KARL PLATTNER, Pieta (1959-1961)

Gesperrte Versenkung oder der Anspruch des Blicks nach dem Heil

KARL PLATTNERS PIETÀ im Kloster Marienberg bei Burgeis

"Sehr viele Menschen und vielleicht die meisten Menschen müssen, um etwas zu finden, erst wissen dass es da ist.“ (G. C. Lichtenberg)

Atem: abgegriffenes Bild. Weich unter Bewegung strömendes Gezischel,dem ohne Luft zu holen nachgehört. Nichts zwischen Haut und Berührtem denn beider Geräusch, und das will unbestimmt bleiben. Nichts mischt sich da hinein. Nichts verdeckt nichts überlagert. Für einen Moment. Ein Moment. Rundförmige Unebenheit der Oberfläche deren wellenartiges Auf und Ab scharfkantig vor der Fuge abgerissen, aus der porös sich das in die Haut schiebt, was sie in dieser Gegend Malta nennen. Die Haut ihre Unruhe. Als trügen in die Berührung Hebungen und Senkungen des Gesteins sich ein gleich einer Miniatur der Landschaft, die es hervorgebracht. Nicht ausgefüllt vom Ertasteten vom Berührten die Fläche der Hand, strömt das Geräusch des Streifens in ihr Hohl, verändert von ihrer Bewegung, die es verflacht um es an der Haut spitz auszustreifen. Trockene granitene Oberfläche trotz der Kälte. Nein kein Granit, der sei hier selten. Eher Gneis. „Es könnte Gneis sein, vielleicht Gneis.“ Die Straße sei neu gemacht und mit Findlingen befestigt. Selten werde für einen Bau Stein aus den Felsen geschlagen. Der Abhub der hierbei anfalle fördere ausreichend Steine zu Tag.

Im Rücken Burgeis. Im Rücken Prad. Im Rücken Alsack. Suche man nach der Landschaft man würde sie finden. Sagt der, mit dem sie gesprochen. „Ich denke, dass es diese Landschaft gibt. Wenn man sie suchen würde, würde man sie finden. Auch das Haus. Auch das Haus vor dem die Mutter sitzt.“ Die Landschaft. Das Bild. Das Bild der Landschaft. Ein Diesel in hoher Drehzahl den Berg herab. Breit bricht sich das Motorengeräusch an der Leitplanke, kurz und so stark dabei an Intensität gewinnend als habe das Gefährt sich gedreht, rase nun in seine Richtung, um augenblicklich dann aber hinter den Felsen zu verschwinden, die der Motor bereits hinter sich gelassen. Stille. Er hatte innegehalten.

Orte des Bildes Bilder des Ortes. Nach der Erblindung Topographien der Erinnerung allein. Aufzeichnungen in einen Körper die hinausdrängen weil kein Bild sie mehr daran hindert. EINDRUCK wörtlich: und wo auch immer an der Haut er sich ereignet, tritt so stark er hervor, dass der Rest des Fleisches in ihm sich zusammenzieht, als wolle es aus sich heraus.

Landschaft. Ohne Bild sinnloser Begriff und übervoller Sinn im Wort zugleich. Denkakte ins Verlaufen eingreifend, Bilder zügelnd vom Absturz her und der schlug schon früh sich ein Klaffen ins Gedächtnis. Ein kurzer Vogelschrei aus der Höhe aber nur einer und so behält er Ort und Bewegung für sich. Nein sagt Sie kein Baum hier. Nichts was sich vor den Absturz stellte. Den Berg hinauf jetzt. Spitze Schläge des Stocks auf Asphalt und die reißen zur Linken die hegende Wand auf, fallen zur Rechten unhörbar ins Abgründige. Entlang dieses Schnitts, der ihm den Körper teilt, die Schritte mit einem leichten Drall dorthin wo Halt. Weit entfernt, und noch höher wohl als hier geschritten, zeichnet ein weiches Geräuschband jenseits des Abgrunds eine Linie in den Hang, auf der dicht an dicht Motoren abgefädelt wie summende Kugeln an einer Schnur. Gradlinigkeit eines akustischen Horizonts in welchen die Gebirgsmorphologie gestutzt. Ihr Finger auf seiner Brust zeichnet die Silhouette dessen nach was fehlt. Am Grund ein ausgefranstes Rauschen über dessen Ränder hinaus akustische Sprengsel und Spritzer gefallen um gleich wieder zu erlöschen. Ein Fluss. Ein Name. Der Begriff dieser Gaukler: mit leicht geschwungener Geste verblendet er das Wort. Nur ein Bild allein soll sich in ihm spiegeln, auf dass es dem Begriff zu Dauer verhelfe, und zugleich auch dazu eine Schneise durch alle in das Auge des Blinden hereinbrechenden Bilder zu schlagen, die er allein zu bändigen im Stand. Als ob er selbst zum Bild geworden vom dem her er nur spricht, umfasst der Begriff den Blinden, taucht wages Empfinden in etwas bestimmtes dem alle Bruchstücke der anderen Sinne unterworfen. Erklärbar werden sie dabei im Halt des Imaginären. Einerseits dem Blinden sichernder Raum, Versprechen dass der Fuß im nächsten Schritt Boden findet, ist der Begriff dem Blinden aber auch immer zugleich Überschreitung. Bildlos hinterlässt die Hand im Berührten einen Riss und der bleibt auch an ihr haften. Nichts weiß sie vom Ganzen. Allein der Begriff führt im aufgerufenen Bild über das was zerrissen hinweg, überspringt es, lässt es ganz erscheinen, lässt erscheinen was blinder Hand und Berührung niemals an Erfahrung zuteil.

Anders das Symbol, das von sich aus etwas Abgeschlossenes stiftet. Die Horizontale des Flusses im Tal etwa. Die Horizontale die die Etsch dort zieht. Später und wenn er den abschüssigen Hof der Abtei durchquert haben würde, hinaus durchs hintere Tor das sie Burgeiser Tor nennen, sollte er die vertikale Linie dazu hören. An Felsen aufgeschlitzter Geräuschstrahl, zerfressene Gerade, der das Ohr nur schwerlich im zischenden Absturz etwas wie Boden nachhört und sei es, dass sie dort zerschmettert oder von dort ihren Ausgang nähme - denn das Ohr hört in dieser Gleichzeitigkeit des Rauschens eigentlich keinen Ablauf und Zeit läuft hier in zwei Richtungen. Der Almeina Bach akustische Vertikale. Akustische Horizontale die Etsch. In beider Schnitt das Kloster die Abtei Marienberg.

Er liegt auf dem Rücken. Ein kahler Kopf schädelartig. Nur Haut und Knochen. Der Betrachterin zugewandt aber die Augen verbunden. Am Ende der Binde schwarze Schatten. Vielleicht dort wo Augen, vielleicht dort wo Augen waren. Eine Ahnung dessen was unaussprechlich bleibt.

Die Hand am Turm eckig. Um zu BEGREIFEN hat sie die Form dessen anzunehmen was sie zu fassen sucht. Wie eine zweite Haut um es gelegt wird das Körperliche das Ausgedehnte unter ihr zur Fläche. Die Gärten etwa. Stufe um Stufe in den Fingern gebrochen, zeichnet sich ihre Terrassenform in die Hand als flächige Struktur aus, der Imagination ein plastisches Bild sich erwirkt. Von selbst stellt es sich ein, befällt es die Wahrnehmung des Blinden. Was er da aber taste sei ein Modell der romanischen Anlage der Abtei wo der Turm etwa noch mit keiner barocken Zwiebelkuppel versehen. Die Nutzgärten wiederum über die er gerade streife, unverändert scheinen sie und noch immer vor den Klostermauern gelegen. Oberhalb der Kirche die Arkaden des Kreuzgangs von dem Sie nichts wisse, da er zur Klausur gehöre zum Bereich der nur den Mönchen zugängig. Die Arkaden aber vor den Wirtschaftsgebäuden seien verschwunden, wie die Gebäude selbst wohl abgebrannt oder geschleift. Drei waren es ursprünglich an der Zahl und zusammengefasst seien sie nun zu einem einzigen, in dessen Erdgeschoß das Klostermuseum mit dem Ausstellungsraum untergebracht.

Als habe das Bild im Imaginären etwas blindwütiges, etwas von Befall, der hereinbricht der heimsucht, scheint Sehen solchem Imaginären als „Sehen von etwas“ entgehen zu wollen. Immer aber bleibt ihm ein unberechenbarer blinder Rest gegen den die romanische Freskenmalerei anzumalen schien, wo sie in ihrer geradezu wörtlichen Lesbarkeit nichts an Raum zwischen Bild und Schrift übrig lassen wollte. Ganz wörtlich etwa ist da in der Krypta des Klosters ein Petrus zu verstehen auf dessen Kopf ein Fels gemalt. Dieser augenfälligen Nähe zwischen romanischer Freskendarstellung und blindem Sehen vom brachialen Begriff her nachtastend, sucht ein Blinder im Folgenden über Karl Plattners Gemälde Pietà von 1960/61, das vorübergehend im Museum des Klosters eine Ausstellung erfährt, einen blinden Zugang zur Malerei des Südtiroler Künstlers zu gewinnen, Beschreibungen dabei unter dem Schnitt der Fingerkuppen buchstäblich vom Material her aufbrechen lassend, auf dass das Wörtliche in seiner imaginären Fülle nochmals und ganz anders an die Oberfläche getrieben wird. Einerseits also das Bild mit der Beschreibung auf das Sprechen zurückführen von dem her es letztendlich gekommen, denn nichts was gesehen, wurde vorher nicht gehört. Andererseits freilich das Bild in der Erzählung Zeit werden lassend: eine Zeit aber die sich zugleich horizontal und vertikal bewegt, die nach vorne und zurück und zur Seite springt. Eine Erzählung also die das Material des Bildes immer in alle Richtungen treibt, gebrochen von der tastenden Haut, der Hand, den Fingern aber auch der Nase und den Ohren, die sie nicht zur Ruhe kommen lassen.

Vor dem Menschen

Holzgeruch. Zu frisch als dass das Material hier schon länger stehen könnte. Ungehobelte Bretter gleichmäßig zugeschnitten. Eine Holzwand und hörbar sie einen Raum im Raum abtrennend, dessen Akustik zwischen ihr und ihrem gleichgestaltigen Gegenüber stumpf abgetrocknet. In der Hand die Stirnseite. Übergang von naturbelassenem Felsgestein zu gekalktem staubigem Verputz, in dessen Oberfläche die Struktur des Gesteins sich drückt, gekleidet aber nicht verborgen. Die Stimme Plattners. Filmausschnitt eines Porträts der Rai und die im Bild zitierten Werke von zitternden kleinen und großen Sekunden der Violinen eines Streichquartetts untermalt, die aus der Tiefe von kurzen Cellostößen dunkel bedroht. „… warum nicht Hass Wollust Genuss Unverfrorenheit. Und dann die Verzweiflung …“

4,40 m X 2,20 m – man stehe nicht davor, wie Sie sagt, man stehe mitten drin. Schritte langsam vor dem Bild auf und ab und dann nach hinten. Dass Sie einen Stand suche, wie er denkt. Einen Stand um zu übersehen. Bruchstücke die anspringen. Vom Auge vermeintlich Erkanntes aus Ganzem gelöst und das Sehen treibt da Pflöcke hinein von wo aus weitergeschaut weitergedacht weitergesprochen. Landschaft etwa. Und Landschaften immer wieder. Landschaften in der Landschaft. Sein Brustkorb zum Beispiel, wie eine ausgetrocknete karstige Landschaft liegt der da, und die Knochen darunter spannen eine lederne Haut fast bis zum Zerreißen aus. Im Dickicht der Worte Gesehenes ein Zerfall, reißt Sie mit, bringt Sie ins Straucheln. Ausschnittbeschreibungen wie Rodungen. „Dieser feine Strich hier der Stiel und quer fast ins Durchsichtige lasiert die Blätter.“ Geradezu naturalistisch erscheine Ihr die Pflanze die ihren Namen aber verweigert, und die Fingerkuppe des Blinden erspürt eine Linie auf der Leinwand, die nur kurz erscheint. Er hört Sie. Hört das Bild des Blinden von dem her Sie spricht. Hört in Ihrem Sprechen, in der Art Ihres Sprechens das erblindende Sehen seines Netzhautzerfalls, das die Augen damals tastend über Gegenstände schob, bevor die ihnen endgültig entglitten. Zerstückte Teile deren uneinholbares Ganzes jeden Begriff nur rissig erscheinen lässt. Mitten im Wort innehaltend. Sätze abgerissen und andere auf deren Wunden gepfropft. Im zweiten Blick das Gesehene dem Begriff aus der Hand schlagend, zerfasertes Sprechen: offenen Auges Bildverlust. Unüberwindlicher Riss zwischen Sehen und Sprechen, und zugleich Sehen um Sprechen sich mühend, um nicht im Bild zu versinken.

Vor dem Körper jetzt, den sie abschreiten. Der liegt auf dem Rücken liegt auf dem Boden liegt auf einem viel zu kurzen Holzgestell. Überdimensional ja manieristisch lang, so dass der Blick gleichsam an ihm abrutscht wo Füße Beine Schoß und Rumpf zu einem Kopf führen, der viel zu klein ist für deren Länge. Ein kahler eingefallener Schädel der Betrachterin zugewandt, die Augen verbunden. Am Rand der Binde dunkle Schatten. Ob es die Augen seien, fragt Sie sich, oder der Ansatz der Löcher wo einmal Augen gewesen. Eine Frau mit einem Fotoapparat bückt sich, geht ganz nahe heran an das knöcherne Gesicht und drückt ab.

Pietà – sich aller Tradition der Darstellung des Geschehens widersetzend, hält Karl Plattners Gemälde Mutter und Sohn geradezu beziehungslos getrennt, fast keinerlei Berührung zulassend und erst recht keine mit dem Mutterschoß, auf welchem meist der Leichnam des Christus, sitzend oder liegend oder wenigstens den Kopf in ihm bergend, dargestellt. Alles Geflecht von Mütterlichkeit von Geborgenheit von Schutz abgeschnitten, sitzt hier auf hölzernem Schemel vor einer Mauer eine Greisin in weißem Gewand einer Vinschgauer Bäuerin mit dunklem Kopftuch und Kragen und schwarzen Schuhen, die von älteren Frauen dieser Gegend noch heute getragen. Vor ihr auf dem Boden der nackte Körper eines Toten. Rumpf Becken und ein Teil der Schenkel auf einem niedrigen Holzgestell. Kopf und Beine auf dem Boden. Kein Tuch bedeckt den Leichnam wie es bei Darstellungen der Kreuzabnahme oder der Szenen danach üblich. Statt dessen eine weiße Binde, die aus den Händen der Mutter zu entspringen scheint, von der aber auch nur der Schoß des Leichnams und ein Teil der Brust bedeckt. Die eine Hand der Frau sie locker umfassend, über die offene andere sie zu Boden gleitend, schlängelt wie lebendig sie sich unter dem Gestell hindurch über Schoß und Teile der Brust des Hingerichteten und zieht sich hinter dessen Körper nach oben um an den Enden zweier Zaunbretter in Gestalt von zwei Dreiecken hängen zu bleiben. Der Hintergrund zweigeteilt: hinter der Frau eine Wand, die an ihrem unterem Ende ein tief hinein ins Schwarze dringendes Kellerfenster als Hausmauer ausweist; hinter dem Leichnam ein übergangsloser Bruch unvermittelt ins absolut Ferne, vor dessen imaginiertem Absturz ein wie durch eine Erschütterung in Unruhe geratener Bretterzaun. An horizontalen Latten befestigte Vertikalen die sich zu lösen scheinen, die fallen wollen, sich gegen etwas erheben. Am oberen Bildrand ein breiter schwarzer Streifen wie ein dunkler Schlussakkord, von dem aus die oberen Bereiche des Hintergrunds mit einem Dämmern überzogen. Beides Anspielung vielleicht auf Sonnenfinsternis und Erdbeben nach dem Tod Jesu von denen das Evangelium spricht. Vielleicht aber auch tief düstere Menschheitsdämmerung im Sinne Jean Pauls und dessen „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab“.

Nichts habe das Bild mit einer Pietà zu tun, so eine wiederholt, die es gesehen. Wie ein Name ruft der Titel Situation oder Geschehen im Dargestellten auf, dem er einen Raum eröffnet um darin sich zu entfalten. Wie ein Name setzt sich auch der Titel aus Spuren von Gesehenem ein Bild zusammen, das von den anderen Sinnen getragen. So plötzlich und grauenhaft diese Bilder auch hereinbrechen - keines von ihnen domestiziert mehr einen der anderen Sinne. Als hätte sein Körperbild, angezogen von der Empfindung, sich ins Leibhafte zurückgezogen, speist und webt sich das Bild des Erblindeten aus Hören Riechen Tasten Spüren Fühlen Schmecken und die Bilder, die labil nur Spuren hiervon zusammenhalten, Niegesehenes und Niezusehendes schauen lassend, warten nur darauf wieder zerfallen zu dürfen. Solange nichts sie aber auslöst bleiben sie hart wie Gebein und zwischen ihrem Einspruch und dem Erfahrenen entfaltet sich ganz leibhaft Denken.

Das Gesicht etwa. Unter der Hand des Blinden schließen sich die Augen und wie eine Maske gibt es sich hin. Ihre Augen hier nur halbgeschlossen im Gegensatz zum Mund. Klein ist der, ein Mund der nicht widerspricht. Ganz glatt die Oberfläche an die Haut eines jungen Menschen erinnernd. Erst die Brüste, die stark aus den Falten des Kleides heraustreten, lassen ihn von einer Frau sprechen, deren eine Hand einen nackten Männerkörper unter der Achsel an sie presst, während der nach unten hin von ihrem Schoß abzugleiten droht. Die andere Hand vom Körper weggehalten als wollte sie betonen, dass hier nicht weiter einzugreifen: eine Geste ganz im Sinne des „ Es ist vollbracht“, Geste der Hingabe, Geste der Fügung - in jedem Falle aber der Schickung ergeben. In solcher einem höheren Willen sich unterwerfenden Geste, scheint Plattners greise Gottesmutter Michelangelos mädchenhafter Maria der römischen Pietà ganz nahe, von der eine Kopie in einer Kapelle der Hedwigskathedrale zu Berlin ausgestellt. Wie in der römischen Mythologie der Schicksalsfaden durch die Hände der zweiten der Parzen, der Schicksalsgöttinnen, gleitet auch im Bild von 1960 die Binde durch die Hände der Greisin, deren Blick dabei ungerührt vielleicht aber auch einsichtig auf den nackten Leichnam des Sohnes unter ihr gerichtet: alles umfassende Schicksalsbande als alles umwickelnde Nabelschnur.

Vor der Landschaft

Ob das seine Mutter sei, fragt eine die nur kurz hereingekommen. Ja, so ihr Begleiter, das sei seine Mutter und wer die Bilder von ihr kenne sehe das sofort. Auch die Landschaft sei zu erkennen, sagt sie, zumindest das Typische dieser Landschaft, die typische Vinschgauer Landschaft. Andere kommen herein, erkennen andere auf Zeichnungen Aquarellen Ölgemälden, die der Pietà gegenüber hängen, wissen wem sie gehören, wem er sie geschenkt oder gewidmet, zu welchem Anlass dies geschehen, was er dazu gesagt, was andere dazu gedacht, und was all denen geschehen, die da gezeichnet oder gemalt, vor deren Bildern sie jetzt stehen. Sonst hänge die Pietà oben in der kleinen Kirche von Alsack, sagen der eine oder die andere, und immer wieder wird darauf hingewiesen. Viel zu hoch hänge es dort, sagt Sie und der Kurator verweist auf die Widmung ganz oben im Schwarz des Bildrandes. In einem dunklen Braun gehalten seien Namen und Widmung, im Schwarz des oberen Bildendes kaum zu sehen.

Holzbretter und der Leichnam wie dazwischen hinein geschoben. Im Vordergrund des Bildes der gleiche Zaun. Die gleichen Bretter vor ihm wie hinter ihm und ein Brett den Zaun vorne mit dem hinten verbindend. Einem ordnenden Eingriff gleich wirkt so die aus Brettern errichtete Wand, auf der die drei aneinander ganz eng anschließenden Teile des Bildes rahmenlos gehängt: Grund und Welt auseinander und ineinander zugleich – Entfaltung aber nur des Einen. Das Holz der Wand. Das Holz der Zäune. Das Holz das er nicht sieht. Das abwesend anwesende Holz. Das Holz des Kreuzes. Eine Vorstellung. Blinde Imagination da VORGESTELLT, DAVOR GESTELLT ohne dass es ein Dahinter gäbe.

Landschaft etwa. Zunächst und auf den ersten Blick sie von Ihr wie Schichten gesehen und ob damit, so seine Frage, etwas wie geologische Schichten gemeint. Braune übereinander gesetzte Flächen in verschiedenen Tönen müsse er sich vorstellen. Flächen und Linien dazwischen von denen die Flächen getrennt. Später sollte Sie die Linien als Darstellung der Grenzen zwischen den Feldern erkennen, die der Entfernung wegen nur als Striche hier zu sehen. Hinter Mals eine Anhöhe hoch wo von Apfelbäumen eine solche Linie gezogen. Dazwischen aus den Feldern geworfene Steine – die Mauern des Klosters sind aus solchen gebaut. Die Farbe sei die Farbe der Gegend, wie Sie sagt und Plattner habe sich auf diese Farben bezogen, habe sie aus seiner Erinnerung zitiert, hätte immer wieder zurück kommen müssen um sie aufzufrischen um sie in sich einzusaugen um aus ihnen heraus zu arbeiten wie aus einem „Humus“. Braun Ocker und dazwischen helle Flecken, wie Sie sagt. Das könne Schnee sein das könne ein See sein. Vielleicht Dörfer. Genau sei das nicht zu erkennen. Später würde der Kurator Sie auf zwei Dörfer am oberen Bildrand aufmerksam machen, die deutlich erst hervortreten sollten, wo von ihnen gesprochen. Umso deutlicher jetzt gesehen, dass einzelne Gebäude zu erkennen, eine Kirche etwa, ja selbst verschiedene Baustile: das größere Dorf habe etwas mediterranes im Gegensatz zu den allein in der Landschaft stehenden Weilern. Dennoch aber sei, so der Kurator, sehr viel Abstraktes in dieser Arbeit und dies liege an Plattners Arbeitsweise. Immer sei er vom Abstrakten ausgegangen, habe mit ihm begonnen, sei dann ins Detail gegangen, zum Figurativen gekommen. Manchmal sei das Abstrakte dabei gänzlich verschwunden, ein anderes Mal sei es als Bestandteil neben dem Figurativen erhalten geblieben, und andere Bilder wiederum seien einfach abstrakt geblieben. Damit aber, so eine weitere Frage, dokumentiere das Bild seine eigenen Entwicklungsstufen. Schichten uneinheitlicher Zeit, die nebeneinander bestehen geblieben, die sich auseinander herausschälten: Zeit des Blicks der im Gemalten das Figurative heraustreten lässt, Malen als Selbstreflektion des Malens aus dem Abstrakten heraus.

Nicht allein die Landschaft aber weist Momente des Abstrakten auf. Eher bricht das Landschaftliche, so das Bild des Blinden, ins Figurative herein, wo Abstraktes stehen gelassen, und Sie weist auf Stellen des Körpers Christi hin, an welchen die Farbe weggeschabt und die Leinwand darunter sichtbar, als werde, so das Bild des Blinden, ein Blick hineingeworfen auf einen Grund, wo sehen selbst an sein Ende gekommen. Die Fingerkuppen darüber. Glatt fast durchsichtig, wie er denkt, gleichsam gläsern. Den Rand von rauen Flächen gezogen: dickerer Farbauftrag tastbares Pigment. Nichts aber was an ertastbaren Konturen Gesehenem oder Beschriebenem entspräche. Schmal der Faden einer vertropften Linie hineingetrocknet in ein klebriges Oval. Als scharfer Grat zieht sich das zur Seite hin hinaus im Dialog mit einer schnittartigen Einkerbung, die unweit von ihr eine raue Verdickung auseinanderreißt: zerfallende Landschaften unter der Haut, kurzlebige Morphologie und ohne Bild keine Wiederholung möglich, die sie aus ihrer Flüchtigkeit herausführte. Berührung übersetzungsloser Schnitt, der – ungesehen - das Bild an sein Material erinnert. Leichtfertig es vom Schauen übergangen wie das Lesen den Buchstaben, den es übersehen muss um jenseits von ihm Bedeutung zu finden. An der Unterseite all diesen Geschehens die Sprache, instabile Skizzen von Eigenschaften im Körpergedächtnis des Blinden hinterlassend. Ihr Sprechen darüber. Verraten von dem was Sie sieht rutscht das Beschriebene unter Ihren Beschreibungen weg, zerfallen die Sätze noch bevor ein sinnstiftendes Ende erreicht. Stolpernde Worte entleerte Gesten: wie Blinde tasten sie in etwas das ihnen entwischt. Sprechen, ein Schnitt der ins Auge geht. Wo nichts Figuratives mehr sich ihnen zu erkennen gibt Ihre Augen dem blinden Tasten ganz nah, und auch sie schlagen sich jetzt auf die Seite des Materials, das alle andere Wesenheit hinter sich zum Verschwinden gebracht.

Die unterschiedliche und tastbare Oberfläche rühre von der Dicke des Farbauftrags wie der Verwendung des Malmittels her. Andererseits habe Plattner das Bild gewachst, und dies auch nicht einheitlich, um eine Nachdunklung verschiedener Stellen zu vermeiden. Auf eine Holzplatte die Leinwand gespannt trete ihre Struktur unter Berührung nicht so kräftig hervor, da sie nicht nachgebe und es sich obendrein um eine sehr feine Leinwand handle. Sie tritt ganz nahe an sie heran. Sie spricht. Ihre Stimme aber wird leiser als zöge sie etwas auf einen Punkt zusammen, nähme ihr den Raum bringe sie fast zum Verschwinden: das Sprechen im Sehen verschwunden.

„Pflanze“, das Wort zu Beginn. In nichts sollte es an dem was von Ihr beschrieben ein Echo finden. Sperrig und ohne ein Bild werden zu können stakt es heraus. Leeres Symbol. Allem Symbolhaften in seiner beschriebenen Gestalt sich entziehend, weil die keinen Namen für sie zu finden vermag. Während im Sehen die Beschreibung das Bild auseinander hält, ihm Zeit gebend auf dass es nicht in sich zusammenstürze, verleiht ihr wiederum das Bild einen Rahmen, der ihr zu einem Ende zu kommen erlaubt. In seiner ungesehenen Berührung des Bildes aber, entzieht der Erblindete dem Sprechen jeglichen Rahmen, lässt nur Zeit übrig in der Sprechen kein Ende mehr findet: Gesprochenes Besprochenes Beschriebenes als Trümmer lose nebeneinander. Wörter zurückfallend und um sich greifend nach Halt, alles berührend was in ihre Nähe gekommen.

„Binde“ etwa, und dass er verbunden und dies mit der Mutter zumal und zu sehen sei dies an der Farbe des Kleides, wie Sie sagt, die der des Verbandes ganz nah. Verband wiederum, dieses Wort von dem die militärische Einheit mit eingeschlossen, ruft den Krieg ins Gedächtnis vor dessen Erlebnissen Plattner Zeit seines Lebens geflohen. Immer aber im Verband in Verbindung mit der Mutter sich wähnend: das Mütterliche das Allumspannende. Verbindung als Einheit denkend spürend erfahrend und Einheit erneut der Krieg für den Einheiten formiert.

Farbe. Rot. Unter der Hand die Fläche verloren die sie ausmacht. Ein Quadrat ergebe sie, in welches der Kopf des Leichnams gebettet. Von gebettet aber könne, da die Fläche keine Tiefe gewinne, nichts Gegenständliches auszeichne nicht gesprochen werden. Rot. Eine rote Fläche in der der Kopf liegt. Das Rot freilich, wie er denkt, das dem Körper fehle. Keine Wunde keine Male kein „Haupt voll Blut und Wunden“. Aber auch keine Schatten. Nein, sagt Sie von Schatten könne nicht gesprochen werden, nur von Abständen. Rot das Wort dessen symbolische Überfülle gerade dadurch unterstrichen, dass es im Bild fast gänzlich fehlt, dass von ihm sonst nicht gesprochen. Beginnen könne man freilich, wie er denkt, wo der Kopf in dieser Fläche liege mit Nimbus mit Aura mit Heiligenschein, stoße aber bereits da an Grenzen wo von vergossenem Blut die Rede: denn diese Fläche hier ist gemalt und in ihrer quadratischen Form besteht sie darauf.

Vor dem Antlitz

Als Vesperbild sich der mystischen Versenkung der Betrachterin öffnend, hatte die Pietà Mitleid für die Gottesmutter zu erwecken, nicht zuletzt aber freilich auch um in der Andacht selbst Gnade vor den Augen der Jungfrau zu finden. Mit der Hinwendung des Kopfes Christi zur Betrachterin hebt Plattner nicht nur die dialogische Beziehung zwischen dieser und der Jungfrau auf, obendrein im direkten protestantischen Gottesbezug die katholische Vermittlerin hintanstellend. In seiner Unmittelbarkeit bricht der Blick aber auch das ganze Bild auf, die ganze Beziehung zwischen ihm und seiner Betrachtung und was in der Pietà sonst das Ansprechende der Darstellung, wird jetzt zum Anspruch zur Aufgabe zur Erwartung, die vom Dargestellten gleichsam eingefordert. Der allzu lebendige Blick eines Toten. Ein Blick der nicht loslässt, sich zugleich aber auch entzieht. Ein Blick der das Gesicht im Schädel hält. Ein nicht vorhandener Blick, der deshalb gerade so anwesend. Mitunter, so eine mit Blick auf das Bild, binde man in dieser Gegend den Toten einfach die Augen zu, wenn der Tod sie ihnen nicht geschlossen. Die Augen unter der Binde sind geöffnet, und gerade weil sie verbunden, wird dies nur umso deutlicher und umso durchdringender starren sie die Betrachterin an. Verwischen die geschlossenen Augen den Unterschied zwischen Schlaf und Tod - und nicht selten vermag das Sehen keinen Unterschied zwischen beiden zu erkennen – erklärt die Binde den der da liegt unmissverständlich für tot.

Die Binde die aber auch denen angelegt, die man hinrichtet. Der Blick der hier gesehen ist der letzte Blick des Hingerichteten und es ist der Blick auf die, die ihn erschießen. Unter dem auf ihn gerichteten Blick des Hingerichteten wird die Betrachterin nun selbst zum Mitglied des Erschießungskommandos, auch und gerade weil, eigentlich auf dem Rücken liegend, der Tote im Tod sich ihr regelrecht zuwendet: aus dem Bild sie anstarrend sie anklagend. Dieser Blick widerspricht aller Erlösung dieser Blick fordert Verantwortung ein. Dieser Blick ruft dazu auf die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Seine Nähe zum Existenzialismus, den Plattner in den Nachkriegsjahren in Paris und in den Stücken von Sartre und Camus kennen gelernt, dokumentiert hier aber auch, und wie eine Art durchgestrichenes Zitat, der Blick als Begriff, der bei Sartre als Medium der Konstitution des Ich durch den Anderen verstanden. Solcher Konstitution und Stützung des Ich verweigert sich der, dem das Sehen verweigert, und Blinde wie Tote werden hierfür gleichermaßen mit ihrer Objektivierung, mit ihrer Degradierung zum Gegenstand bestraft – denn kein Blick ist den Blinden wie den Toten zur Abwehr der Blicke zur Hand, und ungehindert greifen die Blicke des Sehenden dem Blinden hinein ins Gesicht genauso wie den Toten. An diesem Punkt der „Hölle“ des Anderen – unter der Binde noch grausiger und höllischer – kippt das Bild in gewisser Weise, führt Plattners Darstellung des Christus zu einem Abbild nacktester Hilflosigkeit zurück, von der aus der Ecce Homo als Menschwerdung seinen allerersten Ursprung genommen. Menschwerdung Gottes als Anklage gegen den Menschen, der es versäumt Mensch zu werden. Einforderung der Menschwerdung des Menschen im Anderen, der hier die Tür zu einer ganz anderen Philosophie öffnet weg von Sartre (ein stückweit zumindest) hin zum Denken des jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas, für den der Andere die absolute Verpflichtung, eine absolute Demut ihm gegenüber einfordernd. „Die Nacktheit des Antlitzes ist ein Losgerissen werden vom Kontext der Welt, von der Welt, die in Form eines Kontextes Bedeutung trägt. Das Antlitz ist genau das worin sich das Ausnahmeereignis des >von-Angesicht<, das von der Fassade des Hauses und der Dinge nur nachgeahmt wird, ursprünglich zuträgt. … nackteste Nacktheit, das Wehrlose und Ohnmächtige selbst, die Entblößung und Armut der Abwesenheit die Gottesnähe konstituiert: die Spur“.

Im Wissen um die Krypta

Betrachtete man aber, so der Kurator, einzelne Ausschnitte der Pietà und vergliche sie mit Ausschnitten der Fresken unten in der Krypta des Klosters, stellte man, und da sei er sich sicher, verblüffende Ähnlichkeiten fest, wisse vielleicht manches Mal gar nicht welchem Werk der jeweilige Ausschnitt zugehörig. Und dann die Farben. Freilich habe Plattner die Fresken im Kloster nie gesehen, da sie erst nach seinem Tode freigelegt, und dennoch sei deutlich der Einfluss der romanischen Freskenmalerei dieser Gegend in seinem Werk nachzuweisen und wie verblüffend nahe seine Farben denen der Fresken in der Krypta, sei deutlich etwa an dem Blau der Strümpfe der Mutter, das dem Blau der Farbgebung der Erlösungsdarstellungen in der Krypta zum Verwechseln ähnlich.

Der Weg hinunter. Zunehmend eisiger werdende Kälte. Sich windende Gänge über Holzblanken, an deren einen Seite unverputzte Felswände hereinbrechen. Erster Bauabschnitt, und einziger noch aus romanischer Zeit erhaltener, bildet die Krypta mit ihren Fresken nicht nur den baulichen und den symbolischen Ausgangspunkt der Klosteranlage – schlagen beide doch einen Bogen vom Felsen und der Darstellung des Petrus mit dem Fels auf dem die Kirche zu errichten hin zur Eschatologie des Himmlischen Jerusalem, hin also bis ans Ende aller Zeit. Vom Übergang des Zeitlichen ins Zeitlose ausgehend, der in den Fresken mittels einer rechteckigen geometrischen Figur zu Füßen der Engel Darstellung findet – die Welt des Zeitlichen anzeigend wo die Figur anwesend wo sie aber abwesend die Engel im Zeitlosen schwebend – ließe sich noch eine ganz andere Korrespondenz zwischen Plattners Pietà und der Freskenmalerei des Kloster Marienberg andenken, der sich den verschiedenen Stadien von Bewegung und Zeit in Plattners Gemälde anzunähern suchte. Was in der Krypta Darstellungsversuch am Rande der Ewigkeit, weist Plattners Pietà als seinen dunkelsten Gegenpol aus. Gleichsam nur von der Bretterwand des Ausstellungsraumes zusammengehalten, zerfällt in der Imagination des Blinden Plattners Gemälde in drei Zeiten oder genauer Geschwindigkeiten: einerseits in eine beträchtliche Unruhe in den Brettern der Zäune, denen gegenüber, in ihrem Dialog mit dem toten Körper des Christus, die Landschaft – eher Erstarrung denn Ruhe – und beides wiederum umwoben von einem scheinbar nicht enden wollenden Fluss der aus den Händen der Mutter fließenden Binde, die alles, Kultur Zivilisation Natur wie Landschaft, ja die Mutter selbst noch in ihrer weißen Tracht zu umspinnen scheint, in seiner furchtbaren Realität all dies unabänderlich und schicksalhaft festzurrend. „Die Zeit ist das Kreuz … Gott hat uns in die Zeit hinein verlassen.“ (Simone Weil)

Eine gebrochene Korrespondenz also. Ein gebrochener Dialog. Ein absoluter Riss das nackte Antlitz dazwischen. Der Mensch als Anspruch der Zeit. Am 8. Dezember 1986 nahm Karl Plattner sich das Leben.