebung und denkt von diesem Eindruck nochmals über den Titel der Ausstellung nach. Von der Gegenseitigkeit des Kusses, der eben als kein geraubter oder erpresster verstanden werden soll, kann er nur als Ausdruck einer Gegenseitigkeit gesehen werden, als Ausdruck einer wie auch immer gearteten Beziehung oder wenigstens eines Sich-Aufeinander-Beziehens.
In einem Interview bemerkt Nezaket Ekici, dass es sich dabei auch um eine Art Wertschätzung handele, all diese Dinge seien ja hergestellt worden und der Kuss drücke auch Dank aus. Zuallererst handelt es sich bei den Gegenständen um Dinge, die, wenn sie nicht in einem besonderen Verhältnis zu uns stehen, mit keinem so intimen Ausdruck unserer Wertschätzung bedacht werden. Aber fordert uns Nezaket Ekici nicht auch noch zu etwas ganz anderem auf, zu einer Sorge, die zwischen unseren Kategorien von Intimität und Privatheit gar keinen Raum hat, damit aber wo sie aus unserem unmittelbaren Bezug und Blickwinkel verschwindet, in Kosten-Nutzen-Rechnungen abgeschoben wird, wenn sie nicht gar in der Verdinglichung kapitalistischer Geldbeziehungen entfremdet wird. Vielleicht ist der Kuss als Versprechen zu sehen, das den Dingen zu geben sein sollte, um von ihrer achtlosen Vernichtung abzusehen.
Die Schwierigkeiten für einen Blinden, die Arbeiten von Nezaket Ekici zu erfahren, liegen nicht allein in Videobildern, von denen und an denen sich der Blinde seine spezielle Rezeption erarbeiten muss, es liegt natürlich auch an der freilich verständlichen Aversion gegen die Berührung von Teilen der Installation, die dadurch gefährdet gesehen werden müssen. Was wäre da zu berühren um aus der Berührung gleichsam imaginativen Mehrwert zu schlagen.
Da ist die Idee einer Art von Geheimschrift, die Beschriftung einer Wand mit Vaseline, die sich kritisch mit einer türkischen Brautschau auseinandersetzt, wo die Heiratsreife des türkischen Mädchens an ihrer Fähigkeit Kaffee zu kochen gemessen wird, das Mädchen aber in der patriarchalen türkischen Gesellschaft gar nicht gefragt wird, ob ihr die Hochzeit passt oder nicht. Nichts hat sie zu ihrer Verheiratung zu sagen, geschweige denn dass sie über ihr Leben zu bestimmen hätte. Nezaket Ekici bringt den kritischen Text gegen solcher Art Verhältnisse mit einem Text an die Wand zur Geltung, der erst mit dem Beschmeißen der Wand mit dem gekochten Kaffee zum Vorschein kommt, da er mit durchsichtiger Vaseline geschrieben ist, die wasserabstoßend nicht verwischt werden kann, die so den braunen Kaffee an seinen Rändern abstößt und vor seinem krümeligen satzdurchtränkten Grund sichtbar wird. Erst mit der Verweigerung des Rituals kommt die Kritik zur Erscheinung, ansonsten bliebe der kritische Text an der Wand, geschrieben mit durchsichtiger, Feuchtigkeit abstoßender Vaseline ungelesen, ja geheim. Es ist die Aufforderung zum wütenden Nein und nur eine Frau, eine türkische Frau kann ein solches Nein mit Wut hervorbringen, das teure Porzellan gefüllt mit dem Kaffee der Brautbeschau gegen die Wand geschmissen um am Widerstandsakt den Widerstand sichtbar werden zu lassen.
Da wären die Rosenblätter, die im Wintergarten in Richtung eines weißen und doch durchsichtigen Kleides mittels Ventilatoren geblasen werden, Gesellschafts- wie Geschlechterverhältnisse als stumpfes Vollziehen darstellend, eine Kritik an unreflektierter, mechanischer Vollstreckung hierarchischer Strukturen, deren Rückgriff auf romantische Versatzstücke als künstlich ja klischeehaft entlarvt werden, ausgedrückt in den Rosenblättern, die eben genauso künstlich sind. In einem Interview verwahrt sich Nezaket Ekici allerdings gegen die verkürzende Fokussierung der Inhalte ihrer Arbeit auf Genderdiskussion und Feminismus, da sie ihr Werk zu Recht viel breiter aufgestellt sieht. In einem Video werden die Bestandteile der Installation zusammengeführt, sieht man Nezaket Ekici in der Haltung eines weiblichen Derwisches mit ausgestrecktem Arm Richtung Himmel und den anderen zur Erdung nach unten, wo ein Fuß auf der Erde als Säule verbleibt und der andere Fuß den Körper ins Rotieren dreht. Den Blick auf die obere Hand gerichtet vermeidet die tanzende Derwisch, dass sie schwindelt und ins Taumeln gerät. Freilich wären auch hier Momente von Kritik an Gesellschafts- und Geschlechterverhältnissen zu erkennen, der Derwisch wird traditionell als männlich gesehen, im Mittelpunkt steht hier allerdings das Werk als Konzeptkunst, das sich nicht auf eine einzige inhaltliche Ebene festlegen lässt, das seine „Ingredienzien“ präsentiert, das dem Rezipienten die Richtung seiner Gedanken und Überlegungen nicht einengt oder gar vorschreibt. Auf ein Drahtgestell gehängt dreht sich von einem leisen Elektromotor angetrieben, mit ausgebreiteten Ärmeln, das Kleid der Nezaket Ekici, das sie zu ihrem Sufitanz trägt, dreht sich wie eine Karikatur der Performance, die auf einem Bildschirm als Video zu sehen ist.
Das Ding hält den fest, der es berührt, zeigt sich ihm in seinen Materialien, lässt sich spüren, fühlen, hören, riechen, zeigt ihm den Aus-Schnitt seiner Form, der in die Größe seiner Hand oder seines Fingers passt. Freilich könnte er dem nachtasten, nachstreichen, hinaus, was nur ein hinaus über seinen Körper hinaus bedeutete, dorthin, wo die Welt weitergeht, wie auch jetzt, wo Draht und Stoff über seine Hand hinausreichen. Anstelle des Impulses weiterzutasten, sucht er sich den Bildern auszusetzen, die an der Schnittstelle zwischen seinen Sinnen und seiner Einbildungskraft sich einstellen, die den Riss zu schließen suchen, den das menschliche Maß aller Dinge aufkommen lässt, wo es ganz physisch an seine Grenzen stößt.
Das Kleid ist aus der Realität der Performance herausgestiegen ohne sie zu verlassen, es öffnet eine andere Wirklichkeitsebene, es hält bei sich die Bilder, die der Tanz, zu dem es getragen wurde, hervorrief, hält die Bilder, die die Tänzerin hervorrief, ihr Körper, ihr mit dem Kleid kaum verhüllter Körper hervorrief. Einerseits ruft es diese Bilder auf, andererseits enttäuscht sie sie, indem sie es, das Kleid, ohne alle inszenatorische Finesse auftauchen lässt, den Film gleichsam entmystifiziert, die Phantasien als Kleid entkleidet, alles, was die Tanzende an Gedanken aufkommen ließ, das Kleid wiederholt sie um sie in einer greifbaren Alltäglichkeit zu verabschieden.
Er steigt hoch auf das Podest, horcht in den Raum, ob die Aufseherin zurückkommt, hört sie vor der Tür mit jemandem sprechen. „Du musst schnell machen,“ sagt Sie und er kommt sich vor, als verübe er gerade einen Banküberfall. Sie war vor ihm hochgestiegen, nahm nun seine Hand und führte sie zu einem leicht gebogenem Draht, über dem Plastikstoff gelegt war, der an ihm oder genauer über ihm nach unten herabhing. „Das Kleid, das sie bei dem Derwischtanz trägt, das auch auf dem Video zu sehen ist,“ sagt Sie. Das Gebläse setzt wieder ein und übertönt den Sound des Video. „Sie kommt,“ sagt Sie und schnell springen sie vom Podest, an dessen Rand Sie ihn geführt hat.
Während für den Blinden die Imagination an den Grenzen der berührten Skulptur einen ganz anderen Verlauf zu nehmen beginnt, der Schnittstelle, an welchem das ertastete Werk überhaupt in Haut und Denken Gestalt zu gewinnen beginnt, wo an seinem Ende die Imagination des Raumes sich entfaltet, Geruch Gehör und vielleicht Schmecken Geflechte der Einbildungskraft sich entfalten lassen, bündelt das Video der Performance über seine Beschreibung, über die Erzählung von ihm her die Sinnlichkeit des Blinden, lässt Zeichen und Zeichensysteme sich mit Sinn füllen, gibt Sinn dem Ort seiner Herkunft zurück: der Sinnlichkeit, die den Gedanken und seine Reichweite trägt. Denn nicht die zum Hörfilm transformierte Gestalt des Kinos ist es, die schon das alltäglich erlebte blinde Sehen über sich hinausführt, es gleichsam ästhetisch transformiert. Das gebrochene Wahrnehmen im Bildlosen, noch einmal muss es gebrochen werden um zu einer ästhetischen Erfahrung zu werden, die sich im blinden Alltag nicht einfach unreflektiert einstellt, die erst dann einen ästhetischen Surplus erfährt, wenn es über den Moment des Ab-Reißens des Bildes sich und diesen Moment reflektiert, wenn es das imaginiert, was an dem Grenzpunkt seiner Wahrnehmung über diesen Moment hinaus passiert. Vielleicht ist der Blinde noch nicht blind genug.
Aber was reißt da eigentlich ab, wo kein Sehvermögen das Berührte in einen räumlichen Kontext stellt, es als Gegenstand nicht in eine Reihe von anderen Gegenständen integriert.
Es ist die Erzählung, die hier gebrochen wird, Ihre Beschreibung, in die hinein das Kleid tritt wie die Ahnung einer anderen Realität, die einerseits das Erzählte gleichsam beglaubigt, ihm aber zugleich widerspricht. Erinnernd an die religiöse Bedeutung des Fetischismus zeigt sich die Wirkmächtigkeit der materialen Wirklichkeit, zeigt auf, wie der Grund der Realität sich um das Phantasma legt, wie das Berührte eine Art reiner Materialität hervorbringt, die sich in Einbildung kleidet, an der alle möglichen Arten von Begehren sich festmachen lassen, ohne dass es eine Wirklichkeit noch gäbe, die wirklicher wäre als andere, wo sich an den Grenzen zwischen Leben und Tod die Bilder nur noch mehr verdichteten, um an einem gewissen Punkt zu implodieren.
Zwischen Installation und Performance wird die Wirklichkeit zu einer nichtssagenden Anhäufung reiner Stofflichkeit entkleidet, für die die Korrespondenz zwischen Film und Installation eine sehr treffende Metapher böte.
Nezaket Ekici nimmt die beiden Momente von Bewegung aus der Performance heraus, löst sie von ihrem eigentlichen Geschehen, abstrahiert sie und ist dadurch in der Lage, sie zu mechanisieren. Das Fallen der Blütenblätter, in der Performance werden sie auf die Tänzerin geschüttet, in der Installation überträgt sie einem Gebläse die verspielte Geste, die Glückwunsch zur Vermählung ausdrücken soll. Der Wunsch wird von einer Maschine jetzt ausgefüllt. Die Bewegung des Tanzes lässt sie von einem Motor erfüllen. Von der Tänzerin bleibt nur das Kleid, das, einem Drahtgestell übergezogen, sie im Kreis sich drehen lässt.
Das Video ist die Reproduktion einer Aufführung, deren Reproduktion das einzige ist, was von ihr geblieben. Nur das Kleid blieb von der Künstlerin, das Kleid.
Und der Blinde? Nur die erzählte Beschreibung der Aufführung im Video blieb und die unterscheidet sich nicht von der Beschreibung all der Dinge, die die Installation ausmachen. Die eigentliche Aufführung findet nur in der Einbildung des Blinden statt. Selbst das Kleid, das er zu berühren bekommt, er braucht eine Zeugin die ihm belegt, dass es sich dabei um das Kleid handelte, dass die Künstlerin getragen hat als sie angeblich die Aufführung realisiert hatte. Das aber ist eine Glaubenssache, und mehr kann es für den Blinden nicht sein. Das „leere Kleid“, für den Blinden ist es die Entkleidung des Bildes von seiner Fleischlichkeit, demonstriert es doch die Entkleidung der Sinnlichkeit, deren Fülle nur und immer wieder nur in seinem Kopf eine Statt hat.
Aber worin unterscheidet sich solche Wirkung des Wirklichen im Sehen des Blinden von der Erfahrung des Sinnlichen bei den Sehenden, ist dieser Riss nicht auch in Ihrem Sehen die eigentlich stiftende Urszene ihres Sehens? Setzt sich das Bild der Sehenden nicht aus dem selben Bruch, dem selben Riss zusammen? Oder nochmals: was zerreißt in der Berührung des „leeren Kleides“ tatsächlich?
Für den Blinden aber wird noch etwas ganz anderes spürbar, das er hört, das er aus Gehörtem riecht ja schmeckt: eine immer mit unglaublicher Wucht vorhandene körperliche Präsenz der Nezaket Ekici, eine Körperlichkeit, die aus allen Äußerungen ihrer Arbeiten spricht, die nicht bis an die Schmerzgrenze geht, wie dies ihre Lehrerin, Marina Abramovic tut, mit der sie nicht verwechselt werden möchte, da sie ihre eigenen künstlerischen Wege eigenständig geht. Diese Körperlichkeit ihrer Werke hat ihren Ursprung nicht zuallererst in der Performance, zumindest nicht in einer solchen, wie sie herkömmlich verstanden wird. Eher ist es ihre Ausbildung zur Bildhauerin, wie sie selbst im obenzitierten Interview sagt, der sie ihre Nähe zur Performance verdankt. Der Blinde sucht sich in die Art, wie sie Bildhauerei verstehen mag, anhand der Arbeiten im Haus am Waldsee hineinzudenken, versucht Bildhauerei als eine aus der körperlichen Bewegung hervorkommende Aktivität zu be-greifen, die im Material einfach Spuren hinterlässt, Spuren, die zunächst eine spezifische Art der Kommunikation mit dem Material voraussetzen, die vielleicht weniger von einem Bild, auch nicht von einem Bild im Kopf ausgehen mögen, von einem Bild, das sie verfolgte, eher von einem Bild, das sich aus der Auseinandersetzung mit dem Material im Nachhinein überhaupt erst ergäbe, das in ihrer Arbeit sie aus dem Material herauslese.
Viele ihrer Arbeiten im Haus am Waldsee scheinen von einer solchen Art des Umganges mit dem Material zu zeugen, scheinen von Bewegung auszugehen, die im Material angelegt ist, Spuren aufsammelnd, die den Körper in Bewegung versetzen: der Geruch des Materials, der Geruch, den sie in ihrer Arbeit mit dem Material am Material hinterlässt, der Geschmack des Materials, die Form des Materials: all dies liest die Künstlerin in ihrer Arbeit auf um solche Lektüre Bewegung werden zu lassen.
Zwar trägt eine Arbeit von Nezaket Ekici den Titel 5 Senses, der Titel könnte aber über ihrem Werk überhaupt als eine Art Essenz oder Motto stehen, in welchem sie die sonst von Kunst wie Literatur vernachlässigten Sinne Riechen, Schmecken und Fühlen in den Mittelpunkt ihrer ästhetisch-künstlerischen Auseinandersetzungen stellt.
Tiefes Atmen durch den Mund, dann durch die Nase, kein Atmen eher Wittern. Etwas Tierisches liegt in ihm, hat dieses Schnüffeln an sich. Geräuschvoll kommt das Wittern dem Hörer oder Betrachter von der Bildschirmfläche entgegen. Nein, es klingt nicht wie das Schnüffeln oder Wittern eines Tieres, nicht wie das eines Hundes etwa, das wäre nicht so ausdauernd, das suchte zu identifizieren und ließe dann entweder ab oder schnappte zu, bisse in das, was erkannt wurde hinein. Ruhiges Genugtun liegt in ihm, ein ganzer Berg von Fleisch liegt vor ihm, den sieht sie ihrer verbundenen Augen wegen nicht, aber sie riecht ihn befriedigt. Kein Futterneid, alles ist ihr. Dieses stöhnende, geräuschvolle Riechen lässt nicht ab, es wühlt sich geradezu in das Gerochene hinein, und, berichtet von Ihr, die eher angewidert von den Vorgängen auf dem Bildschirm spricht, dass das Gerochene Beschnupperte, Beschnüffelte seine Spuren in Gestalt von Blutschmierern und Fleischresten im Gesicht der Performerin hinterlässt. Schwein ist es, was da berochen wird, und es ist Flesh (No Pig But Pork), also nicht lebendes sondern geschlachtetes Schwein so der Titel der Videoinstallation, zwei Begriffe, für die es im Deutschen keine Übersetzung gibt. Im Beriechen des Fleisches verändern sich aber die Geräusche, die Äußerungen der Nezaket Ekici, schwanken zwischen stöhnen und schnaufen, werden und vor allem da, wo der Mund ganz nahe hinein in das Fleisch taucht, beinahe selbst zum Grunzen, wie sich der Habitus der Performerin im Laufe der Arbeit verändert wo sie sich nicht mur mit Fleisch den nackten Bauch bedeckt und das Fleisch auf ihr Gesicht legt, sich mit dem Fleisch zwischen den Schenkeln reibt und immer wieder riecht, ob sich ihr Geruch nicht auf das Fleisch abgefärbt habe, wie das Reiben am Fleisch an das Suhlen des Schweins erinnert und das Schweinwerden noch dadurch unterstrichen wird, wo die Performerin eine Gesichtshälfte mit den Schweinekopf bedeckt, das zum Schweinwerden probt. Das Riechen wäre zwischendurch eher als Saugen zu bezeichnen, andererseits riecht sie nicht nur sondern beatmet das Fleisch, weckt die Assoziation der beatmeten Schöpfung, womit daran erinnert sei, dass die Schöpfung nicht nur aus der Erschaffung des Menschen bestanden hatte sondern eben aus einer ganzen Welt mitsamt der Tiere und Pflanzen, für die sich das Zeitfenster ihres Überlebens in Zeiten der Artenvielfaltdiskussion zwischen all den hehren Sonntagsreden langsam zu schließen beginnt.
Mit verbundenen Augen lässt Nezaket Ekici sich auf das Fleisch des Tieres ein, damit das Urteil des Fernsinnes ausschließend, das einerseits erforderlich wäre um das religiöse Speiseverbot einhalten zu können, denn das Fleisch zu schmecken käme seinem Genuss wohl gleich. Andererseits drückt die Künstlerin, auf das Attribut der Justitia anspielend, die Gleichgültigkeit der Art des Fleisches aus, dessen Verzehr in jedem Falle in Glaubensrichtungen, die der Wiedergeburt verpflichtet sind, eine Art Kannibalismus darstellte und das Wiegen des Schweinefleisches auf den Knien wie ein Baby mahnt das eben auch an.
Neben den Videoarbeiten, die Nezaket Ekici unter dem Titel 5 Senses präsentiert, bringt sie auch in weiteren Videoarbeiten den Genuss des Essens mit dem des Eros aber auch mit der Frivolität des Überflusses in Beziehung. Da ist etwa die Arbeit Imagine wo Äpfel an Schnüren hängend von ihr gepflückt werden, dabei an das Brechen des Apfels vom Baum der Erkenntnis durch Eva erinnert wird, die Esserin aber nicht nur genüsslich die Äpfel und einen nach dem anderen verspeist, sie auch auf den Boden schmeißend, auf ihnen im leidenschaftlichen Rhythmus eines Flamenco herumtrampelnd, an die Zeichnung der Eva von Correggio erinnernd, in welchem die barbusige Eva dem Betrachter einen Apfel reicht, sich selbst dabei gleichsam mit ihm hingebend, nicht zuletzt weil dieser Apfel doch sehr an die Form ihrer Brüste erinnert. Nezaket Ekici gibt sich nicht hin und auch keinem Adam. Sie verzehrt die Ernte selbst und der Rest wird im Tanz zertrampelt, verursacht also keinerlei Versuchung drückt höchstens Autoerotismus aus.
Da hängen in einem anderen Video geschnittene Brotscheiben von der Decke um die auf einem Podest stehende Nezaket Ekici herum, deren Kleid über und über mit Butter bestrichen ist. In beiden Händen hält sie Waagschalen, die beide mit Messern gefüllt. Die Besucherinnen waren aufgefordert, sich Brot zu pflücken um es mit einem Messer aus der Schale zu bestreichen, wobei sie den Aufstrich an ihrem Körper trägt. Die Legende vom Schlaraffenland bekommt hier eine sehr zweideutige Deutung: sie ist hier personengebunden, ist davon abhängig, dass eine Frau freizügig den Aufstrich zur Verfügung stellt, erinnert ironisch an Sloterdijks rechtskonservativen Vorschlag an die MilliardärInnen dieser Welt, sich an das antike Mäzenatentum zu erinnern, die Speisung der Plebs durch Brot und Spiele, finanziert durch freiwillige Spenden der Reichen, die dann, blind wie die Gerechtigkeit, jeden sich bedienen lassen würden. Assoziativ schwingt hier freilich auch der Körper der Frau mit, an welchem sich, ermöglicht durch die verbundenen Augen der Frau, jeder vergreifen kann, der sieht.
Während er dem Gedanken so nachsinnt hat Nezaket Ekici ein Ruderboot bestiegen, das sie hinein in den Waldsee bringt, wo sie eine im See stehende Leiter besteigt, zu deren Ende hochsteigt, das rote Kleid über der Leiter ausgebreitet lassend, das diese durch ihr Kleid zu einem Teil ihres Körpers macht. Dann werfe sie einen Eimer ins Wasser, hole ihn, gefüllt mit Seewasser zurück und pumpe den Inhalt durch einen Reinigungsfilter, um aus ihm ein mehr oder weniger volles Glas gereinigten Wassers zu erhalten. Vor sich eine Ablage, von der die Öffnungen zu fünf Leitungen abgehen hinaus zum Land, wo fünf AssistentInnen das Wasser, das sie von nun an, der Reinigungspumpe entnommen, ans Ufer und die dort sitzenden Besucher abgibt. Die Assistentinnen wiederum bieten das gereinigte Seewasser den BesucherInnen zum Trinken an, lösen dabei aber nicht nur Begeisterungsstürme aus, stoßen auf beträchtliche Skepsis.
Mit der Performance Water To Water greift Nezaket Ekici das mythische Bild der Wasserfrau auf, deren Lust sich allerdings nicht, wie bei Undine oder Melusine, an der Liebe zu einem Menschenmann entzündet, sondern an der Lust zum eigenen Element, das, um weiter in ihm leben zu können, sie einer Reinigung unterziehen muss.
Klatschen des Eimers auf das Wasser. Sie zieht ihn gefüllt zu sich und füllt eine Pumpe damit auf. Unter kräftigem Stöhnen pumpt sie das Wasser durch die Pumpe, ein Stöhnen das an Lust erinnert, das aber vielleicht eher an die Anstrengung des Gebärens erinnern soll. Unter kräftigem Mühen pumpt sie das Wasser ins Reine, gebiert die Überlebensfähigkeit des Menschen, gebiert das Element Wasser, ohne das kein Leben auf Erden möglich ist. Damit kontrastiert das Akustische mit dem Bild, das den Blinden bei der Beschreibung zu allererst in den Sinn kam: das Bild Arnold Böcklins, Die Toteninsel, das der Blinde vor Jahren noch gesehen hatte. Akustisches und Optisches stellt zusammen genommen vielleicht aber den Kreislauf dar der im Tod kein Ende sehen will, sondern den Beginn eines Wiederanfangs, eine Wiedergeburt der antiken Vorstellung des Weltenkreislaufs.