Die Rückseite der verkrüppelten Schönheit
Zu RAVEL RAVEL UNRAVEL, 2013 und UNRAVEL, 2013 von ANRI SALA
Venedig, Barriere gegen die See, in Kanälen dümpelt sie in kleinen Dosen herein. Venedig Landnahme gegen die Gezeiten, nur von Normalen und Gesunden lässt sie sich erfahren. Eine Stadt, für sogenannte Behinderte unbegehbar, auch wenn Giuseppe Sinopoli von den Brücken seiner Heimatstadt als erfahrbaren mystischen Auf- und Abstieg zwischen Himmel und Hölle spricht.
Die Stadt als ergehbarer Mythos, der nur ergangen werden kann, wenn mensch gehen kann. Gibt es ein trefflicheres Bild für eine immer nur gebrochene Erfahrung. Könnte ein besserer Ort gefunden werden für das Werk, das einem Behinderten auf Grund seiner Behinderung gewidmet, das der in Auftrag gegeben hatte um sein Talent zu beweisen, ein Talent das eben dieser Behinderung trotzen wollte.
Für die Biennale di Venezia 2013 hatte der albanische Künstler Anri Sala zwei Einspielungen des Klavierkonzerts für die linke Hand von Maurice Ravel einer DJane übertragen um zwei unterschiedlich schnell gespielte Einspielungen zu Synchronisieren. Vom einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein in Auftrag gegeben, hatte Ravel, berührt vom Schicksal Wittgensteins, der im ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte, im aufwühlend romantischen Stil dieses Konzert komponiert, hatte es in vielen Strecken tief dunkel eingefärbt erstrahlen lassen und damit auch seiner eigenen Todesnähe Ausdruck verliehen. Schmeichelnd umspielt es Erwartungen, Wissen, Erfahrungen. Pathetisch aus dem Düsteren schwillt es hoch zum Strahlen, lässt das Dunkel hinter sich und dieses sich ist das Hörbar-Werden eines Wegs oder genauer eines harmonischen Verlaufs von Akkorden und Melodien, so dass das, was folgt eigentlich nur noch vollzogen werden muss, weil es im eingefleischten abendländischen Musikverständnis zu erwarten ist, oder zu erwarten wäre, wenn es im Moment seiner Einlösung, seiner Vollendung in Gestalt seiner Apotheose nicht abgebrochen werden würde: abgebrochen in beinern trockenem Schlagwerk wie in blechern keckernden Trompeten, die an grausige Szenen in Mahlers sechster Symphonie erinnern, wo Marschrhythmen zum Tanz in den Tod aufspielen.
Dann das zweite Mal Salas Arbeit bei der Berlin Biennale 2014, dort im Haus am Waldsee aufgeführt. Blick aus der Villa. Dort unten der See, dem der Wald eine kleine Mulde ließ um sich auszubreiten. Hinter dem Blick durch die Balkontür zu hören, das Klavier: schmale Fäden aus Tönen von den Wänden, die sich das Ohr zu Echtzeit sammelt. Verschwindend gegen das Echo der Aufführung. Im Video das Gesicht einer Frau zu sehen, die konzentriert auf etwas starrt. Zu hören das Klavier eben und dann das Orchester, von dem es sich in Skalen nach oben tragen lässt. Eine Tonspur, in die hinein die Frau starrt ohne dass zunächst ersichtlich, in welcher Beziehung sie zu den Tönen steht, bis sie sich bewegt und ihre Bewegung ruckartig die Aufführung unterbricht: ein Schrappen in ein Quietschen hinein wie in ein Bremsgeräusch, das in einem schreienden Kratzen ausläuft. Stille. Dann ein kurzes Herausblähen von Tönen wie aus Krötenbacken gestoßen.
Er sieht den See, den roten Regenmantel, das blonde, im Wasser ruhig mit den Wellen spielende Haar, der Schrei des Vaters, der in Zeitlupe den regungslosen Körper seiner Tochter aus dem Wasser trägt.
Schritte über das knarrende Holz der Treppe nach oben, hinein in die Akustik des Videos und als sie die Musik hören verstummt das Sprechen zweier Frauen, die sich still in den Raum vor die Leinwand stellen. „Das ist Venedig“, sagt Sie. „Der französische Pavillon, den man durch das Fenster sieht, die Musik, das ist die Arbeit im deutschen Pavillon, die Arbeit von Anri Sala für die Biennale in Venedig letztes Jahr.“
Schnitt. Ein Geräusch und sein Echo. Unterbrochen die wohlklingende Abfolge hinein in das Grausen, abgepolstert von düster romantischen Aufbäumen ins Pathos, das erwartbar versöhnt, und Kunst entrückt noch das grausigste Geschehen, bereitet es dem Genuss auf, taucht den Tod in eine wunderbare, zumindest wundersame Morbidität.
Dunkel, nur Geräusch zunächst, nur Gemurmel, als sammle sich der Ton für seinen Aufstieg ins Licht, müsse bei sich da unten erst Kraft schöpfen um zu sich zu kommen für den Weg hoch. Aus Kontrabässen und Celli macht er sich schmal im Gurgeln des alleinstehenden Kontrafagotts, wird herausgezogen von Posaunen mit denen er in einem punktierten, tänzelnden Rhythmus emporsteigt über die Oboe hin zu den Violinen. Dann aber: immer wieder getrommelte Wirbel, marschähnlich aber auch so, als gelte es auf einen unheiligen, unheimlichen Tusch zuzuwirbeln. Der Weg ins Licht, kaum dass er das Publikum an sich gewöhnte wird er wiederholt und in dem Moment, an welchem das strahlende Kulminieren in einer Klangexplosion zu erwarten gewesen wäre, wie schon gehört, da bricht ein grausig knöcherner Abbruch herein, gefolgt von einem marschartigem Rhythmus, der alle Stimmen mitreißt, der nicht aufzuhalten scheint, der das Orgiastische rhythmisch zügelt, kanalisiert, es in die Nähe des Kriegsgeschehens stellt.
Am Anfang des Bruches, des Schnittes steht also die Wiederholung. Zuerst wird das Ohr an eine Abfolge von Melodie, von Harmonie gewöhnt um dann im Einbruch diese Gewohnheit, ihre Erwartung zu zerstören. Wie der Komponist das aber macht, womit und in welchen Tönen und Tonerwiderungen, in welcher Instrumentation er das tut, das setzt ein Denken entlang von Assoziationen in Gang, die dem Abbrechen, dem Einschneiden eine konkrete Gestalt zuspricht, die den Schnitt in ein Bild verwandelt: Musik bildhaft werden lässt, Bilder des Katastrophischen, Bilder des Todes.
Die Blinde: sie habe die tote Tochter gesehen lachend zwischen ihren Eltern, und einen rotleuchtenden Regenmantel habe sie getragen, dem dann im Venedig des Nachts der Vater folgt, den Namen der Tochter aussprechend, sie ansprechend von hinten, sie rufend, der Vater, von dem die Blinde sagt, er habe die Gabe und das sei ein Fluch. Dann aber dreht sich das Wesen im roten Regenmantel um…
Auskomponierte Behinderung als Schönheit
Für Frankreich war Anri Sala aufgetreten, hatte seine Videoinstallation allerdings im deutschen Pavillon ausgestellt, da Deutschland und Frankreich im Rahmen der Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag des Ausbruches des ersten Weltkrieges die Pavillons getauscht hatten. Die Haare hinter das Ohr gelegt starrt sie hinunter und dann zeigt die Kamera das, worauf sie starrt, ihre Hand, nur eine Hand zunächst, die über einen Turntable gehalten, schwebend gleichsam, als hypnotisiere sie etwas. Ravel Ravel Unravel, eine Videoinstallation des albanischen Künstlers Anri Sala, in Venedig drei Ton- und Filmspuren auf drei Räume verteilt, bei der Kunstbiennale in Berlin sind davon nur zwei zu sehen, der eine Teil im Haus am Waldsee, der andere im Ethnologischen Museum in Dahlem.
Sala lässt für seine Arbeit das Klavierkonzert für die linke Hand von Maurice Ravel von zwei Interpreten spielen, die von zwei unterschiedlichen Orchestern begleitet werden. Beide Aufführungen nimmt er auf, lässt sie teilweise synchron auf einer Leinwand erscheinen. Die beiden Pianisten etwa bei der Aufführung übereinander, ihre linke Hand jeweils, die rechte herunterhängend. In Berlin ist im Gegensatz dazu nur die DJane zu sehen, die vor zwei Turntables mit der Aufgabe betraut ist, die beiden Aufführungen zu synchronisieren. Das alles ist in Venedig zu sehen, in Berlin muss es erklärt werden, sprich nachgelesen werden, da alle Bilder der beiden eigentlichen Aufführungen in Berlin fehlen, während in Venedig sie eingeblendet sind. Zu sehen ist dabei aber vor allem die Unterschiedlichkeit zweier Interpretationen, die in der Synchronisierung durch die DJane zu einem neuen Werk gemacht werden sollen. Die unterschiedliche Geschwindigkeit der beiden Pianisten aufgrund ihrer unterschiedlichen Interpretation des Werkes und deren scheinbar gegenseitiger Ausschließlichkeit wird in ihrer Überwindung gezeigt. Die Berliner Schau des Werkes beschränkt sich einzig auf den akustischen Versuch der Synchronisierung durch DJ Chloé, deren Arbeit des Scratchens auch in Berlin beobachtbar ist und die freilich im Zentrum von Salas Arbeit steht.
Dem entsprechend noch ein ganz anderer Schnitt: Ein Schnitt, der mit dem auskomponierten Schnitt, dem Schnitt innerhalb des Werkes nicht vergleichbar ist, ein Schnitt mit einer Nadel geritzt, ein Schnitt, der verletzt ja verkrüppelt, der allen Fluss behindert, der bestenfalls noch weghinken lässt, ein Schnitt hinein in die Musik, der nicht komponierbar ist, der die Komposition beendet, der sie gebraucht, der sie missbraucht, wie Komponisten sagen könnten, der sie in reines Material zurückverwandelt um es anzueignen, ein Schnitt, den sie, die Schriftkomponisten, als Straftatbestand des "Diebstals geistigen Eigentum" verfolgen lassen könnten.
Durch die Synchronisierung, einem Übereinanderblenden von zwei unterschiedlichen Handlungsabläufen: im Bild behalten die beiden Aufführungen ihre Form, weisen nur Differenzen der Zeit auf. Im Akustischen ist solche Art Gleichzeitigkeit nur an einem Ausganspunkt möglich. Kaum dass der Zeitverlauf der Handlungen begonnen, driften die beiden Zeiten auseinander. In dieser hörbaren Ungleichzeitigkeit entsteht aber etwas ganz anderes, es entsteht der Eindruck von Echos und dadurch eines Echoraumes. Ähnlich wie in den Sechzigerjahren Steve Reich zwei Kassettenrecorder, deren Abspielgeschwindigkeit leicht differierte, dieselbe Bandaufnahme abspielen ließ um dabei festzustellen, dass genau ein solcher Raum sich auftut, sobald eine Klanginformation sich verdoppelt, dass ein dreidimensionales Raumgefühl sich einstellt. Sobald Zeit ihre eindeutige Identität verliert, tut sich bei der gleichzeitigen Abspielung zweier Interpretationen desselben Werkes ein Raum auf der, gleichsam metaphorisch, Raum aus der doppelten Umsetzung von Schrift sich konstituieren lässt.
Während sich das Handwerk der DJane rein am Musikalischen und den Arten, wie es hervorzubringen ist beschreiben lässt, sich in gewisser Weise aller Geschichte und deren Erzählungen entzieht, drängt sich in Salas Arbeit die Geschichte des Musikstückes, ihre Analyse wie die Geschichte seines Auftraggebers und Interpreten mit den Auseinandersetzungen mit dem Komponisten auf und das Geräusch des Scratchens gewinnt eine zugleich symbolische wie wörtliche Bedeutung, die an Geschehen wie Bildern von Behinderung, von Verkrüppelung, von Autorität und Herrschaft, gepaart mit Behindertenfeindlichkeit nicht vorbeikommt. Die Nadel bringt so nicht einfach nur mit den durch sie verursachten Geräuschen neue Erfahrungen von Klängen herein, mit ihr als Nadel kommt, wo am Körper der Komposition Eingriffe von ihr vorgenommen, wiederholt der Schmerz auf, der an und in der Geschichte der Komposition und ihrer Interpretation immer mitschwingt.
Für Salas Werk spielt der hundertste Jahrestag des Kriegsbeginns 1914 mit herein, der Beginn jenes Krieges, bei dem der Pianist Paul Wittgenstein seinen rechten Arm verloren hatte. Wittgenstein, Sohn aus einer Fabrikantenfamilie und Bruder des Philosophen Ludwig, setzte mit enormen Ehrgeiz alles daran, seine Pianistenkarriere mit einem Arm fortzusetzen; das Geld der Familie sollte ihm dabei helfen, bei Ravel wie bei anderen namhaften Komponisten - wie Prokofjew, Hindemith, Korngold, Richard Strauss - Klavierkonzerte für die linke Hand in Auftrag zu geben. Ravel schien die Anstrengung die in solchem Ehrgeiz lag ins Werk fassen zu wollen, als er den Anfang seines Klavierkonzertes für die linke Hand pathetisch aus der dunklen Tiefe des reinen Materials einen Weg ins Licht heraussuchen ließ, in welchem dann der Einsatz des Klavierparts erstrahlte um immer wieder ins Dunkle der Tiefe hinunter zu stürzen oder wenigstens hinunter zu steigen, um sich da heraus erneut ins Licht emporzuarbeiten. Im Duktus schien da vom Komponisten genau die Anstrengung des Pianisten gemeint gewesen zu sein, mit der dieser sich seine Kunst erkämpft hatte und immer wieder in enormer Anstrengung erkämpfen musste.
Ravel habe sehr betroffen auf Wittgensteins "Schicksal" reagiert, der zum Krüppel geschossene Pianist, der mit enormem Ehrgeiz weiterspielt und spielen will. Spätestens aber da, wo das eigene Werk vom anderen sehr eigenwillig interpretiert wird, war Schluss mit dem Wohlwollen. Wittgenstein wurde vom Komponisten nach der Uraufführung vorgeworfen, dass das was er da gespielt habe, in der Partitur nicht zu finden sei. In einem wütendem Brief wiederum entgegnete Wittgenstein der Interpret sein kein Sklave und dann die berühmtberüchtigte Antwort Ravels: „Der Interpret IST ein Sklave.“
Indem der Videoperformance im Berliner Haus am Waldsee das Bild der Produktion, sprich der Aufführung des Materials verweigert wird, wird bildlich zunächst gar nicht so recht klar, was den Kern von Salas Arbeit ausmacht. Sala ließ für Ravel Ravel Unravel die Partitur des Klavierkonzertes von zwei Orchestern und Pianisten einspielen um so eine annähernde Vergleichbarkeit zwischen beiden Einspielungen zu gewinnen. Zwar interpretieren beide Pianisten und beide Dirigenten das Werk unterschiedlich, dauert die jeweilige Einspielung dementsprechend auch unterschiedlich lang, in der Produktion sind beide Aufnahmen aber vergleichbar, was bei einem Vergleich der Einspielung Wittgensteins, die es tatsächlich auch gibt, und einer neueren Einspielung nicht machbar gewesen wäre. Zudem wurde derselbe Aufführungsort gewählt zumindest Orte mit vergleichbaren Nachhall. Dieser Nachhall spielt beim Scratchen durch die DJ Chloé eine insofern nicht unerhebliche Rolle, da durch das übereinanderlegen der beiden Tonspuren ein künstlicher Raum entsteht, dessen klare Erkennbarkeit, die sich allein aus den beiden Geschwindigkeiten der Aufnahmen ergibt, durch einen unterschiedlichen Nachhall sowie durch unterschiedliche Materialgeräusche der Vinylscheiben beträchtlich gestört worden wäre.
Nicht klar aber wird vor allem die glättende Wirkung des Bildes auf den Klang und die Auswirkung der subjektivierenden Wirkung des Portraits einer Künstlerin auf ein Werk, das auch ihr Werk ist, aber nicht allein. Salas Wahl für Ravels Klavierkonzert ist einerseits weder von der Kompositionsgeschichte zu trennen noch von Ravels, vor allem in La Valse und ebendem Klavierkonzert kulminierenden Auseinandersetzung mit dem Tod. So interpretiert Ravels Biograph Ohrenstein die Düsterkeit des Konzertes, zu der die Komposition trotz tänzerischer Passagen mit einem Rhythmus aus punktierten Notenwerten, Anleihen bei Jazz bzw. Blues und in Kinderliedform geschriebenen Passagen immer wieder zurückkommt: „Das Klavierkonzert für die linke Hand hat eine Reihe psychologischer Interpretationen hervorgerufen, basierend etwa auf Ravels Warnung vor der nahenden Verschlechterung seines Geisteszustandes oder einer Bemerkung über die Tragödie und Nutzlosigkeit des Ersten Weltkriegs. Mir erscheint es eher als Höhepunkt von Ravels dauernder Beschäftigung – man könnte sagen: Besessenheit – mit dem Tod. In Ravels Werk kehrt das Todesmotiv ständig wieder, und der gequälte Schluss von „La Valse“ und das Konzert für die linke Hand sind nur zusätzliche Äußerungen dieses Phänomens.“ (Arbie Orenstein) Der alte und aufgezwungene, vielleicht aber auch selbst auferlegte Ehrgeiz: dass der Behinderte mit seinem einen Arm zu beweisen hat, dass er genauso komplex und dicht zu spielen vermag wie einer mit zwei Armen und Händen und der Komponist, der präsentiert eine Komposition, die dazu taugen soll, dass der Einarmige genau das dem Publikum zu beweisen vermag, eine Komposition, die so dicht komponiert ist wie für einen Menschen mit zwei Armen und Händen geschrieben. Durchaus lag Ravels Intention darin, in der einen spielenden Hand, eben der linken, Melodie wie Begleitstimmen so sehr zu verdichten, dass der Klang so wirkt, als spielte da einer mit zwei Händen. Die Melodiestimme erfordert ja einen ganz anderen Anschlag als die jeweiligen Begleitstimmen, diese Differenz hatte der Einarmige aus den fünf Fingern seiner einen Hand herauszudifferenzieren. Der Behinderte hat also so zu tun, als ob er eben keinerlei Behinderung habe als wenn er normal im Sinne der Normalen wäre.
In einer engen Gasse steht sie dann mit dem Rücken zu ihm, der rote Regenmantel, die langen blonden Haare; er spricht sie an, spricht ihren Namen aus, tritt ganz nahe an sie heran und plötzlich dreht sich das Wesen um und es ist nicht die Tochter, es ist eine zwergwüchsige Frau mit einer Rasierklinge in der Hand, mit der sie blitzschnell nach vorne fährt und ihm die Kehle aufschneidet. Die Blinde sieht’s in einer Vision und schreit, schreit hinein in die Nacht, aus der heraus die Gondel fährt, die mit schwarzem Samt bekleidet, seine Frau darauf, die Frau und die Blinde, schweigend, bis die Kamera auf dem Gesicht der Frau ruht und als wüsste sie um die andere Seite, beginnt sie zu lächeln.
Jenseits diesen idealistischen Unterfangens taucht in der Realisierung das als Störung auf, das allen Idealismus ausbremst: das Material und gerade im Material bricht das herein, was der Idealismus so kompositorisch zu überspielen wusste, was sich aber nicht überspielen lassen will, die Verkrüppelung, das Unvermögen, das Gebrechen, ganz wörtlich: Bruch, Schnitt, Tod. Im romantisch aufgewühlten Kompositionsstil komponiert Ravel all dies aus, aber alle Komposition ist immer nur ein Bild über dem Schnitt, ist der ästhetische Genuss des Todes, ist das Sirenische unter den Fesseln, die davor bewahren, verschlungen zu werden, so die Interpretation bürgerlicher Kultur durch Adornos Dialektik der Aufklärung, die er aber selbst nicht zum Ende der Zerbrechung der bürgerlichen Ästhetik denken wollte und da stünde der Punk, oder der Blackmetal, vor denen es ihm gegraut hätte und es graute ihm ja schon vor dem Jazz. Sala und mit ihm DJ Chloé nehmen das von Ravel auskomponierte Material ernst und lesen die Ravelsche Klangwelt als klangliche Bildhaftigkeit, in der die Verkrüppelung im Zentrum stehen solle.
Musik als Gedächtniskunst lebt von der Erinnerung bereits in einem ganz einfachen Sinne, als die Melodie von ihrem immer im Gedächtnis bleibenden Anfang als Keimzelle des Musikalischen sich bestätigt wissen will und das heißt sich erinnert wissen will. Wo das Bild die Erinnerung trägt, indem sie eine bestimmte Aufführung reproduziert wiedergibt, kommen wie automatisch Empfindungen vom spezifischen Ort herein, die die Musik gleich vollkommen anders hörbar und erhört erscheinen lassen. Bilder von der Biennale in Venedig bei der Biennale in Berlin gesehen im Haus am Waldsee, die obendrein den deutschen Pavillon als Produktionsort ausweisen, überlagern Bilder von anderen Arbeiten Salas: der farbige Saxophonist auf den Dach des Hochhauses im Märkischen Viertel etwa. Eine Gruppe von Männern, nein eigentlich keine Gruppe, wo jeder Mann für sich auf einer Stufe einer Treppe sitzt, neben ihm ein Motor, den er mit einem Anlasserkabel anwirft um ungerührt seinen einzigen Zweck über sich ergehen zu lassen, dem Licht einer Glühbirne, die der Motor trotz strahlenden Sonnenschein aufleuchten lässt: herausragendes Erscheinen der absoluten Sinnlosigkeit bei gleichzeitiger Gleichgültigkeit ihr gegenüber.
Das Erinnern an das Gedächtnis
Das Erinnern, das Erinnern an das Gedächtnis genau in dieser Doppeldeutigkeit, eine Verdoppelung, das erinnernde Gedächtnis, das das Bild, das Selbstbild durchbricht indem es sich in sich spiegelt. Cocteaus Orphee, der Spiegel, aus dem die Figur wie schwimmend heraustritt. Das Bild, durch das sein Bild hindurchgeht.
Das Bild, im Film stellt es sich vor das Reale, das eben nicht die sichtbare Realität ist, nicht eine Realität ist, die es als Bild eben dieser Realität gerade verstellt. Im Film wird das Bild als dieses verstellende Bild gesehen und die, die es durch diese Verstellung hindurch sieht, das ist die blinde Seherin, und die sieht gerade, weil ihre Augen nichts sehen. Ekstatisch befällt sie das Sehen, was sie sieht ist im Film nicht zu sehen: zu sehen ist nur sie und ihre schreckliche Ekstase des Sehens. Der Wunsch, das Begehren des Kindes ist ein roter Ball, der langsam auf dem Wasser treibt, nachdem das Mädchen bei dem Versuch ihn zu erreichen, ihn zu bekommen, ertrunken ist. Was bleibt ist das Begehren, das sich fortsetzt geradezu fortpflanzt: rot der Ball, rot die Jacke des Mädchens, und die Blinde hat sie tot in diesem Rot, lachend zwischen den Eltern sitzend, gesehen, war voller Emphase als sie den Eltern davon erzählte. Dann taucht das Rot der Jacke nachts wieder auf und der Vater folgt ihm, spricht sie an, nennt ihren Namen, und sie dreht sich um, und das, was den Tod überwunden zu haben scheint, das bringt den Tod, das nimmt den mit dorthin wo die ist, die fehlt….
Der Schein als Grundprinzip des Ästhetischen lässt das Grauen sanft ins Genießbare gleiten. In Wenn die Gondeln Trauer tragen ist die Farbe Rot ein filmisches Metonym, sind die Verwandlungen der Farbe Rot von Bewegung und Lebendigkeit hin zu Tod und dessen Anzeichen die treibende Kraft der Handlung wie ihrer Sackgassen, in die hinein die Hauptfigur gezogen wird.
Das Bild, das seine Aufführung, seine Produktion aufführt, das die Produktion in sich eingeschrieben sein lässt, lässt diesen Ort eben nicht sein, es verschiebt ihn gegenüber der akustischen Welt, reduziert also keineswegs die eigentliche Aufführung zum Soundtrack des Ortes, der in seiner Geschichte das musikalische Geschehen verstört. Die Synchronisierung findet nicht statt, der Versuch wird im Bild dokumentiert, das Scheitern im Ton. Aber aus dem Scheitern kommt etwas ganz anderes, eine ganz andere Welt, eine ganz andere Raumwelt und eine andere Zeitwelt. Während das Sehen des Musikmachens in der Produktion von Geräuschen letztere identifizierbar werden lässt, dem Hören und damit dem Denken die Arbeit aber keineswegs abnimmt und sie damit konterkariert, eröffnet das Videobild dem Hören eine Art Verdichtung. Eine Landschaft wird aufgerufen und mit ihr eine Geschichte, die es zu begehen einlädt. Die Rigorosität, die mit den Namen Wittgenstein und Ravel und ihrer musikalischen Beziehung sich aufdrängt, wird aufgeladen und in gewisser Weise behindert, wenn man die Einschnitte, die Salas Arbeit an Ravels Werk vornimmt, vom bürgerlichen Musikverständnis aus betrachtet, und das ist gerade das Thema, so man von einem solchen bei Ravel Ravel Unravel sprechen kann: die Behinderung, die Verkrüppelung, die Versehrung. Mit der Öffnung neuer Welten aus der vermeintlichen Behinderung wird aber auch ein emanzipatorisches Bild von Behinderung aufgetan, dem dieser Text nachzuspüren sucht.
Im Namen der amerikanischen Hardcore Band Scratch Acid ist metaphorisch gleichsam die Stoßrichtung des Scratcheingriffes umschrieben, der einen tatsächlichen Angriff meint, etwas, das verletzt, das verletzen soll. Auf dem Cover ein unverwandt in die Kamera starrendes Baby auf allen Vieren, in leicht blaustichigem Neonweiß, dem das Photo nur ein vergangenes Leben bescheinigen kann, als wolle es seinen Tod ausleuchten.
Das Bild des Films entlarvt das Bild als das, dem es zu mistrauen gilt. Es stellt die Frage nach dem Realen, stellt die Frage nach dem was an Realität es verdeckt, stellt die Frage, was oder wer es sieht und warum, das was das Bild zu erkennen gibt ist das, was es verdeckt. Eine Linie des Wunsches, des Begehrens: der rote Ball, das Mädchen das ertrinkt, der rote Regenmantel in den es gekleidet, der Vater, der glaubt die tote Tochter in den Gassen Venedigs zu sehen, der ihr hinterher geht, sie anspricht, der von einer blinden Visionärin gewarnt wurde, die sieht, vorhersieht, wie er sich dem Wesen nähert, das da mit dem Rücken zu ihm steht, das er mit dem Namen der Tochter anspricht, bis sie sich mit einer Rasierklinge umdreht und ihm die Kehle durchschneidet.
Das Bild der DJane im Film in der Villa in Dahlem, die Musikerin, die das Ravelsche Klavierkonzert bearbeitet, das in der Uraufführung der Pianist mit dem einen Arm gespielt hatte, für den es auch komponiert worden war, das Bild der DJane, das sich vor all dies schiebt, das eine Subjektivität mit ihrem Bild vertritt, wie dies ein jeder Autor tut, ein Autor den es nicht ohne einen Autor davor gibt. Kann Subjektivität des Autors denn überhaupt als etwas anderes als ein Netz von Autoren beschrieben werden und verdeckt das Bild, das Portrait eines Autors nicht eben genau dies? Ist es andererseits aber nicht gerade ein Anspruch gegen die Anmaßung eines Komponisten wie Ravel, eine Art seine Überheblichkeit den Interpreten gegenüber in Schranken zu weisen?
Leicht vom Klavier wie impressionistisch hingesprenkelte Tonspritzer bereits am Fuß der Treppe zu hören. Unter jedem Schritt das Knarzen der Holzstufen, das im Treppenhaus der Villa hinauf führt in einen lichten, durchlässigen Klangregen, der sich, je näher mensch ihm kommt, desto enger in den Raum zurückzieht, aus dem er sich zunächst breit zu ergießen schien.
Das Bild zeigt eine Frau bei der Arbeit. Was sie eigentlich tut ist zunächst nicht zu sehen. Was zu erkennen ist, ist der Raum, ist der Pavillon, in welchem sie arbeitet. Nur ihr Gesicht ist zu sehen, ihr Gesicht und ihr Kopf in Venedig. Sie wirkt konzentriert. Was zu hören ist, ist das, was sie tut, genauer, die Wirkung ihres Tuns ist zu hören. Erst später werden ihre Hände zu sehen sein und die Tonspur als Ergebnis ihres Handelns wird erkennbar erscheinen, im Bild erscheinen als Erklärung dessen, was zu hören ist. Zu sehen ist also eine Frau beim Hören, was nicht eigentlich sichtbar ist, was erst dann zu sehen sein wird, wenn zu sehen ist was ihre Hände tun, erst dann wird zu sehen sein, dass sie konzentriert hört, wenn die Turntables zu sehen sind, die Turntables und die Lautsprecher.
Eine Frau in einem leeren Raum akustisch gefüllt von einem Klavierkonzert, in den durch das Fenster Bilder einer Landschaft hereintreten, die andere Bilder und von anderen Landschaften mit sich führen. Das erste, was er hört dass Sie sieht, ist dieses Gesicht einer Frau, die sich die Haare hinter die Ohren streift. Nein. Das erste, was Sie sah, das war Venedig, war der Pavillon, war Kunst, waren Bilder, waren Fresken, über die eine Blutspur läuft. Das Bild schließt den Klang auf, schließt das auf, was zu hören ist und soll erklären, warum das zu Hörende so klingt, wie es zu hören ist.
Nun wäre die erste Frage, die sich manche Ensembles in den letzten Jahren stellten, warum das was auf der Bühne geschieht und wie es gemacht wird, tatsächlich zu sehen sein sollte. Nähme man dem Hörer nicht die Arbeit ab, mit den Ohren zu erfassen und zu denken. Das Ensemble Zeitkratzer verfuhr so und gab Konzerte ohne Licht, auch Noisekünstler wie Karkovski oder Furudate aber auch Komponistinnen wie Unsuk Chin ließen ohne Licht aufführen um den Hörer auf Töne und Klänge zu konzentrieren, selbst dahinter zu kommen, wie bestimmte Klänge produziert werden.
Zwei linke Hände
Aber hat das Bild in der Arbeit Salas die Funktion zu erklären und wenn, was erklärt es eigentlich? Das Videobild in Salas Arbeit stößt einen ganz anderen Raum auf und tut das geradezu bildwörtlich. Sowohl in Venedig wie in Berlin tritt ein anderer Raum ins Bild, in Venedig der Französische Pavillon, in Berlin der Deutsche. Noch bevor Chloé als DJane in ihrer Arbeit vorgestellt wird, wird klar, dass die zu hörende Musik nicht da aufgeführt wurde, wo sie produziert wurde. Die linke Hand, der das Konzert gewidmet ist, kam da nicht zum Einsatz, wo sie zu hören ist. Stattdessen sind zwei linke Hände zu sehen, übereinander gelagert auf zwei Bildschirmen: der sprichwörtliche Satz von den beiden linken Händen kommt da in den Sinn, der Satz der meint, der Handelnde bekomme nichts so recht in den Griff. Geradezu Bildwörtlich formuliert das Video das eigentliche Thema des Videos aus, die Behinderung, das Handikap unterstrichen noch dadurch, dass der rechte Arm herabhängt und über seine Hand ein Handschuh gestreift ist und beides, die spielende Linke und die behandschuhte Rechte zweimal zu sehen sind.
Der andere Raum, der da zu sehen ist, eher eine andere Welt ist es, und eine ganz andere als das staatstragende Erinnern an die Überwindung der ehemaligen Erzfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich, an die mit dem Pavillontausch gedacht werden soll. Das Fenster des Pavillons, das Draußen, das Außen des Anderen: in der Kommunikation zwischen Bild und Ton entsteht es, in der Kommunikation über den Schnitt, über den hörbaren Bruch, den das Geräusch des Scratchen hervorruft, indem es das Geräusch gegen die romantische Tonführung setzt, die Verkrüppelung des Wiederzuerkennens des Konzerts, die mit den Bildern der beiden linken Hände kommuniziert, die nicht einfach erklären, wie das Stück funktioniert, sondern: dass Behinderung eben gar nicht funktioniert und auch nicht funktionieren soll.
Nun ist es aber nicht die Hand, die da zu sehen, weder die des Pianisten noch die der DJane, es ist jeweils deren Bild, das Bild das sich vor das stellt was geschieht, vor die Realität also, wie der rote Ball als Wunsch lockt und die Röte des Regenmantels als Aufhebung des Verlustes, wie sich beide vor die Wirklichkeit schieben, ihre Gefahr verstellen, eine Gefahr, die hinter dem Ball, dem Regenmantel lauert, eine Gefahr, die hinter jeder vermeintlichen Normalität, vermeintlichen Gesundheit, ausgedrückt in der gesunden Hand der DJane wie ein Schatten immer anwesend ist, wie ein unsichtbares Doppel immer droht.
Ein Schnitt hinein in eine Melodie, einer tänzelnden Flöte, die das Hören in den verspielten Kontext eines Kinderliedes bringt, und die das Scratchen zerbricht, es aus seinem Liedkontext herausbricht, einen ganz anderen Kontext assoziativ suchen lässt, der ohne das Herauskratzen nicht hörbar gewesen wäre aber nicht minder im Material angelegt ist wie das Kinderlied, als welches das Material ursprünglich vom Komponisten gedacht war. Aus dem Zusammenhang einer Melodie gerissen verwandelt sich die zerbrochene Flötenmelodie in eine schmale gezwitscherte Vogelstimme und an anderer Stelle Passagen aus dem selben ursprünglichen Kinderliedkontext wiederholt, verwandeln sie sich in das mechanische ablaufen einer Spieluhr.
Dann wieder scheint sie den Turntable langsamer zu drehen, so dass die Töne verdicken, wie zu dick aufgetragene Farbe zu Boden tropfen. Die Töne gewinnen so etwas Flüssiges ohne tatsächlich wässrig werden zu können, erscheinen schwer und träge. Im Bild ihre Hände und immer wieder ihre Hände. Die Metapher vom Handgemachten erscheint und meint natürlich auch das Pendant zu Computergeneriertem, wo das Vinyl letztlich ja auch das analoge Gegenstück zur CD und zum Laser ist. Dann wieder Schwankungen in der Geschwindigkeit und der Zuhörer hat den Eindruck, den Boden zu verlieren, wo ihm die feste Grundtonart entgleitet. Der Einschnitt, den die DJane dem Werk zufügt, er verlangsamt, taumelt, in den Vorstellungen des normalen und sogenannte klassische Musik Liebenden ist er eine Behinderung, eine Störung, er behindert den Fluss des Werkes. Indem der Fluss behindert wird stürzt der Fluss in eine andere Tonqualität, stürzt er in eine andere Klangwelt und tut dies aus dem Bremsgeräusch, dem Bremsgeräusch des Abgespielten. Es entsteht im Eingriff der DJ Chloé eine Art Klangsumpfigkeit, etwas, das in sich hineinzieht, etwas Zähes, Klebriges. Das Ohr hört dem Wort im Inneren nach, lässt sich von ihm einfärben, spürt wie ein neuer Kontext sich zusammensetzt, wie er sich in Partikeln bestätigen lässt und wie er in umgekehrter Richtung sich die Partikel unterordnet. Wir bleiben also nicht im Hören allein, es ist auch eine Konfrontation des Hörens mit Sprechen, und weiter, wo es sich hier um eine Videoarbeit handelt, eine Konfrontation mit dem Bild. Was wird im Scratchen eigentlich unterbrochen, wenn der Fluss des zu Hörenden unterbrochen wird, ist es nicht eher die Hörgewohnheit als das Hören? Was aber verfestigt das Hören zur Gewohnheit, ist es tatsächlich allein das wiederholte Hören oder ist es eine Assoziation, die sich einstellte, die das Hören und sein Wiedererkennen erleichtert? Zerbricht das Scratchen dann nicht auch den automatischen assoziativen Zusammenhang zwischen Ton und Bild? Aber wiederholt sich am Bruch nicht genau dasselbe? Sucht sich das aus seinem Kontext herausgerissene Geräusch, das herausgeschnittene Melodiefragment nicht erneut seine Vervollständigung hin und durch einen neuerlichen Kontext? Ist der Kontext auch vom Melodiefragment nicht erneut bildbestimmt? Wäre das Scratchen dann nicht ein Vorgang, der einen metonymischen Prozess des Verspinnens von Tönen und zugleich Bildern in Gang setzt?
Salas Arbeit nimmt Behinderung aus ihrer Materialität wörtlich, unterbindet ihre kompositorische Gestaltwerdung, greift unmittelbar auf das Material zurück, unterwirft es der Verkrüppelung selbst. Verlässt es aber damit nicht die Möglichkeiten der Musik selbst, schwingt es nicht damit in den Materialumgang ein, den man eher von der Malerei her gewohnt ist und das unterstützt vom Visuellen?
Aber gehen wir zum musikalischen Material zurück, beobachten wir, was in unserer Wahrnehmung geschieht, wenn die DJane es unterbricht, es gewaltsam auseinanderreißt. Was eigentlich zerbrochen wird ist die Vorstellung von etwas Vollendeten, von etwas Abgeschlossenem, von etwas Ganzem. Ähnlich dem Phänomen Der Zerbrochenen Schönheit, wie in Tobin Siebers Aufsatzsammlung zu Vandalismus in der Kunst beschrieben, wird mit der Beschädigung des Materials eine Imago zerstört, die zu allererst auf Konvention basiert. Die aber, kaum dass sie neuerlicher Konvention unterworfen, erneut neuerlichen Imagines sich unterwerfen wird. Beispielsweise der Flötenpart, der, eingepasst in ein Kinderlied, vom Scratchen unterbrochen oder aus seiner Melodik herausgerissen, lässt das Klangmaterial in ein Gezwitscher sich verwandeln. Durch die Zerstörung des Kontexts fallen die einzelnen Phrasen vereinzelt heraus und suchen sich andere Kontexte oder probieren solche aus. Mehrerlei Kontexte sind da angelegt, werden durch den Kontext, der sich durchsetzt, ausgeschlossen. Ist der dominierende Kontext zerstört finden sich beispielsweise etwa Assoziationen der Natur, etwa von Tiergeräuschen oder klangliche Kontexte wie der einer Maschine, eines Apparates wie einer Spieluhr, die im Werk nicht minder angelegt sind, die aber erst in der Unterbrechung heraus treten, sich emanzipieren, indem sie nun erst den dominierenden Kontext verlassen können, weil er zerbrochen ist. Am Übergang von Material zu auskomponierten Figuren wie Melodie oder Harmonie und Akkorden bilden sich Schnittstellen, an denen sich Bilder und Begriffe ansiedeln, die zur Stabilisierung ihres Zusammenhalts sich in anderen Wahrnehmungsregistern bedienen. Die Nadel, der Schnitt, das Scratchen unterbricht diesen assoziativen Fluss, setzt Klänge und Töne frei.
Der Kontext ist der Ausschluss. Indem sich eine Melodie in einem bestimmten assoziativen Kontext wiederfinden lässt, gewinnt sie Bedeutung, sie wird etwa Vogelstimme, oder wird in einer mechanischen Geräuschabfolge zum Ausdruck eines Apparates wie einer Spieluhr. Wie der Ton als Konzept ein Ausschluss ist, der bestimmte Geräuschqualitäten als seine Charakteristiken auszeichnet, genauso rufen bestimmte Melodien und Harmonien Assoziationen auf, die bei dem Hören eines Musikstückes ein bestimmtes Bild sich einstellen lassen. Das erwartete Bild läuft dann Gefahr zum Klischee zu verkommen, wo Bilder des Gehörten das Gehörte verdrängen, wo sich das Gehörte in seiner Materialität nicht mehr hören lässt. Die Dummheit in der Musik nach Eisler beträfe eine Musik, die es dem Sehen allzu leicht machte, sich über das Tonmaterial zu legen und es zu verkleben. Das Material nicht zu hören bedeutet, sich vom zu Hörenden ins Bild wegreißen zu lassen. Das Material zu hören bedeutet den Einspruch zu hören, der auffordert, sich nicht vom rein Melodiösen oder Harmonischen mitreißen zu lassen in gefällige Bequemlichkeit.
Zerstörung der Erwartung
Die DJane geht mit dem Klangmaterial um als wäre es Farbe, mischt es aus, setzt es neu zusammen löst es aus aller Thematik heraus, zerbricht die Motive um aus ihnen einen neuen Kontext zu malen. Da ist beispielsweise der Aufstieg des Orchesterparts hinauf zum Einsatz des Klaviers, eine Art Apotheose: sie lässt die eine Aufführung nach oben steigen und bremst sie kurz vor dem Kulminieren ab um sie als geballten Klang nach unten stürzen zu lassen, kurz vor dem Eintritt des Pianoparts heruntergebremst als stürzte der gesamte Orchesterklang ins Bodenlose. Mit der anderen Aufführung verfährt sie genauso und lässt dann beide Abstürze hintereinander abspielen, so dass vor dem Pianoeinsatz der Eindruck entsteht, zwei Flügel einer riesigen Tür öffneten sich um zwischen ihnen das Piano hereintreten zu lassen, dadurch die Verklärung des Pianos noch steigernd, den Solisten noch mehr überhöhend. Dann wieder ein kurzer Pfiff wie der aufschlagende Hieb eines Lederriemens, sie lässt ihn akustisch isoliert stehen, gesellt ihm nach einer Weile einen weiteren hinzu, lässt beide nur vom Gedächtnis verknüpft sein und das Erhört ihre Unverbundenheit.
Der Einsatz des Pianos nach oben hin weggewischt, zuerst das eine dann das andere als führe jemand mit einem Lappen über eine volle Palette, fahre sie ins Grau. Durch die Doppelung erfährt der Klang an sich eine starke Fülle weil die Doppelung nicht unbedingt zu hören ist, vor allem wenn die beiden Parts nahe beieinanderliegen.
Mit dem Rückgriff auf das Material, der Emanzipation des Materials von Melodie und Harmonie lässt die DJane das Material von Idee und Thematik des Konzerts einfärben, lässt es sich anreichern, lässt es aber nicht auf dem Umweg von Thematik und Motivik in Gestalt der Komposition sich entlang bewegen, unterbindet ihre Entwicklung. Stattdessen nimmt sie den unmittelbaren Weg ins Material hinein, den Weg, den ihr das Material hörbar vorschlägt, auf dessen Vorschläge sie unmittelbar, das heißt materialiter reagiert.
Das Bild der verwischten Palette das die DJane mehrfach aufeinanderfolgen lässt, als bewürfen sich die Pianisten in einer Scratch Battle gegenseitig wie zwei DJane, die gegeneinander anträten. Die Klaviere in einer Nuance unterschiedlich gestimmt und die Frage, ob dies tatsächlich der Fall oder ob es dem unterschiedlichen Geschwindigkeiten geschuldet ist. Zuerst ins Dunkel, aus dem heraus die DJane sie hintereinander herhinken lässt nach oben ins Helle. Die Geschwindigkeitsschwankungen als Schwankungen des festen Bodens, die Synchronisierung als Versuch der Normalisierung, Ausschaltung des Hinkens, der behinderten Eigenräume. Bei der Geschichte des Werkes und seiner Aufführungen sind solcherlei Interpretationen legitim. Man könnte da noch weiter gehen und den Vorgang des Scratchens in die Interpretation miteinbeziehen: die Behinderung erschiene dann als künstlich und wäre eine Metapher für den Ansatz der Disability Studies, die von einer gesellschaftlichen Konstruktion von Behinderung ausgehen. Die Synchronisierung versucht das Hinterherhinken aufzuheben, das im Werk Salas nur dadurch entstand, dass eine wahre Interpretation auf technischem Wege gefunden werden könne, und dass eine solche Fragestellung von Sala und Chloé karikiert wird, ja ausgeschlossen wird. Alle Vereinheitlichung von Unterschiedlichkeit scheitert, in ihrem Zusammenspiel aber bringen sie neue Klangwelten hervor. Von daher könnte Salas Arbeit auch als ein Plädoyer für die Pluralität von Ton und Klang gelesen werden, als gleichberechtigte Parallelität von Ton und Geräusch.
Die Synchronisierung der beiden Einspielungen durch Beschleunigungen und Verlangsamungen, die Hörbarkeit der Bremsgeräusche, die nicht ausgeblendet werden, die Arbeit an den Aufnahmen soll hörbar sein, soll ihre Spuren hinterlassen. Die Arbeit an sich ist freilich sinnlos, zwei Aufführungen können nicht synchronisiert werden, nur die Wirkungen dieses Versuches sind zu beobachten. Es gibt keine Normalität und alle Versuche der Normalisierung müssen scheitern.
Eine Interpretation verneint jede andere. Eine Interpretation nimmt Raum und Zeit in seiner je spezifischen Weise ein, nutzt die Akustik in seiner Weise. In der Reproduktion der Aufführung in der Aufnahme wird solche Hervorbringung des Raumes dokumentiert, zumindest wird eine spezifische Weise der Rauminterpretation in Zeit dokumentiert. Indem zwei Interpretationen übereinander gelegt werden, erscheint das Werk abstrakt gleichsam in einer akustischen Partitur, die die spezifische Einzelinterpretation zum Verschwinden bringt, als werde in der Verdoppelung der Interpretation das Werk seiner schriftlichen Form zurückgegeben, lösche die Verdoppelung die Raum-und-Zeit-Fassung aus, gebe die Verdoppelung das Werk der Schrift zurück .
Ist die Partitur die Gesamtsicht der an einem Werk beteiligten Stimmen, erweitert das übereinanderlegen verschiedener Interpretationen zu einem ins Endlose zu treibenden musikalischen Versuch über eine Komposition. Während die klassische Komposition erst mit ihrem Ende als Werk zu gelten hat, öffnet die Überlagerung die Möglichkeit einer Erweiterung eines Werkes auf Basis eines Werkes ins Unendliche. Kommt die Musik in ihrem Kompositionstext überhaupt erst zu sich, ist die Reproduktion der Schrift in der Aufführung eine Art Nachahmung dieser Schrift. In der Überlagerung zweier Interpretationen bleibt nur noch ein blankes "Sich" übrig, wie die Oberfläche eines Spiegels, die die gespiegelte Gestalt verloren hat. Dagegen spannen die beiden Interpretationen einen Echoraum in ihrer Verdoppelung aus, in dessen blankgeputzter Wand einzig die imaginäre Schrift der Partitur wiederkehrt, herausgekratzt immer wieder von den Geräuschen der Nadel, die allen Fluss durchstreicht.
Die Hand des Pianisten setzt das Notenbild um, übersetzt es gleichsam, die Hand der DJane hebelt das Klangbild aus, zersetzt es in Geräuschpartikel, verdoppelt es, zerschneidet es. Während die Hand des Pianisten das Werk reproduziert, übernimmt die DJane das aus dem schriftlichen reproduzierte Werk um es seiner ursprünglichen Gestalt wieder zurückzugeben, es über den Schnitt der Nadel in den Klang hinein zu zerreißen, es wieder Geräusch werden zu lassen, es materiale Körperlichkeit werden zu lassen.
Was das Hören verstellt ist das Bild vor dem Geschehen, ein Begehren, eine Sehnsucht, ein Wunsch. Die Lockung des Bildes und zugleich die Verstellung des Realen: das Reale wird nicht gesehen, weil sich das Bild vor es stellt, weil es das Bild unsichtbar macht. Nur vom anderen her wird das Reale gesehen, wird das Bild durchdrungen. Erlebt in seiner verletzenden Konsequenz wird es aber vom verletzten einen Körper. Die Frau, die das Klavierkonzert zercratcht, in ihrem Bild steht sie für den zweihändigen Umgang der Nichtbehinderten, die zwei Turntables mit einem Arm gar nicht würde bedienen können.
Sala konfrontiert das scheinbar Normale mit dem scheinbar Behinderten: der Wunsch mit beiden Händen zu spielen, im Video verkörpert durch die DJane die Frau, die stattdessen den Klangkörper aufreißt, deren Bild vor die Behinderung gestellt. In Roeggs Film ist der Mörder eine Frau, die man als zwergwüchsig bezeichnen würde, eine Frau in der Bekleidung des Mädchens, der Tochter, bekleidet mit dem blutroten Regenmantel. Das begehrte Wesen hinter dem sich eine Frau verbirgt, die aus Sicht des Normalen als behindert gilt, die nur mit dem Mädchen verwechselt werden kann, weil sie nicht "normal gewachsen" ist: das ANORMALE als die Basis des Begehrens. Wiederholt werden in Wenn die Gondeln Trauer tragen Opfer eines Serienmörders aus den Kanälen gezogen, Frauen, eine huschende Gestalt im roten Regenmantel, die verschwindet. Der Film, der nur erzählt werden kann, weil eine blinde Frau die Ereignisse sieht. Am Film bricht sich der Unterschied zwischen Bild und Sehen dadurch auf, dass das anormale Sehen den Blick auf das Begehren eröffnet und hinter ihm erneut das Anormale gefährlich hervorlugt.