Die Rückkehr des Mythos als Aufhebung von Blendung
ROMEO CASTELLUCCIS ÖDIPUS DER TYRANN von Hölderlin/Sophokles an der Schaubühne Berlin
Tiefe Schläge einer Glocke wie von draußen. Die Mutter hatte damals dem Kind erklärt, das Abendläuten sei für die Verirrten im Wald. Damals, als mensch sich noch in Wäldern verirrte. Schwarze und weiße Schatten jetzt. Die Sehende sieht noch keine Verrichtung, die den Bewegungen der Schatten Sinn zusprechen könnte. Ein Husten. Immer wieder Husten. Da liege jemand im Bett, sagt Sie. Dem Husten nach ist es eine Frau, eine ältere Frau. Nachdem sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat erkennt sie in den Schatten Klosterfrauen, Nonnen in schwarzen und weißen Ordensgewändern. Schwarz sei die Farbe der Augustinerinnen, aber ob das eine Rolle in der Aufführung spiele. Er denkt an die Äbtissin in Norcia, einer energischen Frau, die bei der Verabschiedung mit zurückgenommener Stimme leise alles Gute gewünscht hatte, das hatte Sie ihm übersetzt.
Ein merkwürdiges Geräusch, als würde eine riesige Holztür geöffnet, als schabe etwas Schweres über den Boden, das zugleich etwas Tierisches an sich hat. Die Wände öffneten sich weiter und die Nonnen bauten um oder auf, ein Tisch werde hereingeschoben, ein längerer Tisch, eher eine Tafel die natürlich sofort an Leonardos Abendmahl erinnerte. Auch die Kranke wird an den Tisch herangeführt. Essen wird ausgeschöpft. Das Lesepult zur Rechten wird von einer Nonne besetzt, die die liturgische Lesung singt. Dann das Scheppern des Tellers, des Löffels, die Kranke fällt und wird ins Bett zurückgebracht. Klatschen eines Händepaares als Aufforderung, die Lesung, den Gesang wieder aufzunehmen, was auch sofort geschieht.
Der Alltag eines Frauenkonvents: das Zubereiten des Essens das Speisen, die Liturgie, der Tod. Die Kranke stirbt, wird aufgebahrt, wird liturgisch verabschiedet, begleitet von Chorgesang, von einer im Ton höheren Glocke. Immer wieder Auf- und Umbauen durch die Schwestern, in deren Folge und erst jetzt der Bühnenraum seine grell ausgeleuchtete Tiefe gewinnt. Immer wieder das Geräusch, diese Mischung aus Knarren und Schaben, halb dinghaft, halb tierisch, halb sich öffnender Schlund, als werde zugleich dem Öffnen und dem geöffneten Raum ein abstrakt akustisches Zeichen zugeordnet.
Vor dem Bett kniet die Äbtissin zum Gebet bevor sie sich zur Ruhe legen will. Zur Ruhe aber kommt sie nicht, da unter dem Bett, genauer unter dem Bettpfosten und um offensichtlich das Bett in die wackelfreie Horizontale zu bringen, ein Buch zur Stabilisierung untergeschoben wurde. Die Äbtissin zieht es hervor und beginnt zu lesen, die ersten gesprochenen Worte dieses Abends: Angela Winkler liest neugierig überrascht vor, eine zurückhaltende, zerbrechliche Stimme, die ihre Kraft aus dem sicheren Wissen um die Art, wie der Weg zu meistern sein wird, schöpft, wenn er auch noch so dunkel sein würde: Ödipus der Tyrann. Erste Szene. Sie liest den Theatertext und beginnt in die Rolle des ersten Dialogpartners von Ödipus zu schlüpfen, in die Rolle des Chores und Angela Winkler als Chorführerin, der Ödipus nun wiederum aus den Reihen der Nonnen entgegentritt, das weiße Überkleid ausziehend, darunter in weißer Tunika ihr Gegenpart, der König, Ursina Lardi, im Gegensatz zum Chor, der ratlos vor den König getreten ist, krank wie er/sie sagt. Mit fester Stimme hingegen der König, der Tyrann, der sich seiner Identität, seiner Herrschaft sicher ist, ihrer in diesem Moment noch sicher ist, wie der Stoff bekanntlich lehrt.
Wandte sich Regisseur Romeo Castellucci im Vorfeld gegen eine psychoanalytische und psychologisch interpretierende Deutung des Mythos, stellt sich nach diesen Bildern die Frage, ob dieser scheinbar allseits bekannte Mythos tatsächlich in all seinen Aspekten gewürdigt ist, oder ob mit Castelluccis Interpretation Fragen der Wirkmächtigkeit des Mythos sich nicht neu oder zumindest anders stellten oder stellen könnten.
Oder ob gar die neuerliche Interpretation nicht einen vollkommen anderen Aspekt aufwirft, der es ermöglichte, den Mythos erneut als Mythos zur Diskussion zu stellen.
Die Geschichte wäre schnell erzählt, zöge der Mythos mit seinem Personal nicht eine Reihe anderer Mythen zusammen, aus denen sich ein Deutungsgeflecht erwirkte, in dessen Netzen ein berührter Faden sogleich eine ganze Reihe anderer Fäden in Schwingung versetzt.
Die Geschichte, die mit Freud zum europäischen Allgemeinwissen wurde, ja zur anthropologischen Invariante menschlicher Gesellschaftlichkeit und Sexualmoral, geht von dem Orakelspruch der Pythia aus, der dem Laios, dem Vater des Ödipus gemacht wurde: er werde von seinem Sohn ermordet und der heirate dann seine Mutter, mit der er Kinder zeugen werde.
Um all dies Unbill zu vermeiden, meidet Laios zunächst das Ehebett, wird aber von seiner Frau Iokaste unter zu Hilfenahme von Aphrodisiaka verführt. Sie wird schwanger und gebiert Ödipus. Um der Verheißung trotzdem zu entgehen, übergeben die Eltern den Säugling einem Hirten, der das Kind auf die eine oder andere Weise zum Verschwinden bringen soll. Dem Hirten dauert das Kind und er übergibt es einem befreundeten Hirten, dessen Herrschaft kinderlos ist. Der junge Mann lässt sich von der Seherin weissagen, dass er seinen Vater umbringen wird. In der falschen Annahme, der Mann und die Frau, die ihn großgezogen haben, seien seine Eltern, flieht er aus dem Elternhaus und begegnet an einer Wegkreuzung einem Greis mit Gefolge, der seine Vorfahrt mit Schlägen durchzusetzen sucht. Nachdem der Alte mit seinem Stab auf seinen Kopf einschlägt, bringt ihn Ödipus kurzer Hand um. Er kommt nach Theben, wo der Thron vakant ist und die Königsgattin dem versprochen ist, der die Stadt von der Herrschaft der Sphinx befreien würde, die nach und nach die thebanischen Jünglinge frisst und die nur durch die Lösung des von ihr an die Einwohnerschaft gestellten Rätsel befreit werden könne: was es denn sei, das zunächst auf vier Beinen dann auf zwei Beinen, dann auf drei Beinen einherschreite. Ödipus erkennt darin zu Recht den Menschen und die Sphinx stürzt sich von einem Felsen in den Tod. Ohne zu wissen, dass der Alte, den er da umgebracht hatte sein Vater und der König von Theben war, heiratet er Iokaste und zeugt mit ihr vier Kinder ohne zu wissen, dass diese Kinder zugleich seine Kinder wie Geschwister sind, da Iokaste seine Mutter wie seine Gattin ist. Soweit der Kern der Erzählung, die im Laufe der Tragödie nach und nach aufgedeckt wird.
Mythos Grundstruktur aller Handlung
Castellucci interpretiert den Stoff zunächst nicht an sich, seine Interpretation beginnt mit der Negation der Tragödie als Theaterstück. Indem er sie als Schauspiel in ein anderes Geschehen einlässt, gelingt es ihm, den Mythos als Grundstruktur aller Handlung und Handlungsabläufen zu verankern. Es geht ihm nicht um das Aufzeigen der Aktualität des Stoffes der sich unweigerlich an der Freud’schen Deutung des Inzestes abarbeiten müsste, sei es als weitere kritische Interpretation oder als deren Überwindung. Statt Vatermord und Mutterbegattung rückt mittels Akustikregie die Figur des Mythos selbst in den Vordergrund, die Figur des Mythos und getrennt sie von ihrem Inhalt. Scharnier dieser Operation ist die Gestalt des Teiresias, der hier nicht nur auftritt als blinder Seher, der als Figur auch Zusammenhänge stiftet, die unausgesprochen im Geschehen mitschwingen. Das betrifft die Frage seiner Herkunft genauso wie die Frage seiner Erblindung selbst, die in mehreren Richtungen wirkmächtig aber imaginär gestreut erscheint. Steht sie am Beginn des Mythos und seiner Enträtselung, gilt es zunächst ihrem Ursprung nachzuspüren um uns von hier aus der vermeintlichen Selbstblendung des Ödipus anzunähern.
Teiresias, Sohn der Nymphe Chariklo, trifft bei seinem Weg über den Berg Kithairon auf zwei kopulierende Schlangen, die ihn einerseits an seine Herkunft aus dem Geschlecht des Kadmos und der Harmonia gemahnen, die in Gestalt von Schlangen Theben einst verlassen hatten, nachdem sie die Stadt und ihr Königsgeschlecht gegründet hatten, einem Geschlecht, dem Teiresias genauso entstammte wie Laios und Iokaste, die Eltern des Ödipus. Was ihm aber vor allem am Schlangenpaar ins Körpergedächtnis gerufen wurde, war seine eigene Geschlechtlichkeit, die männlich wie weiblich war. Um gewaltsam eine Entscheidung zu treffen, sich dabei für das Männliche in ihm zu entscheiden, schlägt er dem Schlangenweibchen den Schädel ein und tötet es. Zur Strafe für diese Verwerfung wird er zur Frau, als welche er sieben Jahre leben wird, sich als Prostituierte in dieser Zeit verdingend. Als er sieben Jahre später am selben Ort erneut auf zwei kopulierende Schlangen trifft, tötet er dieses mal das Männchen und wird wieder zum Mann.
Seine Erblindung erklärten drei Mythen unterschiedlich: der eine sieht Teiresias in einen Streit zwischen Hera und Zeus hineingezogen, wer mehr Lust am Sex habe Mann oder Frau und wer wüsste das besser als Teiresias, der beider Erfahrungen hatte. Die menschliche Erfahrung hat nur der Mensch, die Erfahrung der Götter ist etwas anderes, ist das Andere schlechthin. Um Erfahrung zu haben, bedürfen die Götter der sprachlichen Mitteilung der Menschen. Teiresias nun gab Zeus recht, der die Frau als die mit mehr Spaß am Sex erkannt hatte. Hera widersprochen zu haben ließ die Götterfürstin erzürnen und Teiresias zur Strafe erblinden. Zeus wiederum, der den Fluch der Hera nicht aufzuheben vermochte, gab Teiresias als Dank für sein Urteil die Sehergabe.
Der andere Mythos will Teiresias die nackte Artemis im Bade gesehen haben, die ihn mit ihrem Badewasser vollspritzte um ihn zu blenden. Als seine Mutter, die Artemis als Nymphe diente, sich bei der Göttin über diese Reaktion beschwerte, gab Artemis ihm die Sehergabe zum Trost.
Die dritte Variante der Ursache der Erblindung: nicht Artemis sondern Athene wird nackt von Teiresias gesehen. Eine Schlange, die Athene in ihrer Brusttasche trägt, leckt Teiresias die Ohren aus und macht ihn zum Seher, das Sehen, das aus den Ohren kommt, die Schlange am Busen der Göttin, lässt ihn Vogelstimmen verstehen.
Castellucci entwickelt seine Inszenierung entlang der Differenz zwischen Hören und Sehen, zwischen Bild und Geräusch.
Das Bild erwirkt den Ausweg, erwirkt die Erklärung. Das Hören, das Geräusch ist nicht erklärbar, es ist und bleibt Rätsel. Das Hören bleibt dem Mythos nahe, das Bild verrät ihn im Geschehen, bringt das Geschehen hervor, ist nicht sein Ab-Bild, seine Reproduktion, das Bild ist das Geschehen selbst.
Das Akustische wiederum löst sich vom Bild, verselbständigt sich von ihm, wird so zu etwas Untergründigem, zu einem unaussprechlichem Subtext, muss zu dergleichen werden, weil es dem Bild nicht entsprechen kann, weil seine Aussage eine andere ist als die des Bildes, weil es sich dem Bild nicht unterordnet.
Aber das Akustische selbst wird auch zu seiner eigenen Abspaltung, entzweit sich, spaltet sich in den erzählbaren Inhalt und dessen körperlichen Folgen auf. Im Gegensatz zum Visuellen, das einfach, sozusagen verständlich gegliedert ist, könnte man vom Akustischen in mehreren Ebenen sprechen: Dem Akustischen, das der Ebene des Textes und dem was seinem unmittelbaren Verständnis zuträglich ist; dem Akustischen als Zeichen, das Räume oder Zeiten oder Ereignisse ausweist; dem Akustischen, das nicht nur unfassbar ist, das Unfassbarkeit als Unterschwelligkeit, als bestimmende Unbestimmtheit zu sich kommen lässt ohne dass dies als eindeutiges Zeichen auftauchen könnte oder würde oder als solches gehört werden könnte. Das Enigmatische taucht auf ohne ins Nebulöse zu führen, es wird was es ist, indem das Akustische konsequent, gleichsam logisch zu sich kommt, sich wiederholend, sich spiegelnd, in sich selbst zu sich zwingend.
Deutlich wird Castelluccis Umgang mit dem Akustischen exemplarisch in der Szene kurz vor dem Abgang des Teiresias dessen Weissagung von der Wucht seiner Wirkung überrollt wird, als ob Mauern ins Wanken geraten, als ob eine Feuersbrunst sich über alles hinwegwälzt, als ob die Wucht der Wirkung die Kraft der Ursache übersteigt, sie ins akustische Nichts hinabstößt, sie unhörbar macht.
Die drei Gestalten der Zeit
Da ist zum einen das eben Besprochene: eine allein körperliche Spürbarkeit des Akustischen, die in sich hineinzieht und immer tiefer hineinzieht in etwas, das aller akustischen Eindeutigkeit entzogen ist und dadurch umso mehr Kraft entfaltet um in sich noch tiefer hineinzuziehen. Demgegenüber die akustisch erwirkte Erkennbarkeit von Räumen, von Stimmungen, die Glocke, die zum Gebet ruft, eine andere, höher gestimmte, die das Totengedenken einläutet, die Vögel, die akustisch den Garten skizzierend umreißen.
Zum Dritten das abstrakte Öffnungsgeräusch, das nirgendwohin zieht, das ein nicht umrissenes Hinein aufzeigt. Damit wird es zu einer akustischen Metapher des Mythos selbst, der seinen Gehalt verloren hat, in dessen Leere nur eine Sogwirkung übriggeblieben ist, eine Anziehung, die die Kraft anzuziehen behalten hat, aber nicht mehr die Kraft hat, mit ihrem Inhalt festzuhalten. Im Unterschied zu diesem Geräusch des Öffnens, das einen Rest von Zeichenhaftigkeit an sich trägt, ist der Sog des Geräusches vor dem Abtreten des Teiresias nichts mehr als eine ästhetische Erscheinung, nichts als tosende Überwältigung.
Dadurch aber transformiert sich der Mythos, wird gegenwärtig ohne eindeutige Gestalt behalten zu können. Keine psychologische Interpretation lässt er zu, kein Freudianischer Versuch einer Anthropologie, einer menschheitsbestimmenden psychischen Grundstruktur. Eher sucht der Mythos nach etwas, das seine Gestalt verdeckt, das eine Gestalt quasi vorschiebt, sie annimmt eine Gestalt unter der er wirkt, ins Alltägliche hinein wirkt. Die Gültigkeit von Mythos fokussiert wie in einem Brennglas eine Interpretation unter sich zu einer bestimmenden Kraft, die alles um sich herum einschmelzt. Castellucci gibt dem Mythos die Gestalt zurück, von der er ursprünglich ausgegangen war, dem delphischen Orakelmotto: „Erkenne dich selbst!“ Aus dem mythischen Kollektiv tritt das selbsterkennende Individuum als Subjekt heraus, das kritisch sein Selbst vom anderen und von den anderen absetzt, das die Voraussetzung des bürgerlichen Subjektes ist, das Gesellschaft in kritischer Distanz sieht, das widersteht, das Widerstand leistet, das die Reaktion des Staates provoziert, der ihm in seiner militanten Konsequenz mit Tränengas entgegentritt und ihn auf diese moderne Weise blendet.
In der Konfrontation von Dionysos mit Apollon hatte Nietzsche bereits die quasi dialektische Bewegung des Mythos in der Gestalt der Tragödie erkannt. Castellucci bringt diese Bewegung selbst als eigentliche Figur, die freilich nie in Gestalt auftritt auf die Bühne. Nun wäre das eigentlich kein sonderlich neuer Gedanke, Castellucci taucht ihn aber ins Licht des Christentums und der christlichen Rationalität. Drückt ihn durch die Ausleuchtung des Christentums aus und das versetzt den Mythos in ein vollkommen neues Licht. Ödipus wird aufgeführt ohne im eigentlichen Sinne aufgeführt zu werden. Der Ödipus wirkt ohne dass sein inneres Wirken Gestalt fände. Das Wirken des Mythos wirkt anhand der Konstellation, in die ihn der Regisseur durch die Schauspielerinnen erscheinen lässt. Ein Spiel im Spiel, das in eine, sich unabhängig von ihm sich vollziehende Handlung eingepasst ist, die aber ihr ganz spezifisches Licht in Bild und Akustik auf es wirft.
Um aller Interpretation eines ödipalen Dramas entgegenzuwirken, versetzt Castellucci die Tragödie in ein Frauenkloster als vermeintlicher Spielstätte und bringt es damit in Distanz zu seinem bestimmenden Inhalt.
Der Schäfer übernimmt den Stab, das Kreuz, nimmt es dem Lamm ab, übernimmt die Schuld, übernimmt die Verantwortung auch für das Lamm: die christliche Rationalisierung, im Gleichnis löst sie sich vom Mythos. Am Anfang der Szene dieses Bild, am Ende die Lösung der Akustik von ihrem Inhalt als Sog hinein in den Mythos.
In der christlichen Überblendung des Ödipus, seinem Versuch dem Schicksal zu entgehen, schält Castellucci das Individuum aus dem Mythischen heraus, lässt aus der Schuld das schuldige Subjekt erstehen, das der Staat auch mittels Tränengas zu blenden, zu bestrafen sich anmaßt.
Der Inzest wiederum, der im griechischen Mythos vielleicht gar nicht die verwerfliche Rolle gespielt hatte, wie Freud uns das zu vermitteln versucht, sinkt in die Reihe der anderen Inzestgeschichten zurück, angefangen von der des Zeus selbst, der in Gestalt einer Schlange die Schlangengestalt seiner Mutter begattete, nachdem diese ihm verboten hatte zu heiraten.
Was allerdings sich im Mythos und gerade in der Ansiedelung der Handlung im christlichen Kontext nach vorne schiebt, das ist die Schlange und mit ihr ihre breite vor allem vom Bösen her konnotierte Gestalt und hier ihre Pfählung in allen Erscheinungen. Das Christentum konnotiert die Schlange, die in der griechischen Antike durchaus positive Bedeutung ausstrahlte, mit dem Negativen, mit dem Bösen. Wie das Andere im anderen Geschlecht nicht auszumerzen ist, und dies lehrt uns ja gerade der Teiresiasmythos, ist mit der Erschlagung der Schlange, diese nicht einfach auszuradieren: eher ist es eine Art Stillstellung des Chaos in der Form, wie sie ja auch in Nietzsches Geburt der Tragödie durchscheint, die Formwerdung als Möglichkeit der Handhabung des anderen im Einen. Auf diese Art von Stillstellung des Chaos spielt wohl auch Castelluccis auftauchen des Ödipus in Gestalt des Buches an, das ja beides ist, einerseits eine „Festlegung“ in Gestalt des Bettpfostens, anderseits das andere als Grundlegung der Statt, in welcher sich zu betten ist.
Vielleicht ruft eine jede Lektüre etwas in unserem Fleisch auf, dessen Inschrift nie aufgehört hat, Bilder Geräusche und Worte um sich herum zu sammeln, um Erklärungen zu finden für etwas, dessen Ereignis niemals in etwas anderem existierte denn in seiner Inschrift.
Vielleicht ist Castelluccis Inszenierung der Versuch, dem Unsichtbaren Unhörbaren eine Pforte zu öffnen, durch das hereintreten könnte, was all dem eine Geschichte gibt, worin Mythos sich erneut zu schreiben begänne ohne wahnsinnig werden zu müssen, ohne sich blenden zu müssen, weil mensch blind genug ist „um den Docht zu entzünden.“