Das Bild der Göttin schauen
Zur Doppelausstellung THE EMBALMER von BERLINDE DE BRUYCKERE in Bregenz und Dornbirn Teil II: Actaeon und Liggende im Kunsthaus Bregenz
Zwar dringen Geräusche von draußen herein, dringen aber nur als undeutliche akustische Schatten herein, Schatten von Motorengeräuschen, denen alle Erkennbarkeit auf dem Weg durch die Betonwände hindurch abhandengekommen ist. Näher kommen sie so dem Ursprung des Wortes, das sie bezeichnet, werden zu einem Rauschen, zu einem Ge-Räusch, verlieren auf dem Weg durch den Raum Zeit, werden langsamer, als suchten sie Zeit um sich wiederfinden zu können.
Sie stehen nahe beieinander. Sie beschreibt ihm die vier Skulpturen auf den vier unterschiedlich hohen Holzpodesten, die die Künstlerin aus altem Bauholz und aus den Brettern gebrauchter Europaletten gefertigt hat. Ausgefranste Schraubenlöcher mit Rostrückständen, über die teils bräunliche teils graue verschmutzte Krankenhausdecken gelegt sind, teils gesteppt, teils gestopft, teils mit anderen Stoffen vernäht. Lose hängen Schnüre zu ihrer Befestigung herunter. Sie sprechen halblaut, andere BesucherInnen sprechen ebenso halblaut. Das Gesprochene ist nur in unmittelbarer Nähe zu verstehen. Der enorme Hall des Raumes, der ihn an eine Kathedrale erinnert, lässt ein jedes Gespräch mit anderen Gesprächen an anderen Ecken im Raum verschwimmen, macht Anwesenheit sprechender Menschen zu etwas lediglich Ahnbarem, das nicht von der Schwelle zum Verschwinden loskommt.
Sie sprechen langsam, betonen einzelne Silben, immer wieder aus Nachfragen heraus Sätze wiederholend. Einerseits und in Momenten, wo Sie sich von ihm entfernt und dabei weiterspricht, wo im akustischen Rauschen Ihrer Stimme kein Wort mehr zu verstehen ist, weil Ihre eigene Stimme das Gesagte in Ihrem Klang überschwemmt, es in ihm ersäuft. Einerseits empfindet er die Akustik als extrem anstrengend, andererseits zwingt sie sie dazu, in einen geradezu intimen Kontakt zum jeweiligen Werk zu treten, ganz nahe bei ihm sich auszutauschen, die Fernsinne und hier die Augen wie die Ohren zu vernachlässigen, sich noch mehr - als für ihn als Blinden sowieso notwendig - auf Tasten, Fühlen und Führen, die eine Hand die Hand des anderen hinführend, einzulassen.
Sie stehen vor dem ersten von drei Podesten, auf denen die Reste zerfetzter Körper aufgebahrt liegen. Um den Nabel herum alles aufgerissen, Gedärme quillen heraus, zumindest sehe das auf den ersten Blick so aus. Gedärme, die nur wie Gedärme aussehen, weil aus einem aufgerissenen Unterbauch nur Gedärme herausquillen können. Sie nimmt seine Hand und führt sie an den Rand des aufgerissenen Leibes: Äste mit abgebrochenen Zweigstummeln tastet er, Äste, deren Form auch an abgeschnittene oder gebrochene Hirschgeweihe erinnern könnten.
Und das, fragt er, ist das der Arm? Nein, das könnte zwar durchaus ein Arm sein. Zuallererst ist es aber ein Ast, der aus der Bauchhöhle als Gedärm herauskommt. Der Körper liegt seitlich und das Gedärm quillt aus ihm heraus. Der ganze Körper ist gedreht, auch die Schultern sind Holz oder genauer Ast. Etwas rötliches schimmere an den Ästen da wo sie nicht Innereien verkörpern wie an den Schultern, dann sehe es so aus, als klebten noch Fleischreste an ihnen wie an Knochen.
Von oben ist nichts an Körperformen zu erkennen, einfach nur Schluchten, teils Stoff eingearbeitet, Stoffknäuel vernäht, das habe eher etwas von einer apokalyptischen Landschaft. Der zweite Körper, noch zerfetzter sehe er aus als der erste. Die Füße fast nebeneinander und auf den Fersen aufliegend. Beim Körper davor lagen sie seitlich. Der ganze Oberkörper ist aufgerissen, regelrecht gespalten. Aus den Lenden kommt ein Ende des Geweihes heraus, da wo das Glied zu vermuten wäre. Das Geweih eines riesigen Hirsches, das eingehakt in den Körper, herunter bis zum Knie reicht. Die Beine sind zwar ausgemergelt, scheinen aber noch am ehesten intakt. Hier noch ein Geweih, das in den Körper hineingeht oder aus ihm herauskommt.
Der erste Körper ist zwar aufgerissen, als Körper ist er aber zu erkennen, teilweise ist es unklar, ob es sich nicht um einen Baum handelt, oder ob sich da etwas in einen Baum verwandelt. Der zweite Körper ist richtig aufgespalten und vermehrt kommen Geweihe aus ihm heraus, teilweise kommen sie auch aus dem Stoff, wachsen dem Körper gleichsam entgegen. Während die Geweihe hier nur aufgelegt sind, sich zum Körper hinzugesellen, verschmelzen sie in einem dritten Körper mit ihm, brechen aus ihm heraus, setzen sich in ihm fest, brechen ihn auf. Wie drei Stadien eines Geschehens erscheinen die drei Liggende. Eigentlich sind es zwei Geschehensabläufe, die sich da ineinander verschränken, die Verwandlung eines Menschen in einen Hirschen und die Zerfleischung dieses Hirsches durch die Hunde des verwandelten Menschen.
Das mythische Geschehen, von dem die drei Skulpturen der Berlinde de Bruyckere erzählen, schildert die Bestrafung eines Voyeurs, der es gewagt hatte, einer Göttin beim Bade zuzusehen. Als Strafe verwandelte die griechische Göttin Artemis, in der römischen Religion Diana, den Jäger Akteion in ihr Lieblingstier, einen Hirschen, um ihn von seinen eigenen Hunden sodann zerfleischen zu lassen. Was Berlinde de Bruyckere allerdings hauptsächlich interessiert ist das Ineinander der verschiedenen Phasen der Metamorphose des Jägers in den Gejagten, sowie das, was seine Hunde dann tatsächlich aus dem ins Tier verwandelten Jäger machten. Berlinde de Bruyckere schiebt die beiden Geschehensabläufe ineinander, die Verwandlung und das Zerreißen, unterteilt dieses Ineinander dann noch in drei Zeitabläufe, die den drei Skulpturen zugeteilt werden. Das Nacheinander von Verwandlung und Zerreißen wird so zu einem zeitlich parallel ablaufenden Geschehen. Die eigentliche Zeitlogik wird zu einer instinktiven tierischen Logik, zu etwas, das eher zu spüren ist als zu sehen, denn noch bevor die Verwandlung vollendet ist, scheinen die Zähne der Tiere sich in das Beutetier zu schlagen: was da passierte, das konnte nur gewittert oder eben gespürt werden, nicht aber gesehen werden. Allein das filmische Mittel der Überblendung stellte Möglichkeiten der Darstellung bereit, dieses gleichzeitige Ineinander von Geschehensabläufen und Parallelität von Zeit und Zeiten darzustellen. Berlinde de Bruyckeres bildhauerische Sprache nähert sich hier der filmischen Sprache an, oder vielleicht andersherum: Berlinde de Bruyckere arbeitet das Taktile des filmischen Bildes heraus.
In der Renaisssance kam mit Giordano Bruno eine Interpretation des Akteionmythos auf, die das Zerrissenwerden des Akteion als durchaus positiven Akt, als nachahmungswürdiges Resultat der Annäherung an das Göttliche feierte. Akteion wurde hier als das Urbild des Philosophen gesehen, der in seiner Schau des Schönen und der Wahrheit zerrissen werden muss, da ein solcher Anblick vom Menschen gar nicht ertragen werden könnte. Dass der Anblick aber gar nicht ertragen werden muss macht Pier Klossowski in seinen Zeichnungen deutlich, der, zwischen keusch und geil (Shirin Sojitrawalla), das Göttliche als Projektionsfläche des Mannes darstellt. Akteion nimmt da in einer Zeichnung die Göttin als Hirsch von hinten, die er noch zudem genüsslich abschleckt.
Was aber wird da tatsächlich zerrissen und was dokumentiert Berlinde de Bruyckere in ihrem Werk als das was nach dem Zerreißen übrigbleibt. Ist doch das Bild zunächst eine Distanz zu einem Geschehen, da es einerseits Partikel des Geschehens zusammenfügt, sie synchronisiert, andererseits Zeit zwischen das unmittelbare Erfahren des Objektes und dem Erfahrenden schiebt, die die tatsächliche Annäherung verhindert oder zumindest aufschiebt, die tatsächliche Annäherung, die in der Berührung, dem Tasten, dem Fühlen bestünde oder bestanden hätte.
Andererseits: was berührt wenn nicht das Bild, das letztlich einerseits den Übergriff zwar verhindert, andererseits in Überwältigung und Faszination Gestalt und Geschehen ganz nah an die Haut, die Gänsehaut, wenn man so will, heranlässt. In ihren Werkkomplexen Liggende und Actaeon tritt an die Luft das, was unter der Haut von dieser Haut zurückgehalten wird, was aber unter ihr ruht oder in Ruhe gehalten wird: die Seele und eben nicht die Seele als eine als Singular, eher die Seele als Seelen, die mindestens drei Seelen sind, nahe dabei dem griechischen wie dem jüdisch-christlichen Denken zugleich, die zwischen einer pflanzlichen, einer tierischen und eben der geistbestimmten Seele des Menschen unterschieden. Aus dem Körper des zerrissenen Akteion treten alle drei hervor, die pflanzliche in Gestalt von Ästen, die tierische in Gestalt der Geweihe von Hirschen und die menschliche als der aufgebrochene Körper des Menschen selbst. Damit stellt Berlinde de Bruyckere ihren Akteion in die Nähe des Pantheismus der Renaissance und der griechischen Antike, wo es vom Philosophen Empedokles heißt: „Denn einst bin ich schon ein Knabe gewesen und ein Mädchen, ein Busch und ein Vogel und ein aus dem Meer springender wandernder Fisch.“
Aber, so stellt sich die Frage, gibt Berlinde de Bruyckere hier im Kern einfach eine Interpretation des Mythos wieder, oder bricht sie mittels Mythos nicht noch einen ganz anderen Mythos auf. Die Ursache für den Racheakt der Göttin liegt im Angeschaut - Werden, liegt im gestohlenen Bild, liegt in der Anmaßung des Menschen, der das Göttliche nicht nackt zu betrachten hat, liegt im Blick, den der Jäger mit seinem Leben bezahlt.
Was aber ist das Göttliche der Göttin, und was ist das Göttliche ihrer Anwesenheit, die doch zunächst nichts anderes sein kann als eine unbändige und unbändigbare Kraft, die kein Bild überhaupt wiederzugeben vermöchte, die kein Bild einzufangen und das hieße zu beherrschen vermöchte. Was aber wiederum ist diese Kraft anderes als die Kraft Begehren zu entfachen und welche Bilder wiederum sind es, in denen der Mensch diese Kraft sieht, eben das, was Klossowski mit den Bildern der Projektionsphantasie auf die Göttin wirft. Was aber schließlich ist es, worin sich diese Projektionen, die ja zuallererst Imaginationen sind, von den Bildern unterscheiden, die Blinde gezwungen sind, sich von Welt und Mensch zu machen um mit ihnen in Umgang zu treten.
Was, wenn das, was den Jäger zerreißt nicht nur auf dem Philosophen in seiner Jagd nach Wahrheit und Schönheit zustieße, wenn es sich um das ganz einfache und geradezu alltägliche Spiel des Menschen mit seinen Träumen und Phantasien handelte, die den ganz Normalen und Sehenden zum Blinden macht und zum Opfer seiner Bilder, zwischen denen er zerrissen wird. Indem das Sehen das Geschehen erfasst, überzieht es die Zerrissenheit mit einem Bild, überbrückt es sie gleichsam, macht es sie verarbeitbar, macht es sie überwindbar.
Das Sehen legt eine Art Schutzschirm um den Sehenden, eine Art Alarmsystem, innerhalb dessen er sich bewegt und in relativer Ruhe sich bewegen kann. Kunst sollte der Raum sein, in welchem diese Ruhe verstört wird, in welchem der „Schutzschirm Sehen“ immer Gefahr läuft, aufgerissen zu werden.
Vor dem Göttlichen aber schützt kein Bild, das Göttliche durchdringt alles Bild, das Göttliche stößt in seiner Wahrheit als Verheerung und Versehrung zu.
Im Akteionmythos, die Gedanken Giordano Brunos weitergedacht, verliert der Jäger im Schauen des Wahren sein Sehen, im Bild erblindet er. Alle Distanz ist entfernt, das Göttliche kommt in einer Weise nahe, die der Mensch nicht ertragen kann. Damit beschreibt der Akteionmythos den notwendigen Verlust des Bildes: was da tatsächlich zerreißt ist das Bild des Göttlichen, und die Folge davon ist das Zerreißen dessen, was Akteion selbst zusammenhält: er wird von seinem Körperbild, das ihn in gewisser Weise zusammenhält, abgerissen und zerfällt in seine Bestandteile.
Die Metamorphose, die sich da vollzieht, ist aber keine rein körperliche. Der Körper, der da aufgerissen wird, trägt die organisch gewordenen Seelenteile in sich, lässt in der Verwandlung zum Tier alle Arten von Seelen zum Vorschein kommen. Berlinde de Bruyckere stellt das Zerreißen als Zerfall in diese Seelen, in den Plural der Seelen dar, indem sie das Zerreißen mit der Metamorphose verbindet.
Aber was ist dabei eigentlich ein Bild und ist es hauptsächlich das, was das visuelle Organ des Menschen hervorbringt. Was sind die Bilder, die dem Blinden in sein blindes Sehen kommen, wenn er etwas berührt oder wenn er von etwas oder jemandem berührt wird.
Er legt die Hand auf den zerrissenen Bauch, genauer auf das, was da herausquillt, oder noch genauer: was die Sehenden sagen, dass es so aussieht, als ob ihm die Gedärme herausquillen, von denen er nur das Glatte von Ästen aus Wachs spürt, die auch die Gestalt von Geweihen haben könnten, die auch die Metamorphose darstellen könnten, die Verwandlung eines Menschen in einen Hirschen oder das Zerreißen eines Hirsches, der zuvor ein Mensch gewesen sein mochte. Die Hand spürt klaffend das Loch unter ihr, fährt leicht über Glattes und Festes, spürt Rundes, spürt Schlauchähnliches.
Die tastende Berührung zieht den Riss unter sich zusammen als wolle sie ihn vernähen. Bilder umlagern ihn, gurgelnde Geräusche, die Bewegung des Verdauungsttracktes, herausplatzendes Gedärm, das keine Bauchdecke mehr hält. Die Einbildungskraft überlagert das Wahrgenommene mit Worten aus Bildern. Im Verdecken des Schnitts wird der Riss, der Schnitt unter der Hand nur umso deutlicher. Als Schnippsel zieht es sie um den Riss herum zusammen, lässt sie an seinen Rändern sich lagern um sie zu riechen zu schmecken, sie zu hören und um sie immer wieder zu fühlen und zu spüren.
Der Riss unter der Hand aber wird niemals endgültig verdeckt. Derr Riss bringt sich immer wieder in Erinnerung, erzwingt seine Wiederholung.
Der überbrückte Riss in der Hand, der sich tastbar hält in der Überbrückung. Einerseits spürt die Hand ihn, den Riss, andererseits überbrückt die Hand ihn, lässt ihn verschwinden. Indem die Hand den Riss unter ihr bedeckt wirkt sie wie ein Bild, das den Riss abbildet: unter dem Bild verschwindet der Riss indem er in eben dem Bild hervortritt, indem er Begriff wird. Sein Spüren aber verschwindet nicht, es verschwindet nicht die Erinnerung an sein Gefühl: immer wieder bringt es sich in Erinnerung und bringt in Erinnerung, dass er nicht geschlossen wurde, dass kein Bild ihn abschließt oder verdeckt. Jede Berührung hinterlässt Narben, keine von ihnen heilt jemals gänzlich aus. Jede Berührung ist ihr Gedenken, eine jede holt immer wieder ihre Erinnerung hervor. Die Hand spürt das und spürt zugleich den Versuch den Riss zu verdecken, ein Versuch, der sie selber ist.
Die verkrüppelte Wahrnehmung des Blinden: in den Imaginationen, die die Versehrung der Blindheit hervorruft, eröffnet sich eine bildlose Weltsicht, die auf ihre Verkrüppelung besteht. Indem sie im Berühren immer wieder auf diese Verkrüppelung besteht, indem sie sie in gewisser Weise wiederholt, um die von ihr hervorgerufene Imagination sich einstellen zu lassen: Innehalten und Wiederholung der Versehrung bei gleichzeitigem Zulassen der Bilderflut. Dialektik im Stillstand oder einfach die Feststellung, nein das ist es nicht und das ist es auch nicht, denn auch darin geht die Erinnerung niemals auf. Erzwungen von der nicht enden könnenden Wiederholung des Schnittes, der Verkrüppelung: Blindheit als Rezeptionsgrundlage, als Versuch das Bild immer wieder neu zu erfinden, es immer wieder neu erfinden müssen, weil keines wirklich passt, weil Wirklichkeit immer darüber hinausgeht. Berlinde de Bruyckeres Skulpturen stellen nicht einfach Verletzte dar, sie stellt die Verletzung selbst dar, Verletzungen, die nie heilen, die immer wieder aufbrechen.