The embalmer, 2015, Foto: Mirjam Devriendt © Berlinde De Bruyckere, Mirjam Devriendt und Kunstraum Dornbirn

Rückstände des Wirklichen

Zur Doppelausstellung THE EMBALMER von BERLINDE DE BRUYCKERE in Bregenz und Dornbirn Teil I: Dornbirn

Das Betreten der Halle: heraustreten aus dem dumpf monoton summenden Geräusch eines Rasenmähers, umrahmt vom Gejohle spielender Kinder. Die Tür der ehemaligen Montagehalle der Turbinenfabrik wird zwar geschlossen, die Geräusche dringen durch die schlecht schließende Tür herein, werden durch die riesigen alten Fensterscheiben und die Backsteinmauern des ehemaligen Turbinenwerkes nicht draußen gehalten. Der Raum staucht sie, nimmt den hohen Frequenzen ihre Spitzen, betont dagegen die Tiefen, verwandelt das Rasenmähergeräusch in ein hintergründiges Stimmengemurmel.

Vier Stahlgestelle, an zwei hängen Tierkadaver, zwei sind leer. Zwei Stahlrohre vertikal, eines darüber horizontal. Als warteten die leeren darauf, dass da noch weitere aufgehängt werden. Die Arbeit scheint so unvollendet, als sei noch nicht alles getan. Zwei Gestelle warten eben noch auf ihre Besetzung. Mit den herabhängenden Kadavern erinnern die Stahlgestelle an Galgen, die zu Massenhinrichtungen verwendet werden. Der Krieg ist vorbei, andere Kriege haben längst begonnen.

Der Schenkel am Schenkel eines anderen Pferdes. Ein Lederriemen hält ihn da fest. Knochensteif das Glied zwischen den Beinen des Tieres, das mit weiteren Gurten an den Beinen an einem Stahlrohr über ihm aufgehängt ist. Als habe man es für die Ausweidung vorbereitet, ginge man daran, ihm die Innereien herauszunehmen. Schweine hänge man so auf, Schweine und Hasen, das wisse er aus der Kindheit, sagte er. Das war aber nach der Zeit, als man in freier Natur ganz anderes Schlachten veranstaltet hatte.

Nein, der Kadaver sei nicht ins Schwingen zu bringen, wenn mensch sich gegen ihn lehne. Das liege an dem zweiten Kadaver, der an ihm befestigt sei: einerseits der Gurt am Schenkel, andererseits sei die eine Hälfte des Tieres an einer anderen Hälfte eines anderen zerstückten Tieres drangenäht, ergäben die beiden Hälften ein neues Tier. Der zweite Kadaver beschwere ihn gleichsam nach unten, da er mit dem Hinterteil auf dem Boden aufliege, die Beine von sich gestreckt. Das habe nichts Angestrengtes, das sehe eher entspannt aus, als ob das Tier endlich seine Ruhe gefunden habe. Im Tod fühle sich das vielleicht entspannt an, hatte er gedacht, strich den gespannten Sehnen des Hinterlaufs entlang und fragte sich, in wie fern Begriffe für den Blinden überhaupt tauglich sind, wenn sie über die reine Beschreibung hinausgehen und solche Beschreibung interpretierten oder deuteten, etwa den Ausdruck eines Körpers, oder, noch schwieriger, den eines Gesichts.

Sie hatte eine Reihe von Rezensionen und Katalogbeiträge zu Berlinde de Bruyckere zusammengetragen, aus denen Sie ihm auszugsweise vorlas. Sie sprachen von der Motivation der Künstlerin, diese Skulptur zu schaffen, sprachen von der Jugend der Künstlerin als Tochter eines Schlachters, sprachen von ihrer ersten Berührung mit Kunst in der Kirche beim Anblick des von Pfeilen durchbohrten heiligen Sebastian, sprachen von den Gräueln des ersten Weltkrieges, vom Gaskrieg in ihrer Heimat Flandern, vom Gaskrieg in Ypern, sprachen davon, dass immer von den menschlichen Opfern gesprochen werde, die Künstlerin aber an alle im Krieg hingeschlachteten Kreaturen denke und ihrer in diesem Werk gedenken wolle.

Die Mähne, Sie hatte seine Hand genommen und sie hineingesteckt in ein borstiges Gestrüpp. Ja er fühle sie, glitt weiter nach vorne, spürte nur Mähne und spürte, dass etwas fehlte. Er hatte frühere Arbeiten der Künstlerin ertastet und war auf Surrogate des Kopfes gefasst gewesen. Von diesem seinem Bild ausgehend, fehlte etwas und da, wo die Mähne an Hautwülste genäht zu sein schien, stellte er das fest. „Es gibt keinen Kopf“, sagte Sie. “Dort, wo die Mähne ist, da kann man sich ihn vorstellen und so wie die Mähne fällt, scheint er zur Seite gefallen zu sein. “Der weibliche hier, der männliche liegt auf dem Schenkel des weiblichen Kadavers.“ „Es gibt aber vor allem kein Gesicht“, erwiderte er.

In vorherigen Arbeiten und bei einer anderen Ausstellung, in San Gimignano nämlich, war er an dieser Stelle auf einen Pferdekopf gestoßen in dessen Augenhöhlen die Augen fehlten. An ihrer Stelle waren die Augenhöhlen einfach mit Fell überzogen. Der Kopf gewann so etwas schädelhaftes, das vom Fell noch unterstrichen wurde als ob der Körper sich das Gesicht wieder zurückerobert hätte. Das Gesicht, der Gesichtssinn bedeutet Orientierung, ohne die es keine gerichtete Bewegung würde geben können. Aber Bewegung war diesen Kreaturen durch ihre Fixierung eh geradezu ausgetrieben. An den Hinterbeinen war das eine mit Ledergürteln befestigt, am einen unterhalb des Knies, am anderen unterhalb des Hufes.

Der Kopf fehlt, war Sie mit ihrer Antwort seiner Frage zuvorgekommen. Und das Gesicht damit natürlich auch, hatte er erwidert, indem er sich vor dem Kadaver niedergehockt hatte um am Rande des Halses der Naht nachzustreichen, die den auf dem Boden hingebreiteten Resten der Kreatur einen mutwilligen Abschluss gab, das sich allem Organischen entziehen sollte oder vielleicht ihm widersprechen sollte. Hier verschwinde der Körper, hatte Sie etwas rätselhaft gesagt und er spürte den Fellwülsten nach und versuchte ihrem Satz nachzutasten. Das Fell eines Pferdes war es, was er da berührte, das die Künstlerin im Schlachthof von Brüssel erstanden hatte. Am Ausgang des Halses das Fell zu einer Verdickung zusammengerafft, einige Haare der Mähne dabei auch noch erwischt und das Ganze zu einer Verknotung zusammengenäht, als habe eine Art Antischöpfer entschieden, dass dieser Kreatur die Lebensströme abgewürgt werden sollten, was noch grausiger erschien als seine Tötung darzustellen. Freilich war es nur ein Teil eines Kadavers, was er da berührte: ein Pferdefell über einen Körper aus Pappe gespannt. Oder noch genauer, zwei Körper waren es, über die er da strich, wobei es sich bei dem unteren Pferd um ein weibliches Tier gehandelt haben musste, wie er aus dem klaffenden Loch zwischen den Schenkeln schloss, wo das über ihm hängenden Tier mit seinem erigierten Geschlecht wohl ein männliches Tier gewesen war.

Das Loch des weiblichen Tieres war aber so groß, als habe man ihm mit dem Geschlechtsorgan gleich noch den ganzen Unterleib herausgerissen. Das Hinterteil auf dem Boden, die Hinterläufe auf dem Boden ausgebreitet. Der Vorderhuf war am männlichen Pferderest befestigt und so zu spüren, als suche das weibliche Tier sich hochzuziehen, wobei ihm auf halben Wege die Kraft verlassen zu haben schien und der imaginäre Kopf, von dessen Anwesenheit nur der Mähnenrest am Hals zeugte, irgendwie zur Seite gefallen war. Unter diesem Blickwinkel war das hochgestreckte Vorderbein noch ganz anders zu sehen: der Gürtel hielt so einen Moment fest, den das sterbende Tier nicht aufrechtzuerhalten vermocht hatte, arrangierte ein Bild, das es nur für einen kurzen Moment gegeben haben mochte bevor das Bein erschlafft im Sterben zurückgesunken war. Absurd tritt da eine Zärtlichkeit heraus, die vom Ledergürtel ins Groteske überzogen wird.

Der Kopf des männlichen Tieres, durch die Mähne nur angedeutet, liegt auf dem linken Hinterlauf des weiblichen Tieres. Kommt das Männliche aus dem Weiblichen oder will es dahin zurück. Aber was käme da aus dem Weiblichen, etwas, das den Tod bringt, das für die Ausweidung aufgehängt ist, das nur geboren wird um geschlachtet zu werden. Die einfache Zuschreibung, das Weibliche repräsentiere das Lebensprinzip, das Männliche den Tod griffe aber zu kurz, da Männliches wie Weibliches einzig vom Tod bestimmt sind, repräsentiert von den Fellen aus dem Schlachthaus.

Sie hatte seine Hand auf eine längliche Wulst gelegt, der er nach oben hin nachgefahren war. Zwei Pferdehälften, die aneinandergenäht wurden, das Fell der einen heller, das der anderen dunkler. Je eine Hälfte zweier Pferde. „Das heißt“, fragte er „um das Ganze des Pferdes zusammenzubringen, muss je ein Teil seiner Teile abgeschnitten werden.“ Wenn man von Vollständigkeiten ausgeht, die das Neuentstandene hier in Frage stellt, weil das Ganze immer aus einer Art Patchwork entsteht und Vollständigkeit eigentlich eine recht willkürliche Angelegenheit ist, dann stellen diese zusammengenähten Pferde die Ganzheit in Frage.

In eine noch ganz andere Richtung schien ihm die Arbeit als Anspielung grotesk. Sie erinnerte ihn an Platons Symposion, wo Alkibiades den Mythos von den Kugelmenschen erzählt hatte um das Begehren im Eros zu verdeutlichen: Ursprünglich waren die Menschen, so der Mythos, zweigeschlechtlich gewesen, waren Mann und Frau in der Gestalt einer Kugel gewesen. Indem sich aber so keinerlei Energie auf Liebe und Sex verströmte, erwuchs den Menschen immense Kraft, vor der den Göttern und Göttinnen Angst und Bange wurde, wussten sie doch nicht, wozu solche Wesen in der Lage sein würden und worauf es diese gelüsten könnte. Menschen wären aus den Kugeln dann dadurch geworden, dass die Götter die Kugeln auseinandergeschnitten hätten und ein jeder Teil Zeit seines Lebens nach dem ihm fehlenden Teil suche. Das Ganze wäre dann auch eine Erklärung für das niemals zu befriedigende Begehren des Menschen und Platon ist, nimmt man Energie als seelische Energie, Vordenker der Psychoanalyse nur von der umgekehrten Richtung her: Sublimierung als göttliche Erfindung zur Triebabfuhr der Energie eines destruktiven Kraftpakets namens Mensch.

Was, wenn die zusammengebrachten Pferdehälften weniger auf eine moderne Gendertheorie hindeuteten denn auf eine Art der Askese, die die vermeintliche Zusammengehörigkeit von Eros und Thanatos zu überwinden thematisierte? Aber gehört das hier her? Was gehört hier her außer dem Tod. Welcher Tod oder welches Sterben aber, wäre dann zu fragen.

Nun sucht die Kunstvermittlung dem Werk von Berlinde de Bruyckere nicht selten auf der biographischen Spur oder, und dies besonders in diesen Tagen wo sich der Gaskrieg in Flandern zum hundertsten Male jährt, mit dem historischen Kontext näherzukommen. Zum anderen rufen ihre Werke alle möglichen Facetten von Ökologieaktivisten, von Tierschützern und Verteidigern des Veganismus auf den Plan und dies mit Sicherheit in ihrem jeweiligen Anliegen durchaus berechtigt, zumal die Künstlerin in Interviews immer wieder mit ethischen Bekundungen derartigen Interpretationen durchaus breit die Pforten aufgestoßen hatte.

Die Kunst von Berlinde de Bruyckere nimmt all diese inhaltlichen Momente in sich auf und geht dennoch weit über sie hinaus. Das Grauen ist ein menschengemachtes Grauen und dennoch ist nicht allein „die Krönung der Schöpfung, der Mensch, das Schwein“ wie es Gottfried Benn formulierte, das, worauf Berlinde de Bruyckeres Kunst als Kritik und Protest zu reduzieren wäre. Es gibt andererseits in ihrem Werk einen existentiellen Kern, dem keine Spielart des Existentialismus gerecht werden könnte. Es ist die Versehrung, die Verkrüppelung die sie ansprechen will: Treffend drückte sich dies in einem Zitat von Erich Maria Remarque aus, der im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg einer seiner Figuren von „Im Westen nichts Neues“ den Satz in den Mund legte: „Ich habe noch nie Pferde stöhnen gehört.“ Freilich ist das auf die im Ersten Weltkrieg elendiglich krepierenden Pferde ganz realistisch gemünzt, zugleich ist dies als Gleichnis für das Grauen in bis dahin nicht vorstellbaren Maße zu deuten, dessen Bedeutungsüberschuss in Berlinde de Bruyckeres Werk anschwingt.

„Denkmale des Todes“, hatte ein Rezensent die Ausstellung in Bregenz/Dornbirn übertitelt. Nimmt man den Begriff wörtlich, befände man sich in der Nähe des Memento Mori, ohne dass sich die Melancholie der Vanitas Symbolik als gültiger Schlüssel der Interpretation einstellen wollte. Beiden Herangehensweisen der Interpretation scheint sich das Werk zu entziehen: weder wird ihm die sozio-politische oder die historisierende Deutung gerecht, noch die der melancholischen Todessymbolik.

Abermals tritt er an das Kadaverfell heran. In der Berührung des Felles durch die Hand ist der Unterschied zwischen dem Fell eines lebenden und eines toten Tieres nicht sofort zu spüren. Es ist nicht die Kälte wie bei einem unbehaartem Körper, die dem Lebenden entgegenschlägt. Es ist die fehlende Bewegung, das Fehlen des Pulsierens, an dem der Blinde den Unterschied zwischen Leben und Tod bemerkt.

Der Finger streicht von Fell zu Fell, fährt der Naht entlang, an der beide Felle aneinander genäht sind, spürt ihre wulstige Erhebung. Die Hand öffnet sich und legt sich flach auf sie, spürt wie die Naht sich wie eine Narbe in die Haut drückt. Ein Schnitt, der zwei Schnitte ist, der davon zeugt, dass zwei Körper von einem Teil ihres ganzen abgeschnitten wurden, um zu einem neuen Ganzen zusammengenäht zu werden.

Die Hand streicht über die Felle aus dem Schlachthof. Pferde, zwischen denen er sich bewegt. Mit ihren Bildern erscheint ihr Geruch, ihre Wärme, mit ihrer Bewegung erscheint ihre Neugier, ihre Kraft, ihre Agilität. Er hört wie der Vater den Metallbolzen an die Schläfe des Hasen ansetzt, hört den Schlag des Hammers auf den Bolzen, mit dem er ihm das Hirn zertrümmert. Wo beginnt Wirklichkeit, oder genauer: was alles muss abgeschnitten werden, dass wir uns trauen einen Fuß in den Raum zu setzen, von dem wir dann glauben dürfen, dass wir wieder aus ihm herauskommen.

Die Kunst allein bringt diese Zerrissenheit zur Darstellung, überbrückt in ihrer Darstellung das Grauen in dem sie dieses Grauen Bild werden lässt, sieht aber auch über die Sozial- und Politikkritik hinaus, um nicht zur Illusion beizutragen, dass Kritik vor dem Grauen bewahren könne, dass Kritik die Vermeidung des Kritisierten garantiere.

Alles bisherige Grauen nahm vom Ersten Weltkrieg nur seinen Anfang, ging in der Tendenz aber immer mehr darüber hinaus: Fortschritt der Kritik scheint das Fortschreiten des Kritisierten hinein in immer größere Bestialität zu registrieren, scheint aber vor allem dazu verdammt zu sein, ihre eigene Hilflosigkeit dabei zu beobachten.

Aber, und von der einfachen Beobachtung von Tasten, Berühren und Spüren des Werkes von Berlinde de Bruyckere durch einen Blinden, durch den Versuch, seiner Wahrnehmung der Wahrnehmung zu folgen, öffnet sich eine noch etwas andere Art an Rezeption des Werkes von Berlinde de Bruyckere. Blindheit ist der Riss in die Wirklichkeit, den eine Unendlichkeit von Bildern vergeblich zu schließen sucht. Er sieht sie nicht diese Hand, seine Hand. Er nimmt sie wahr, wenn sie etwas berührt, wenn sie berührt oder berührt wird. Eine jede Berührung bricht in seine Wahrnehmung herein, ist zumal, wenn von keiner Ansprache angekündigt, ein Übergriff, ein Ereignis. Alles was die Erwartung abreißt, alles was nicht erwartet wird, reißt die Wirklichkeit für einen Moment ab.

Im Ereignis nimmt eine Situation von einem Moment Besitz. In einem Riss, einem Bruch, einem Schnitt unterbricht die Situation ein Kontinuum, bricht in deren Raum ein. In der Kunst werden Situationen erzeugt, die von einem Moment auf den anderen das Nachdenken über Welt aus einer Art „kleinen Ausnahmezustand“ heraus überdenken lassen. Berlinde de Bruyckeres Ausnahmezustände bringen Brüche hervor, die etwas im Menschen anstoßen, das trotz aller reformierbarer Wirklichkeiten immer noch präsent bleib, vielleicht weil unaussprechlich ist, was da angestoßen wird.

Ist solcher Art Unaussprechlichkeit nicht die Verkrüppelung, die Versehrung, die in Berlinde de Bruyckeres Werk keine Gestalt finden kann und so immer weiter Gestalt werden muss, um zu vergehen?

"The embalmer, 2015, Foto: Mirjam Devriendt © Berlinde De Bruyckere, Mirjam Devriendt und Kunstraum Dornbirn"