Isabella Carloni © Sauro Del Vicario

Zwiegespräch über einen Riss hinweg

VIOLA DI MARE von und mit ISABELLA CARLONI

Ein Cello, das in kleinen sich um sich drehenden und sich wiederholenden Läufen nicht von sich loszukommen scheint. Später lösen sich länger gehaltene Töne einer Viola von den statisch kreisenden Bewegungen ab um sich mit einer Violine von sich selbst spalten zu lassen. Im Streicherkörper deutet sich vom ersten Moment an, das eigentliche Thema als eine musikalische Metapher an: der Riss im Menschen, seine uneinheitliche Einheitlichkeit. Im Verlauf des Abends und vor allem als Zwischenglieder zwischen den fünf Kapiteln des Stückes sollte diese musikalische Metapher noch deutlicher werden: immer wieder Wechsel von geschlagenen und geblasenen Tönen, teilweise elektronisch aufbereitet bis sich die Elektronik in Geräuschen davon ablöst. Entscheidend ist dabei, dass in bestimmten Momenten der Ton und seine instrumentale Herkunft nicht mehr identifizierbar sind, das Analoge mit dem Elektronischen verschwimmt, die Obertöne nicht mehr verraten, ob sie den Streichern entspringen oder künstlich produzierten Halleffekten. Was, so fragt die Musik im Dazwischen, was ist Identität, was Authentizität.

Eine Frau zieht sich an. Eine Frau erwartet einen Maler um sich portraitieren zu lassen. Eine Frau erwartet einen Zeugen, der ihr vermeintlich wahres Geschlecht dokumentieren soll. Eine Frau erwartet die Rückkehr in einen Körper, von dem sie loswollte, von dem sie loswollen sollte.

Eine Frau getaucht in Sprache, getaucht in Worte aus ihrem Mund, aus ihrer Stimme. Eine Frau, von der die Sätze ihrer Stimme rinnen, Sätze, in welchen sie den Körper taucht um ihn zu reinigen, um die Geschichte ihrer Verletzungen von sich und ihm abzuwaschen, um ihn im Erzählen ihrer Geschichte ausheilen zu lassen.

Eine Frau, die sich erinnert, die solche Erinnerung im Bild von einem Maler dokumentieren lassen will: als Tochter geboren, war sie unerwünscht, wo der Vater einen Sohn von seiner Frau geradezu gefordert hatte, wo er unter dem Vollmond die Neugeborene verflucht, ein Menetekel, über ihr Heranwachsen, ein Menetekel über ihr Leben wie es Pina, die Tochter sieht, die ihr Heranwachsen als heranwachsen zu einem Bastard begreift, für den sie sich hält: ein Leben im falschen Körper. Im Körper einer Frau wächst sie, die eigentlich ein Mann sein sollte und auch ein Mann sein wollte, im Körper einer Frau wächst sie heran und verliebt sich in eine Frau, führt mit ihr eine Liebesbeziehung, zu der sie auch ihrem Vater gegenüber steht und das auch noch in dem Moment, wo der für sie einen Ehemann ausgesucht hat, den sie ablehnt. Diese Weigerung nebst dem Bekenntnis zu ihrer Liebe bezahlt sie damit, dass sie der Vater in ein Kellerloch sperrt, aus dem sie ihre Mutter befreit, nachdem diese den Priester durch Erpressung dazu gezwungen hat, das Geburtsregister zu fälschen: es sei kein Mädchen gewesen sondern ein Sohn, den sie, die Mutter geboren habe. Auch der Vater, damit einverstanden, dass er im Nachhinein zumindest auf dem Papier einen Sohn gezeugt habe, spielt mit und bringt der Tochter bei, wie sich ein Mann bewegt und wie das Ding zwischen den Beinen seine Bewegungen bestimmt. Er versucht ihr aber auch beizubringen, wie sie, beziehungsweise er mit den Arbeitern umgehen müsse, denn er würde den Job des Vaters, Eigentümer eines Tuffsteinsteinbruches erben und übernehmen, wird sich durchsetzen müssen, knallhart durchsetzen müssen.

Eine Frau, die allein spricht, die aber nie in einen Monolog verfällt, auch nicht in einen inneren. Eine Frau in deren Stimme die Frau, die sie liebt zärtlich zu ihr kommt, die in ihrer Stimme Liebende und Geliebte zugleich ist, eins werdend in einer Stimme, die beide Geliebten, die beide Liebenden in sich birgt.

Eine Frau, deren Stimme aber auch hart wird wie die eines Mannes. Eine Frau, die beides ist: liebende Geliebte einer Frau und ein Mann, der hart gegen sich und die Welt auftritt, die das Männliche in sich gegen sich und die Geliebte durchsetzt.

Eine Stimme, die Stimme einer Frau, die Stimme einer Rolle, gespielt von einer Frau. Eine Stimme, die von einer Frau spricht und indem sie von ihr spricht, beginnt sie sie zu verleugnen. Sie spricht von ihren Verletzungen und indem sie von ihnen zu sprechen beginnt, färbt sich ihre Stimme in die Farbe der Stimme dessen, der sie verletzt hat. In der Stimme vollzieht sich etwas Magisches, die Stimme wird zu dem, von dem sie erzählt, von dem sie sagt, dass er sie verletzt hat, sie wird zur Stimme ihres Peinigers, zum Peiniger der Frau, die von diesen Ereignissen erzählt. Die verletzte Stimme aber wird gegen Ende hin selbst zur Verletzenden, wird die Geliebte genauso verletzen, wie sie vom Träger der Männerstimme verletzt worden war.

Aber was ist die Stimme, ist sie die Stimme derer die spricht, oder ist es die Stimme des Menschen, der sie hört. Der Blinde hat kein Bild des Menschen, der oder die spricht, in der Stimme verschwimmt die Identität, schwimmt zwischen Stimmungen, Stimmungen des Menschen der spricht, den Stimmungen des Menschen der hört. Im Hörenden kommt mit der Stimme etwas ins Schwingen: das was anspricht wird gehört und wird gehört weil es im Hörenden vorhanden ist. Wäre es nicht im Hörenden, könnte es nicht gehört werden. Ist aber die Vieldeutigkeit der Stimme nicht die erhörte Multiidentität, die auf etwas Eindimensionales gar nicht verengt werden kann?

Es ist aber nicht nur die verletzende verletzte Stimme, in der sich das Erzählte ausdrückt, der ganze Körper wird vom Geschehen traktiert, wird mit Schlägen der eigenen Fäuste traktiert wenn sich im Körper ganz körperlich ausdrückt, wie die Schläge des Hammers auf Körper wie Seele wirken, wenn der Vater das Mädchen in ihrem Zimmer einzunageln beginnt, wenn Schlag um Schlag das Fenster vernagelt wird, wenn Brett um Brett die Sonne verschwindet und die Mutter mit der Vernagelung der Tür von der Tochter getrennt wird ohne dass sie in der Lage gewesen wäre, dem Mädchen zu helfen, sie vor der Strafe zu bewahren, die der Vater verhängt, als er davon erfährt, dass sie eine Zigarette geraucht habe. Da wird die Stimme schnell, wird fast atemlos, nimmt die Angst vorweg, unter den Hammerschlägen des Vaters zu ersticken.

Schnell spricht sie, manches Mal wie gehetzt. Männlich nüchtern erscheint sie und scheint sich zugleich von dieser Nüchternheit zu distanzieren, etwa wenn die Stimme verlangsamt und dabei ins Zärtliche fällt. Gerade in solchen Momenten ist es, wo der vermeintlich männliche Ton in eine Weichheit wechselt, aus dem die Weiblichkeit spricht, sprechen soll, die sie im gehetzten so männlich klingenden Ton zu verstecken sucht, die sie in Momenten der Zärtlichkeit nicht zu verstecken vermag. Hörbar dem blinden Hörer noch zugänglich, arbeitet Isabella Carloni in ihrer Stimme eine Zerrissenheit heraus, die den Text des ganzen Stückes bestimmt.

Der Verlauf der Handlung wird eben von dieser Zerrissenheit getragen, er wird von ihr getragen und ist bereits in der Stimme in seiner ganzen Brüchigkeit angelegt: allein in der Stimme und noch bevor sie auch nur ein inhalttragendes Wort zu verstehen gibt, ist sie da und bleibt immer präsent.

Kein Monolog ist dieses Stück obwohl da nur eine einzige Frau spricht; getragen von einem Riss durch ihre ganze Person, entfaltet sich Sprache wie Handlung entlang dieses Risses, sprechen die beiden Teile der Persönlichkeit miteinander, lassen die andere, die geliebte Sara in ihrer Mitte zu sich kommen. Keine Rolle wird da gespielt, die Zerrissenheit ist die Rolle, die sich ihre Figuren sucht und je nach Gegenüber ins Sprechen taucht, sich hineinstoßen lässt in es. Spürbar wird dies teilweise noch innerhalb eines Satzes, den sie vielleicht voller Stärke beginnt um ihn gegen sein Ende hin in sich zusammenfallen zu lassen, ihn gleichsam versiegen zu lassen, und das teilweise noch gegen das inhaltlich Ausgesagte.

Eine Anerkennung ihrer Identität im Nicht-Identischen, im Gespaltenen erfährt Pina nur von einem alten Revolutionär aus den Kämpfen um Garibaldi, der um seine beiden Söhne trauert, die das italienische Militär erschoss als sie sich weigerten, der italienischen Soldatesca beizutreten, weil sie einfach nur Bauern bleiben wollten. Ihn wiederum sperrten sie in der Festung ein, schickten ihn immer wieder in einen Tümpel um Blutegel zur Gesundheitsförderung der Soldaten beizubringen. Seine Rache nun bestand darin, die Egel auf einer bleiverseuchten Wiese grasen zu lassen, und die Soldaten, denen die Würmer angesetzt wurden verstarben an den vergifteten Blutegeln, die ihr Gift in die Soldatenkörper abgaben. Sie erzählt Cecé, so der Name des Revolutionärs ihre Geschichte und der hat für sie mehr als Sympathie, findet sogar einen Namen aus dem Tierreich für sie, den sie sofort ihrer Freundin weitererzählt: Viola di mare, ein Fisch, der die Farbe des Weibchens annimmt wenn er sich in ein Weibchen verliebt hat. “Nein, es ist keine Sünde, was wir da tun, wir sind wie Viola di mare“.

Aber der Arm der Gesellschaft lässt nicht so einfach Freiheit und Freizügigkeit zu und seine perfide Rache kommt nicht einfach über Recht und Gesetz, sie kommt aus den Körpern, aus den eigenen abgerichteten Körpern, die unsere eigentlichen Gefängnisse sind.

Unter den Anweisungen des Vaters hatte das Mädchen sich zum Mann umzuerziehen begonnen, sich in Haltung und Verhalten der Männer hineinzudisziplinieren begonnen, hatte begonnen, das andere Geschlecht tatsächlich auch im Habitus zu werden, hatte die Bewegungen der Männer angenommen, hatte sich eine Stoffrolle zwischen die Beine geklemmt um zu spüren, wie das Ding zwischen den Beinen jede Bewegung des Mannes bestimmt, war losgeschritten, die Arme angewinkelt und nach außen ausgestellt, hatte passend zum breitbeinigen Gang eine Zigarette lässig im Mundwinkel, wurde das andere Geschlecht ganz körperlich, das andere Geschlecht, das ja für sie nie das ganz andere Geschlecht war. Oder genauer: das für sie genauso anders war wie das weibliche Geschlecht, das immer auch das andere Geschlecht war wie es das männliche auch war.

Im Dressurakt des Mädchens hin zur Perfektionierung seiner Erscheinung als Mann, in der erneuten Ausrichtung auf die Gesellschaft hin, von der es sich zuvor gerade befreit hatte, der es nun erneut und auf andere Weise zu genügen versucht, dressiert sich das Mädchen die Gesellschaftlichkeit seines Begehrens an. All diese Akte der Dressur werden in Isabella Carlonis Spiel real. Sie lässt den Mann aus der Retorte des Textes leibhaft erstehen, lässt Zuschauerin und Zuhörer teilhaben an der gesellschaftlichen Ausrichtung oder Dressur des weiblichen Körpers zum männlichen Körper.

Das Stück wirft die Problematik zwischen Authentizität der Geschlechter und ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit auf, ist Mann oder Frau authentisch und was an ihnen ist gesellschaftlich generiert. Wunderbar erwirkt Isabella Carloni mittels ihres Körpers und ihrer Stimme eine Spannung zwischen diesen beiden Polen, die die Zerrissenheit von Geschlecht, Körper und Gesellschaft spürbar werden lässt, den Text selbst Körper werden lässt, der den Inhalt nicht einfach darstellt, der hautnah sich über alle Poren des Zuhörers und der Zuschauerin legt seinen Atem an und in ihnen spürbar werden lässt.

Als Kern einer jeden radikalen Veränderung drängt sich so die Frage auf, ob eine solche radikale Veränderung überhaupt ohne eine Subjektivität des Identischen vollzogen werden kann, ob sie nicht immer von einer Authentizität ausgehen muss um von Befreiung überhaupt sprechen zu können, geschweige sie vollziehen zu können. Was etwa ist Entfremdung anderes als ein Bezug auf Eigentliches und ist Eigentliches aber anderes als Identität. Ist aber das nicht der Anfang von Vermessung und Knast oder wie es in Texten der Gnosis heißt: soma säma, der Körper ist das Gefängnis.

In Viola di mare kann die Befriedigung des Begehrens nichts mehr von ihrer ursprünglichen Subversivität behalten, sie wird im Gegenteil Träger der Ausbeutung, gleichsam ihr Schmierstoff und das nicht nur was die beiden Hauptfiguren betrifft, vor allem was die Nebeneffekte ihrer Beziehung betrifft, die Leitung eines Unternehmens, das moderat gelenkt effektiver funktioniert als mit brachialer Durchsetzung von Unternehmerinteressen.

Wunderbar ist die Befreiung der Zweigeschlechtlichkeit von der überholten Moral gelungen, wäre wunderbar gelungen, wäre da nicht der Körper, der, diszipliniert darauf besteht das Andere nicht mehr sein zu wollen, der darauf besteht, dass er das Andere geworden ist und zwar ausschließlich von nun an nur noch das Andere ist. Einerseits wird die Authentizität der sexuellen Differenz angegriffen, wird sie im Begehren in Frage gestellt, andererseits schlägt dieses Begehren zurück, verselbstständigt sich von seinem eigenen Ursprung, befreit sich von der Befreiung indem es sich, um dem Bild Genüge zu tun, alle Facetten des Bildes annimmt, koste es was es wolle: das Bild des Mannes, das Bild des erfolgreichen Unternehmers besteht darauf, dass ein solcher Mann einen Sohn zeugen müsse.

Hier nun beginnt die eigentliche Tragik der Liebesbeziehung zwischen Pino und Sara, von der Pina/Pino verlangt dass sie sich von einem dritten schwängern lassen solle, dass sie zusammen einen Sohn hätten. Sara will das eigentlich nicht, lässt sich darauf ein und wird tatsächlich schwanger, stirbt aber bei der Geburt zusammen mit ihrem Kind. Pina/Pino wiederum verzichtet daraufhin auf das Gemälde, das sie/ihn als Frau darstellen sollte, Pina existiert nicht mehr, und es wird sie nie wieder geben.

Viola di mare stellt zugleich die befreienden Aspekte des Begehrens dar, zeigt aber auch die konservativen Momente eines Beharrens auf sexuelle Identität und deren Vernutzbarkeit gekoppelt an Macht und Ausbeutung.

Der Körper von Gewicht kommt zurück und zerstört den Ausgangspunkt der Aufklärung indem das Objekt der Begierde sein eigenes Begehren walten lässt und genau da, wo das reale Geschlecht hereinbricht und die Verkleidung nichts mehr nutzt, wo gerade die alte Rollenverteilung über Sex gelebt wird und die klassische Rollenverteilung vom Körper selbst wiederhergestellt wird, genau da, wo ein Kind gezeugt werden soll, zerbricht der Sex die Genderrollenspielerei. Dargestellt ist also die Unberechenbarkeit des Begehrens, die eben nicht garantiert subversiv wirkt, die eben auch ihre Lust an der alten Rollenverteilung findet, und vielleicht gerade am Konservativen, an der Unterwerfung.

In Isabella Carlonis Text und Inszenierung entwickelt sich die Geschichte der Stimme, der Metamorphosen der Stimme, die mit dem Begriff der Rolle nur ungenügend zu umreißen wäre: die Erzählung, getragen von der Erfahrung, von der sie spricht, legt einen Raum aus, in den hinein sich die Stimme bettet um sie, die Erfahrung, die Erzählung ein und aus zu atmen, sie zu sein und das in einem Sein, das weit über das Hineinschlüpfen in eine Rolle hinausgeht.

Es sind keine Rollen, die da einfach gespielt werden, es ist die Darstellung einer Grundbefindlichkeit des Menschen, die Erfahrung der Zerrissenheit, die mit der angenommenen Entscheidung für das eine oder das andere Geschlecht in einer Biographie noch lange nicht beendet geschweige denn entschieden ist. In der Stimme der Isabella Carloni kommen beide Stimmen wunderbar zusammen, leben in ihr different und sind immer doch nur eine.

Isabella Carloni © Sauro Del Vicario

Viola di mare
von und mit Isabella Carloni

nach dem Roman: Minchia di re von Giacomo Pilati
Musik: Alfredo Laviano
Regieassistenz: Mariella Lo Sardo
Kostüme: Stefania Cempini
Licht: Daniela Vespa
Produktion: Arti e Spettacolo & Rovine Circolari