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Innenansicht Jüdisches Museum Berlin, die Achsen © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Thomas Bruns

Zerrissenes Empfinden, Empfinden der Zerrissenheit

Annäherungen eines Blinden an das Daniel Libeskind-Gebäude des Jüdischen Museums in Berlin

Gebäude haben ihren Ruf, worin nicht allein ihre Geschichte sich spiegeln will, einen Ruf, der zudem nicht selten einen Mythos transportiert, dessen Herkunft aber, unschwer verfolgbar, über Entmythisierung manches Mal weit hinausgehen muss. Was einen solchen Mythos betrifft, brachte die Beschreibung des Neubaus des Jüdischen Museums in Berlin von Daniel Libeskind durch einen Journalisten Bilder hervor, die sich im Kopf des blinden Autors regelrecht eingefressen hatten, die zu einem allgemeinen Urteil sich in den Nullerjahren des neuen Jahrtausends verfestigt hatten und bis vor kurzem auf ihre Ent-Mythisierung in seinem Kopf geharrt hatten. Die These des Journalisten damals war, der Libeskind-Bau stelle einen zerbrochenen Davidstern dar. Ein Tastmodell in Händen suchte der brave Blinde nach vertikalen zerbrochenen Linien, in denen er dieses Bild sich bestätigen lassen wollte und wurde zutiefst enttäuscht, da derartige vertikale Auswüchse natürlich nicht zu finden waren und das grandiose Gebäude sich im Kopf des Blinden vollkommen neu zusammensetzen musste. Aber fangen wir nochmals von vorne an und nähern uns mit dem blinden Autor und seiner Begleiterin Monika Flores, Ausstellungskuratorin im Jüdischen Museum, dem Gebäude zu Fuß an, oder genauer: suchen wir wahrzunehmen, wie uns das Gebäude Schritt um Schritt näherkommt, hören wir, spüren wir zuallererst sein Näherkommen, das unsere Bewegungen nur hervorruft, sie evoziert.

Die Brüche, von denen die Beschreibung sprach, von denen der blinde Autor zuvor gelesen hatte: von oben wären sie nur zu sehen, wären imaginär aus einer vorgestellten Vogelperspektive einzubilden, es sei denn, Mensch ertastete im taktilen Plan den Grundriss wie die Dreidimensionalität, die die taktile Umsetzung des Gebäudes von dem blinden Kulturvermittler und Pianisten Jonas Hauer zu erspüren ermöglicht.

Im Modell ertastet, erscheint dem blinden Autor das Gebäude dann nämlich ganz anders als in den inneren Bildern, die er aus Beschreibungen vormals gewonnen hatte, bricht das Tasten selbst das innere Bild auseinander, um in der realen Bewegung wiederum hörbar den bildlos Gehenden erneut einzuschließen, ihn zu umfangen, obschon die Einschließung löchrig erscheinen muss, es Auswege gibt, die der fließende Verkehr akustisch offen hält, der Metropole-Fluss des Gedächtnisses schlechthin, der von einem jeden Ort her zu flüstern scheint: Ich bin schon da und ich bin schon da gewesen.

An diesen zwei Momenten des Vorherigen, einem Geraune über ein Gebäude und einer Art Ahnung, einem inneren Bild vielleicht, das das Herangehen einfärbt, machen sich Vorurteile fest und dies wäre zunächst nicht unbedingt negativ anzusehen. Vor allem erscheinen sie im Fortgang unserer Annäherung äußerst produktiv, bilden eine Art dialektisches Konzept, in das hinein die leibhaftige Berührung greift. In diesem Hineingreifen zerreißt nämlich etwas, das die Berührung quasi verneint, indem sie sagt: Das ist es nicht. Das Materiale widerspricht einem inneren Bild an Form, ohne dass die Berührung freilich ein anderes Formbild hervorrufen könnte. Was sie aber dennoch hervorruft, ist ein inneres Bild des Materials, das für sich genommen natürlich ohne Zeit keinerlei Form ergäbe denn die der Haut, die diese Berührung vollzieht: Was bleibt, ist die Form der Haut in Gestalt von Hand und Finger, unter der das Material erscheint. Was aber auch erscheint, ist eine Kommunikation dieser Materialform mit der Zeit, in der die Materialform sich am Berührten bewegt, um zur Form zu kommen, die Form in der Berührung als inneres Bild erstehen zu lassen.

Das für einen Blinden entscheidende Moment einer Ausrichtung seiner Bewegung ist die Annäherung an eine Wand, der entlang er sich würde führen lassen können: Eine Wand tritt ihm da bei seiner Annäherung an das Jüdische Museum durchaus entgegen, allerdings eine akustisch andere Wand, als er mit einer Steinmauer sie erwartet hatte. Die ganze Fassade nämlich ist mit Zinkblech verschalt, an die sein Blindenstock sogleich auch knallt und die an zu überführende Tote erinnern muss; Tote, die innerhalb Europas einst in Zinksärgen über Grenzen transportiert wurden oder werden mussten. Vollkommen anders ist das Material der Mauer so zu hören, als wenn sie einzig von Stein oder Holz gebildet werden würde. Auf die spezielle Akustik, die Stein im Echo hinterlässt, werden wir später bei den Stelen im Garten des Exils noch einmal zurückkommen; hier am Zinkblech, oder überhaupt an Metall, rutscht der Echoschatten ungehalten einfach zu Boden, während Holz eher eine warme Umfassung für ihn bilden würde und Stein je nach Rauheit seiner Oberfläche den Echoschatten eine Weile bei sich verweilen ließe.

Hier an der verzinkten Außenfassade geschieht aber auch etwas Merkwürdiges: Das Echo des Stockschlages dringt hinein in die Wand, verspielt sich warm in ihr drinnen mit sich selbst und lässt einen Hohlraum hörbar werden, der sich vom Außen des Echos, dem Echo, das der Autoverkehr hervorruft, absetzt, sich gleichsam von ihm zurückzieht und distanziert, als erführe die Fläche der Fassade im Hören eine Dreidimensionalität, die imaginär in das Gebäude hineinführte, ohne dass es überhaupt betreten worden wäre.

Eine weitere Kuriosität des Tastens entlang der Mauer, vom Eingang aus erhört, ist ein abruptes Abreißen der Wandführung, die sich spürbar zu einem spitzen Winkel weiter ertasten lässt, sich aller Neunziggradarchitektur widersetzend und den Abschied des Gebäudes von aller Rechtwinkligkeit ankündigt, auf die wir im Schreiten um und im Museum immer wieder stoßen werden.

Kaum dass der Blinde begonnen hatte, der Zinkwand nachzugehen, hört er auch schon wieder das Ende seines Schrittes ihm entgegenkommen und stumpf schreiten seine Echoschritte auf ihn zu, ein Echo wie ein Schatten, das allerdings gedoppelt von seiner eigenen Echobewegung eingefasst wird, durch sie hindurchgeht, Echo eines Echos gleichsam, und durch diese Einfassung hindurch, durch diese Verdoppelung seines Echoschrittes hindurch kommt, dezent geradezu, ein dritter Schatten ihm entgegen: durch eine dritte Mauer vor ihm gebrochen wie das Frontispiz zu dem Gedichtband Umbra Vitae von Georg Heim. Der Schatten einer grafischen Figur wird in dieser Lithografie als drohendes Gespenst dargestellt. Zugleich aber widerspricht die akustische Realität der Vision des Blinden, indem sie eine rege Kommunikation der Echogebilde mit dem Verkehr auf der Lindenstraße hinter ihm anheben lässt: trapezförmig stellen sich die drei Wände des Gebäudes dem Blinden und seinem Schreiten entgegen, wobei die abschließende Seite der geometrischen Form von der Straße hinter ihm gebildet werden würde, von der Straße und dem Verkehrsfluss akustisch in die Geometrie hinein imaginiert werden würde.

Den verschalten Mauern nachgegangen, und die Schritte zu einem weiteren Bild im Kopf des blinden Autors imaginierend, entsteht ein Zickzack, in welchem die Schritte wie hin-und hergeworfen erscheinen, die Wände bildlos zu einer akustischen Architektur eines Hin-und Hergeworfenseins, eine Architektur, die sich schroff immer wieder zurückzieht, die in ihren Brüchen aber etwas anderem wieder Raum gibt, es eröffnet.

Im Inneren des Gebäudes setzt sich dem eine weitere Form entgegen: In drei Achsen, deren Mitte ein Dreieck bildet, lässt der Architekt die Biografien der Juden in der NS-Zeit zerfallen: in die Achse der Kontinuität, die Achse des Holocaust, die Achse des Exils.

Und noch etwas ganz anderes entsteht: eine Architektur als sinnlicher Ausdruck von Gedächtnis und Reflektion, die am Ende der jeweiligen Achsen nochmals architektonisch Gestalt gewinnt und Besucher*innen mit unterschiedlich gemauerten Graden der Behinderung konfrontiert.

Am Ende einer solchen Linie durch das Museum hindurch, einer der Achsen nach, die sich aus dem Gebäude heraus fortsetzt, um in etwas ganz anderem als einfach an einer Mauer zu enden und sich dort zu brechen: So tut sich am Ende der Achse des Exils der Garten des Exils auf, wie am Ende der Achse des Holocausts der Holocaustturm mit seinem akustischen Schrecken wartet, wie die Achse der Kontinuität hin zu einer Treppe führt, deren Stufen aus dem gleichfarbigen Material wie die Steine des Paul-Celan-Hofes gebildet sind, im gleichen dunkelgrauen Farbton aufkommend sie, und auf die Sehenden wie ein herabfließender grauer Strom zukommt.

Der Garten des Exils: Wir werden in ihm von eher kreischenden denn zwitschernden Staren begrüßt, die die ganze Szenerie unheilvoll einhüllen und an Hitchcocks Film Die Vögel erinnern lassen. Das Entkommen im Exil bekommt hier, in Sichtnähe zum Holocaustturm, einerseits etwas von einer Unausweichlichkeit und zugleich stellen sich einem jeden Schritt Sichtbetonblöcke in den Weg, verstellen Weg und Sicht, wirken aber hörbar auch wie eine Verlängerung der akustischen Atmosphäre. Nur nach oben hin, himmelwärts ist der freie mauerlose Blick möglich, der jetzt aber gerade, und erst recht für den Blinden, von der bedrohlichen akustischen Kulisse der Vögel eingehüllt wird.

Etwas von Mauern bleibt dennoch; die Stelen im Garten des Exils, die weit größer als Menschen den Menschen entgegenstehen, die akustisch wie visuell freies Gehen verstellen, eine überdimensionale Vorahnung von Särgen vor dem Himmel. Derselbe Himmel wie seit Jahrtausenden, derselbe Himmel wie anderorts, wie allerorten, der die Erde so einheitlich umfasst und dem Welten so massiv an gewissen Orten widersprechen.

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Außenansicht Jüdisches Museum Berlin, Fassade Libeskind-Bau © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe

Wiederkehrend der Schatten, abgebrochen jetzt aber, wie von einem Messer durchtrennt, abgeschnitten sein Eigenes von sich selbst, im Schritt zerbrochen auftauchend, um nach seinem Erscheinen sogleich wieder zu verschwinden, von in der Breite schmalen Stelen, blasse Erinnerung nur zurücklassend, von keiner lebendigen Gestalt gehalten, keiner Halt gebend. Ein Außen durch den Verkehrsfluss jenseits des Museums hörbar, leicht reflektiert an den Stelen. Das Außen, die Entrinnbarkeit als Hoffnung, ungewollt ruiniert sie die klaustrophobische Atmosphäre, gaukelt ein Außerhalb vor, ein Danach, das Erlebtes übergehbar, ihm entrinnbar erscheinen lässt.

Der Schritt und die Hand

Schritte. Geteertes, Planes, Gerades. Von einem Moment auf den anderen unter den Füßen einen Schnitt gespürt, etwas, das da eigentlich nicht hingehört, das einfach vorbei ist oder nur so gedacht werden könnte: ein Wechsel im Bodenbelag wie ein Zeitsprung, gefühlt, als ob der geteerte Straßenbelag zurückgerollt worden wäre und eine Schicht darunter zum Vorschein kommt, die von Vergangenheit spricht: regenschlüpfriges Katzenkopfpflaster, von dem die Sandalen wegrutschen. Bevor aber Mittelalternostalgie sich breitmachte, treten die Schritte auf gebrochenes Gestein, treten auf Glas und bricht sich ein vollkommen anderer Raum akustisch Bahn, schieben Scherben, Schutt und Steinbrocken auf eine nochmals ganz andere Zeitschiene, eröffnen einen nochmal anderen Raum, einen Raum mit einem Grund aus Zertrümmertem, aus Zerbrochenem, knirschend Schritt um Schritt gehört, gespürt, gefühlt.

„Die Scherben sind von einer Bierflasche, die hier jemand zerschlagen hat“, so die Begleiterin. „Die zertrümmerten Steine aber gehören zum Bodenbelag, der von den Gartenarchitekten Cornelia Müller und Jan Wehberg gestaltet wurde.“

Bildlos erfährt der Blinde eine Stadtlandschaft, die als Raum ihn verschiedene Zeiten überlagert erfahren lässt. Denn auch das zerschlagene Glas bringt er mit den zertrümmerten Steinen in ein inneres Bild, das der Zerstörung, das der Pogromnächte, eine ganz körperliche Erfahrung des Zerrissenseins, assoziativ von den Sinnen zusammengeklaubt.

Gedächtnis wird zur Erinnerung von Nichterlebtem, Körper maßt sich an Nichterfahrenes zu spüren. Eine Ahnung von außen, als fiele ein Blick, zumal eines Erblindeten durch ein Fenster herein in einen nur spärlich erleuchteten Raum, dessen Volumen er spürend erführe, als habe eine Gewalt Wände und Mauern aufgerissen, um hinter ihnen etwas in ein wenig Licht Getauchtes freizugeben, das zu verbergen eben dieser Mauern einziger Sinn einst gewesen wäre. Das, was die Hand des Blinden da erfährt, was eine Art kollektives Gedächtnis ihn sehen lässt, Bilder sind es, die dann doch wieder einzig zu einem Ereignis führen, von dem ihn der Libeskind-Bau nicht loslässt, ihn im Gegenteil immer wieder darauf stößt.

Für Sehende scheint das Bild einer beeindruckenden Architektur zu bleiben, die die Matrix für alle Erinnerung abgibt und an ihr sich reproduzieren lässt, etwas in ein Spüren hinein wiederholend. Aber ist das tatsächlich so, ist das Bild tatsächlich die schmerzlindernde Schachtel, gegen deren Wände gefahrlos geboxt oder zumindest gestoßen werden kann?

Irrgarten des Gedächtnisses oder: Geräusche als Albtraum in Zeit

Für den Blinden wiederholt sich im erneuten Begehen der Architektur Riss um Riss in seinem Körper, Geräusch um Geräusch in seinem Fleisch, eine Zeit erwirkend zu einer Intensität, deren Erinnerungsbild den Irrgarten einer Erfahrung spiegelte.

Wenn der Erblindete beginnt, sich sein blindes Erinnerungsbild wiederzuholen, es sich aufzurufen, all das Ertastete, das Erhörte sich einem vereinheitlichenden Bild zu unterwerfen beginnt, erinnert aber es nur, zerreißen ihm die erfahrenen Schnitte dieser Erinnerung immer und immer wieder das Bild, das sich im inneren Bild nicht wiederzufinden vermöchte. Nichts ginge in ihm auf, löste sich in ein homogenes, homogenisierendes Bild auf, ließe die Zeit sich in einem Bild kondensieren, kompensieren: Nichts sähe sich darin im inneren blinden Bild, fände darin jemals Erfahrenes. Ein jedes Bild, das Geräusche, Ertastetes, Gehörtes jetzt so genau sinnlich wahrnimmt, das sein inneres Bild zusammenruft, das Bild selbst widerspricht allen Eindrücken und es wirft sich die Frage auf nach einem inneren Bild hinter dem inneren Bild.

Der blinde Körper, der sich dem Gebäude nähert, der blinde Körper, der die Ereignisse seiner Bewegungen in seinen Sinnen sammelt, um in seinem Körpergedächtnis ein Bild des Erfahrenen herauszulesen, eine Zeit, die Zeit seiner Annäherung aufzulesen, die es aus Geräuschen und Getastetem öffnet. Und so wiederholt er die Annäherung an das Jüdische Museum nochmals, dabei auf den Dialog seiner Schritte mit dem Gebäude achtend, sie regelrecht sich in ihn einschreiben lassend, sich ihnen öffnend. Die zerbrochene Fassade eine Beschreibung. Das Aufklauben des Bildes durch die Hand des Blinden: eine nochmals andere Zeit stellt sie im Vergleich zu den Schritten dar, ist ihre Konsequenz, das innehaltende Resümee der Schritte, ihr austastendes Näherkommen.

Was aber verwebt sich in den beiden Bewegungen, dem erhörten Schritt und seinem Gespür, das sich andererseits in der kalten glatten Zinkoberfläche bricht wie die Schritte vorher, die rauen Betonwände ahnend, sie geradezu erwartend, nachdem ihre vorherige Erwartung nicht erfüllt wurde.

Bildlos taucht der Blinde vor dem Gebäude auf, sammelt in seiner Bewegung das Echo dieser Bewegung bei sich, das ihm das Gebäude zurückgibt: Akustisch nähert er sich also aus dem Schatten seiner eigenen Bewegung dieser Bewegung nochmals an und indem er sich bewegt, tritt er sich kurz vor dem Gebäude hörbar gegenüber, klar nun und nur für einen kurzen Moment dem Echo seines Schattens gegenüberstehend, in den er hineinfällt, nur um aus ihm wieder herauszutreten und um sich in der Berührung vom Material des Gebäudes in seine Haut hinein aufbrechen zu lassen, sich ihm zu öffnen.

Eine noch ganz andere Zeit erfährt er dabei, die Zeit seines Gehens und seines Tastens, in die hinein er von seiner Begleiterin mitgenommen wird. Dieses Hinein zeigt sich an der Außenfassade dann aber nochmal ganz wörtlich, zeigt sich an den Fenstern, die wie Schnitte, wie ein Aufreißen sich darstellen: Tief hinein in die Mauern fährt die Hand, der Arm, bis sie an Glas stößt , Fenster so tief, als wollten sie sich zurückziehen, sich in etwas hineinverstecken, das nichts anderes aber ist als sie selbst und ihre Verwundung. Noch die Zinkverschalung lassen sie hinter sich, noch den letzten Mantel, der nicht mehr ausgezogen werden kann, der nur heruntergerissen werden könnte. Die Fenster, genauso wie an der Fassade gespürt, auch sie nur spitze und stumpfe Winkel, die sie bilden, Schrei und spitzkantiger Lärm tastbar, laut wie eine Bedrohung und zugleich das Verstecken vor ihr.

Der Unterschied zwischen der berührenden Hand, die die Mauer spürt und dem Fuß, der den Boden betritt und die Geräusche seines Gehens zu Gehör bringt, den Belag dabei spürend, der Unterschied zwischen einer ausdifferenzierten Formsprache, die die Haut in ihrem Tasten erfassen kann und dem Material, das in Geräuschen und Tasteindrücken in seinen Körper hineinschwingt. Eine Distanz am blinden Körper gespürt von der Entfernung des Bodens zur Nähe, die an die Hand herantritt, die der Fuß von sich zu weisen sucht. Die nackte Hand spürt die Differenz zum Fuß, spürt das Ungeschützte mit dem Geschützten des Fußes kommunizieren, mit der beschuhten Haut des Fußes in Kontakt treten: das sichere über Glas und geborstenen Stein Gehen, und das vor den Schnitten der Metall- und Steinwand nur vorsichtige sich Vorantasten und auch nur, um wieder zurück zu zucken.

Zeit tritt in unterschiedlicher Gestalt in den blinden Körper ein, prallt in ihm auf sich selbst. Zeit erst bringt im Tasten bildlos Form hervor, trennt in der Berührung aber sogleich Form vom Material, um im Hören die Struktur einer Bewegung, die das Geräusch verursacht, aufzudecken. Das unwillkürliche Auftreten der Zeit des Hörens, das Erhören des Raumes, das Fühlen der Luft, ihr Spüren als Erspüren einer Atmosphäre, die sich als perspektivisch, als Ahnung deuten ließe.

Gebrochen aber im eigenen Leib die Zeit hinein in Distanz, in eine Trennung von sich selbst und der blinde Autor fragt sich, ob das, was er sodann im Ergehen des Inneren des Libeskind-Baus erfahren wird nicht genau das ist, was ihm an unterschiedlichen Tast- und Spüreindrücke bereits als Zerrissenheit widerfahren war, das Gehen durch das Gebäude ihm etwas wieder herholt, als ein inneres Bild etwas wiederholt, das ihm als Körperwerdung von Architektur als leibgewordenes Kaleidoskop diesen Leib in den Scherben seiner Erfahrung zerbricht: als Verlust an Orientierung wird sich auf andere Weise das Zerbrechen wiederholen, ein Chiasmus, eine Verschränkung, wie Maurice Merleau Ponty dies vielleicht gemeint haben könnte, die Körpererfahrung bis hinein in den Schwindel hinein durchkonjungierend.

Raum wie Körper, immer wieder von der Zeit in einer Dauer zurückgelassen, die beide ineinander sich in der blinden Wahrnehmung überschneiden lässt, die kein Bild mehr zusammenhält. Im Blinden wird Raum zu Zeit schlechthin, fassen sich Raumereignisse erst in Zeit zu etwas Kontinuierlichem zusammen, das mit dem Begriff der Zeit gefasst werden kann, ohne dass seine Schnitte und Brüche dabei sich durch Zeit einebnen ließen. Zeit als Gespür des Inneren, inwendig Erfahrenes nachgetastet und zugleich den Körper des Erfahrenden erfahren.

Nicht die Frage, was der Raum sei, sondern eher wie er sei, nicht seine Geometrie, sondern seine Physis, seine erfahrbare Körperlichkeit. Nicht was er sei, sondern wie er gedacht werde, wie er in Zeit überhaupt erst entsteht und ein jeder Raum ist nur eine Stabilisierung von Zeit für einen Moment, den die blinde Berührung so aufreißt, dass er in inneren Bildern unendlich fortgesetzt werden könnte, sich dahinein fortsetzen muss.

Das Schweigen des Raumes, den das Geräusch in Schwingung versetzt, dessen Räume Echos der Stimme brechen, wenn er angesprochen wird und dies ganz wörtlich: vom Raum im Raum sprechen, ihn konkret ansprechen, ihn herbeiklatschen.

Der Blinde zentriert den Raum bei sich in seinen Bildern, füllt ihn, genährt durch seine Sinneseindrücke. Der Moment also, sprich die Zeit, füllt ihn auf, übernimmt die in ihm gestauchten Eindrücke, die es allerdings nur geben kann weil es den Raum und seine Mauern gibt, die in ihren Echos den Bewegungen des Körpers antworten. Im Echo aber wird der Raum durchlässig, bricht sich doch nicht einfach etwas an ihm, öffnet sich für den Blinden, der die Wand nicht sieht, etwas, das die Wand durchlässig erscheinen lässt, etwas wohinein oder hindurch ein Hinein erscheint, eine Tiefe, die dem Auge nicht geöffnet ist, die ihr abgeschnitten erscheint. Nur bildlos wird der Raum zum Leib des ihn betretenden, ersteht ein neues Bild aus dessen Erfahrung, generiert sich das Bild selbst neu und aus seiner Bildlosigkeit.

Schwarz und Weiß

Schwarzer Boden, schwarze Decke, weiße Wände. Die Decke aufgerissen, ein greller Strahl sie durchschneidend, zwei Decken eigentlich, eine schwarze aufgerissene, eine weiße noch darüber, auf der ein Lichtstrahl durch das Schwarz sichtbar ist, so Monika Flores, die dem blinden Autoren ihre Sicht vermittelt, ihm das Bild des Raumes öffnet, einen Raum öffnet, dessen geriffelte Schieferfliesen dem Schritt eine Festigkeit vermitteln, oder eher sie ihm vorgaukeln, die ihn hält trotz eines Auf und Ab des Bodens, der zwar eben ist, aber immer in Wellen daherkommt, der sich selbst zu bewegen scheint: der Boden kommt ihm entgegen, tut dies noch mehr als es eine jede Straße für den Blinden zu tun scheint, öffnet sich in seinen Unwägbarkeiten, indem er begangen wird, in der Erfahrung seiner Schritte, lässt Zeit und Geschichte unberechenbar erscheinen, wie sie ungesehen dem Blinden erscheinen müssen, der immer eine Begleitung im Jüdischen Museum benötigt, die ihn, Raum und Gegebenheiten kennend, durch die Zeit seines Besuches führt. Ein Schwindel lässt sich spüren, der aber nicht im Gehenden aufkommt, der in den Wellen des Bodens aufkommt und sich auf den sich Bewegenden nur überträgt wie ein gesendetes Signal, das sich seinen Empfänger im Gesendeten selbst schafft.

Den Straßen geht ein Plan nach, der ihren Verlauf aufzeichnet, sie öffnen sich dadurch einer Berechenbarkeit, der Bestimmbarkeit eines Vorhabens, eines Weges. Solcher Plan, Papier oder Google in der Hand, ist der Garant anzukommen. Auch im Jüdischen Museum Berlin gibt es freilich solche Pläne, die ein Zick-Zack, ein Hin und Her dokumentieren, die tatsächlich etwas von einem Im-Nach-Hinein aufweisen, Zeit nochmal ganz anders im Weg Fleisch werden lassend, ein Empfinden leben lassend, das mit keinem Plan und schon gar nicht vorweg erfassbar ist. Überall treffen Besucher*innen daher auf sogenannte Hosts, auf Menschen, die den Weg wissen, die hinein und herausführen, in denen Geschichte ansprechbar wird. Gerade dieses, das menschenvermittelte Wissen, die Zuverlässigkeit der Menschlichkeit will hier vermittelt sein, genau das, was den Juden in bestimmten Zeiten nicht zuteil wurde, breit von der deutschen Mehrheitsgesellschaft verweigert wurde, was nur wenige hier als Widerständigkeit gegen den braunen Dreck und seine Ideologie lebten: Menschen eben, Menschen, die nein sagten, Menschen in der Minderheit.

Während das Ohr die Mauer ins Durchlässige erhört, verlängert sich im Tasten die Wand in den Körper der Blinden hinein, kommt er im Körpergedächtnis zu sich, zu einem Sich, das eine Lebendigkeit im Stein erspürt, das Leben dem Erhabenen zurückgibt, es als Fleisch und Blut lebendig werden lässt.

Während für die Sehenden der Raum für ein Zusammensein steht, löst die blinde Berührung die Ereignisse im Raum in ein Nacheinander auf und das Nacheinander wiederum erfährt seine Grenze in der Imagination eines Zusammenhaltes, der nur ideell sein kann. Für den sich bewegenden Blinden besteht der Raum aus einer Abfolge von ertasteten, erhörten, gerochenen Sensationen als sensitiv erfahrenen Momenten, die für sich nur in der Sprache, im Begriff einer Ganzheit sich unterwerfen wollen und können. Ebenso wie der Gegenstand, das Entgegenstehende sich erst einmal entzieht, entzieht der Raum sich als Ganzes und ist in seiner Geschlossenheit überhaupt nur zu erfahren: Gehörtes, Gespürtes, Geschmecktes ist nur in einer gewissen Abgegrenztheit, einer gewissen Verdichtung als solches erfahrbar.

Bildlos verwandelt der Erblindete den Raum in Zeit, verwandelt ihn in eine Vielzahl von sinnlichen Eindrücken, die in ihm und seinem Körper zusammenfinden.

Das Schweigen des Raumes aber ist auch eine fatale Versuchung, bringt es doch ein Ego hervor, das ihn umgeht, um ihn umgehen zu können. Der Umgang mit dem Raum, ein Umgehen, das die Zeit im Blinden nicht außer Acht lassen kann, stürzt der Raum dann doch nur noch in den Moment einer Imagination zusammen und verschwindet darin.

Aber ist der Raum für den Blinden oder Erblindeten etwas anderes als ein Vorurteil, das er braucht, um ihn überhaupt betreten zu können: Wäre der Raum dann überhaupt etwas anderes als ein Konzept?

Welche Konzepte und Vorstellungen ruft er im Bildlosen hervor, dann wenn kein Bild das Erfahrene zusammenfasst oder auch nur zusammenbringt. Das beginnt bereits bei seinem Betreten: Der Blinde betritt den unbekannten Raum nicht einfach, er weiß von ihm oder hat von ihm gehört. Die Informationen färben sein inneres Bild aus, skizzieren seine Vorstellung. Umgekehrt bestätigen seine übrigen Sinne nur diese Vorstellung oder verwerfen sie um eine andere, nicht weniger richtige oder falsche Vorstellung zu entwickeln, sich dabei aber etwas anzunähern, das nie mehr als ein Annähern sein wird. .

Immer ist daher für den Erblindeten eine Begleitung durch das Jüdische Museum von Nöten, muss er sich auf ihren Arm und oder ihre Stimme verlassen. Monika Flores, die den konkreten Raum des Jüdischen Museums ins sinnlich Konkrete stellt und ihn aus dessen Ästhetik und Geschichte hervorwachsen lässt hinein in den Körper eines Tastenden, Hörenden und Fühlenden und Schmeckenden führt durch das Gebäude, führt hinein in seine Sinnlichkeit.

In der Erblindung erfährt der Raum eine vollkommen anders geartete Nähe, die eine ganz andere Intensität mit sich bringt.

Unterschied zwischen erlebtem, erlebbarem und vorgestelltem Raum: Im Blinden überlagern sich alle drei Konzepte, werden konkretisiert und konkretisierbar, der Nah-Raum wird erlebbar und die Ermöglichung solcher Erfahrbarkeit unterliegt der Bereitschaft, sich auf die gebrochenen und sich zugleich überlagernden Konzepte einzulassen. Das aber eröffnet auch die Frage einer Ausbildung einer Heranführung an die drei Konzepte, die ja dementsprechend nicht nur eine Frage von Sichtbarkeit und Nichtsehbarkeit eröffnet, sondern auch Geschichte und Geschehen noch einmal ganz anders denkbar zu eröffnen erlaubt. ​

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Außenansicht Jüdisches Museum Berlin, Libeskind-Bau mit Garten des Exils und Holocaust-Turm © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Burkhard Katz

In einem Nachdenken über ein Jüdisches Museum kann der Nichtjude freilich niemals von einer Erfahrbarkeit ausgehen. In der Annäherung eines Blinden aber an einen realen Raum auf einem historischen Boden, vermittelt durch Ästhetik sowohl als von Kunst her Gedachtem, als auch vom eigentlichen Begriff der Ästhetik her verstandenem Konzept, der Wahrnehmung nämlich als in Betrachtung Verankertem, öffnet sich einem Erblindeten ein Spalt, der noch einen ganz anderen Raum der Vermittlung und Betrachtung eröffnen könnte. Im Begriff der Ausgrenzung versucht ein Erblindeter ganz körperlich die Ästhetik des Jüdischen Museums sinnlich sich zu vergegenständlichen, wird in einem schmalen Grad poetischer Annäherung seine Ausgrenzung vom Bild nutzen, um daraus ästhetischen Mehrwert zu gewinnen und einen ganz anderen Zugang der Vermittlung auch für Sehende vorzuschlagen: den Zerfall der Sinneseindrücke in eine Haltlosigkeit, da sich das haltende Bild aus den anderen Sinnen erst noch und immer wieder aufs Neue bildet und bilden muss.

Der Raum wird hier notgedrungen vom Ort ausgehen, kann dessen Geschichte nicht ignorieren und kann andererseits, von Erblindeten her eine nochmals andere Annäherung einschlagen, eine noch einmal andere Nähe entwickelnd.

Der Raum

Ein Jüdisches Museum im 21. Jahrhundert in Deutschland kann kein Gebäude sein, das seine Räume einfach sich anfüllen lässt und sei es mit noch so spannenden und wertvollen Gegenständen. Immer wird es auf etwas hindeuten müssen, das fehlt, immer muss es die Abwesenheit bedeuten, eine Abwesenheit, die nicht zu beinhalten, nicht darzustellen ist, eine Leerstelle darstellen, die die Ermordung von sechs Millionen Juden darstellt, ohne sie darzustellen, weil ein solches Verbrechen nicht darzustellen ist. Dieser Gedanke war es wohl, der Daniel Libeskind zu Beginn seiner Überlegungen über die Architektur eines Jüdischen Museums im Land der Mörder umgetrieben haben mochte.

Wie aber verändert all dies das Nachdenken eines Architekten über Raum und Räume, wie sollte so ein Raum aufgebaut sein und könnte so der Raum einfach ein genutzter Raum sein, der mit noch so sehr kritischem Material gefüllt, doch nur wieder Vernutzung wäre, allen Inhalt einverleibt, brauchbar gemacht für eine Gesellschaft des materiellen Wertes und der Vereinnahmung, die auch vor der Vernutzung und der Konsumierbarkeit des Grauens nicht Halt macht.

Daniel Libeskind lässt eben diese Leerstelle tatsächlich Raum werden, eine Leerstelle, die sich als Schacht, genauer als fünf Betonschächte, durch das ganze Gebäude zieht, die er Void nennt und um die herum er seine Architektur baut. Und in die Leerstelle herein brechen Ausstellungsbereiche, ja freilich die Dauerausstellung, als steingewordenes Erinnern der Leere, als Stele der Unüberwindbarkeit.

Im Unterschied zu den Stelen im Garten des Exils des Jüdischen Museums entwirft der Architekt Eisenman, die Stelen des Holocaustdenkmals am Potsdamer Platz in unterschiedlichen Höhen, lässt den Besucher*innen Luft, schont sie so in gewisser Weise.

Der Raum und die Blindheit: die akustische Orientierung im Garten an den Autos und ihren Motoren, wo sie sind, ist das Draußen. Innerhalb der Stelen verschwimmt für den Blinden alle Orientierung, bildlos verfängt sich der Blinde zwischen den Mauern, werden die Motorengeräusche zu materialen Eindringlichkeiten, die in ihm an einem gewissen Punkt sind und eben nicht mehr außerhalb von ihm. Der Blinde erfährt die Ausweglosigkeit ganz unmittelbar, und da ist die Höhe der Stelen im Garten des Exils entscheidend, darüber gibt es für Menschen kein Hinaus und zugleich ist die Hervorbringung des Schattens und seines Zerreißens zu beobachten wie das Abreißen des Außen, das an den Stelen als Echo auftaucht und verschwindet, eines Außen, das als akustischer Schatten des Draußen jederzeit wieder verschwinden kann, die Hoffnung eines Außerhalb des Grauens als nie versichert anzeigend. Die Hoffnung wächst hier hinein in das Steinerne, wird zur Hoffnung, dass das Steinerne sich verflüssigt, so wie dem Blinden bildlos die Stelen erscheinen müssen, müssen als Reste des Prinzip Hoffnung, in Stein aber nur, das Sich-Verlieren darstellen, hinein in das Steinerne wachsen. Der Stein, der behält, wird zum Flüssigen, hält etwas wie den Atem bei sich um sich aufzutun, nicht sich zu öffnen, was etwas anderes wäre, denn Steinwerden der Hoffnung ist Verzweiflung.

Schalechet - gefallenes Laub

In einer der Leerstellen, auf ihrem Grund, dem Grund eines Void, liegt es als Bild, ein Bild freilich, das in seiner Dreidimensionalität zur Bewegung einlädt: ein visuelles Bild wird so zu einem akustischen Bild, zur Verkörperung der Vergänglichkeit selbst, denn gibt es Vergänglicheres als den Laut, den Klang, die Stimme, an deren Ende auch ihre Konservierung in der Aufnahme nichts ändert. Das von seiner Farbe her vielleicht an seinen Titel erinnert, aber auch an die Zeit seines Vergehens, an das Vergehen des Kunstwerkes selbst, das dadurch, dass es begangen wird, zu einem akustischen Bild wird und akustisch ist ein Bild immer Zeit und nur Zeit der Geschichte

Wie in einem Becken als Versuchsanordnung vom Wahrnehmungsexperimenten bereitgestellt, liegen im Erdgeschoss über 10.000 Gesichter aus Eisen unter und übereinander. Nachbildungen von Kinderzeichnungen sie, dreidimensional gewordene Punkt-Punkt-Komma Strich Gesichter, über die die Besucher gehen oder zu gehen versuchen, denn auf den in einem Durchmesser von etwa 20 Zentimetern umfassenden runden und flachen Gesichtern halten die Schritte die etwa 25 Meter lange Installation ihre Körper nur sehr schwer aufrecht. Kein Mensch geht da einfach darüber, eher wie ein Wanken über eine Wasseroberfläche erscheint das Gehen und viele der Besucherinnen brechen nach wenigen Metern ab und kehren zurück zum vermeintlich sicheren Ausgangspunkt der Erkundung ihres eigenen Gleichgewichts, mit dem es offensichtlich nicht so weit her ist.

Das eigentliche Abenteuer findet aber in den Ohren statt. Von weitem und durch den Void über der Installation durch das ganze vierstöckige Gebäude vermittelt, sind Geräusche zu hören, die niemals genau bestimmbar sind, deren Unbestimmbarkeit aber gerade eine Unheimlichkeit ausmacht, eine Verwechselbarkeit immer aufrechterhaltend, die die Geräusche mit Alltagsgeräuschen verwechselbar erscheinen lässt, bedrohlich sie hinter allen Handlungen lauernd, niemals endgültig identifizierbar und zu bannen, immer unberechenbar bleibend, die Möglichkeit einer Gefahr als stets anwesend.

Als räume jemand in einiger Entfernung Geschirr ein, bestücke einen Geschirrspülautomaten, als werde Müll sortiert, Bauschrott beseitigt, als würden Metallreste zur Verschrottung bereitgestellt, als werfe man leere Flaschen in den Container. Vielleicht auch, dass Bewegung akustische Spuren im Zeitlichen hinterlasse und die ganze Zeit damit verschmutze: das kalt-hohle Geräusch wird obendrein durch die Akustik des Void über der Installation potenziert und in allen Gängen des Hauses hörbar gemacht, das Geräusch noch zusätzlich seines Ursprunges entfremdet, als läge eine Unterschicht des Gedächtnisses hinter allem, was von Handlung hörbar geblieben ist.

Viele Besucher*innen aber verweigern den Gang durch die Installation, sehen das Schreiten oder Gehen über die stilisierten Gesichter als ein Treten von Opfern und erinnern an die Diskussion, die Charlotte Knobloch angestoßen hatte, als sie sich gegen die sogenannten „Stolpersteine“ als Erinnerungspraxis aussprach, da sie diese als weitere Erniedrigung der Opfer gesehen hatte: als träte man noch einmal auf die Ermordeten, trample man auf ihren Namen herum.

Vom Gebäude zum Bau

Betritt der abendländische Mensch ein Gebäude, so verlässt er sich nicht nur auf die Rechtwinkligkeit, er weiß um Türen als Zugang und Ausgang, er weiß um ein Unten und ein Oben klar im Durchgehen nacheinander getrennt, er weiß um Fenster, durch die Licht hereinfällt und dies ebenso auf eine rechtwinklige Weise, er sieht in allem das Kartesische Koordinatenkreuz verwirklicht und hierin eine berechenbare Ordnung realisiert, die zugleich Zeit mit einschließt: ein Haus wird im Erdgeschoss betreten und sodann begibt mensch sich Stock um Stock nach oben. Eine jede Decke wird als Ende eines Raumes gesehen und nicht als Aufweis, dass hinter der Abdeckung noch etwas drohen könnte, dessen Lichtstreif die Decke durchschneidet, deutlich diesen Riss leuchtend ausweisend. Mauern umschließen menschliche Körper, die sich ihnen anvertrauen, dichten sie gegen allen Ansturm ab. Wenn sie Risse aufweisen, gelten sie als nicht sicher. Die Mauern hier aber sind durchbrochen von schlitzartigen Rissen, die Helligkeit eindringen lassen, dies aber nur in Gestalt von Versehrungen, von einer Haut, die mit Narben übersäht ist. Licht erhält so immer nur die Gestalt einer Wunde. Die Zeit, die Zeit des Besuches im Museum, die Zeit der Betrachtung, der Gedanken über jüdische Geschichte fällt allein durch diese zerrissene Haut des Gebäudes, durch ihre zerrissenen Mauern, Mauern, die, wie von einem Blitz gestreift erscheinen, als lebendige Ruinen erscheinen, fällt allein durch sie und in ihrer Gestalt erhellend herein .

All diese Sichtbarkeiten, sichtbar werden sie von Daniel Libeskind in das Gebäude eingebaut, lassen das Gebäude hinter seinen Unwägbarkeiten verschwinden, machen das Gebäude eher zu einem Bau, was seine Behelfsmäßigkeit einfangen würde.

Wenn der abendländische Mensch bewusst durch seine abendländischen Gebäude geht, weiß er wo und wie Räume gelegen sind, es gibt in seiner Schrittabfolge immer die Schritte der durchquerten Räume, wenn er sich nicht in dem Das Haus des Mark Z. Danielewski befindet, dessen Körper lebt und dessen Räume mit ihren Mauern sich unentwegt bedrohlich verschieben, in sich etwas Monströses bergend und nach und nach aufdeckend. Hier im Gebäude des Daniel Libeskind gibt es Räume, die es nicht gibt, die verschwunden sind, zu etwas Unberechenbarem die Mauern und das, was hinter ihnen liegt, geworden. Vertikal ist das Gebäude durchzogen von nie ganz Aufdeckbarem, nie ganz Entdeckbarem, von Geschehen, das nie ganz erkennbar bleiben wird, das überall aber spürbar bleibt, aber auch immer wieder erhört werden kann.

Ganz anders dagegen die drei horizontalen Achsen, auf denen Geschichte wie persönliche Ereignisse des einzelnen Menschen sich verfangen oder zumindest sich verspiegeln, ob er oder sie das will oder nicht: Die Achse der Kontinuität, die Achse des Exils und die Achse des Holocaust, die eben im Garten des Exils und im Holocaustturm enden wie in Sackgassen.

Die Achsen, die Lebensadern des Baus, sie nehmen ihren Ausgang im Untergeschoss. Die Besucher*innen müssen erst einmal hinunter über eine Treppe, die sich selbst in einem der Voids befindet: auch hier der Eindruck, der Weg ist das Subjekt, dessen sich die Besucherinnen nicht erwehren können, der sie zu Objekten macht.

Dann aber ein anderer Weg, eine andere Achse zu ihrem Ende gegangen, die Achse des Holocaust, die im Holocaustturm, im Void schlechthin, in der absoluten Leerstelle endet. Eine Stahltür, schwer sie zu öffnen einen Raum betretend, dessen spärliche Beleuchtung sich nur tagsüber ergibt, hereingelassen von einem Riss durch die Wand. Drinnen im fast Dunkeln vor allem zu hören die Mauern so zu einander gestellt, dass eine jede Bewegung sich mit sich verspiegelt, um so sich akustisch zu einem Trommelfeuer dieser Bewegung zu machen, indem sie Echoeffekte auslöst, die die Bewegung wie maschinenartig sich vervielfältigen lässt.

Der Blinde nimmt seinen Stock und schlägt gegen die Mauer, eine Geste die ihm im Alltag eine akustische wie taktile Orientierung gibt. Hier aber, und den Schlag in rasender Geschwindigkeit von einem wütenden Echo wiederholt, schlagen trocken und scharf die von ihm ausgelösten Schläge auf ihn ein, Peitschenhieben ähnlich, ein Trommelfeuer von Peitschenhieben.

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Innenansicht Jüdisches Museum Berlin, Glashof © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe